Die Klima-Verhandlerin
Das Klima kann nicht für sich selbst kämpfen. Dafür braucht es Menschen wie Gabriela Blatter. Bei internationalen Klimaverhandlungen vertritt sie ihr Heimatland, die Schweiz. Zu Besuch bei einer Frau, die außerhalb ihrer Komfortzone lebt.
Die duftenden Blüten im Rosengarten von Bern passen Ton in Ton zu dem lachsfarbenen Kleid, das über dem Neun-Monats-Bauch spannt. Anrührend schön mag das auf den ersten Blick wirken. Doch sobald man aus der Idylle dieses Sommertags scharf stellt auf die Frau, die kräftigen Schritts auf die Lindenallee zumarschiert, mit den Kopfhörern in den Ohren und dem Handy in der Hand, wird klar, wie wenig dieses Bild passt. Wie wenig Gabriela Blatter darauf gibt, was sie gerade trägt oder wie stark ihr Sodbrennen ist – ihr geht es um Größeres: Blatter ist Klimaverhandlerin der Schweiz. Ihr geht’s ums Weltklima. „Ich will den folgenden Generationen einen integreren Planeten hinterlassen“, sagt sie. Wenn die 35-Jährige Sätze wie diesen ausspricht, ist da kein Platz für Plattitüden.
Derzeit feilt Blatter zusammen mit ihren Kolleg*innen des Umweltministeriums gerade daran, in welcher Form sich die Schweiz am 21. September beim UN-Klimagipfel in New York für die Umsetzung der 2015 in Paris vereinbarten Klimaziele einsetzt. Doch diesmal fliegt sie nicht mit zum Klimagipfel – eine Seltenheit in den letzten sechs Jahren –, weil die Konferenz mit dem Geburtstermin ihres ersten Kindes kollidiert.
Von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin zur führenden Verhandlerin
Als 29-Jährige tritt die Schweizerin 2013 beim Bundesamt für Umwelt in Bern an, arbeitet sich von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin zu einem der wichtigsten Mitglieder der Schweizer Klimadelegation hoch. „Als ich mich beworben habe auf die Stelle, dachte ich, ,Mädchen für alles‘ zu werden und die Konferenzen nur vorzubereiten“, erinnert sich Blatter und lacht laut. Doch dann sitzt sie, nur fünf Wochen nach Arbeitsbeginn, bei der UN-Klimakonferenz in Warschau am Verhandlungstisch. Vor ihr das Schweizer Schild. „Was ich nicht wusste: Wenn man das hochkant aufstellt, signalisiert man: Ich möchte reden“, erzählt Blatter. Und das tut sie. „Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Definitiv keine Komfortzone, aber ich habe nie so viel gelernt wie in diesem ersten Jahr.“
Blatter habe sich in ihrem Leben schon oft für den schwierigen Weg entschieden, sagen andere. Sie sagt: „Ich habe nie strategisch meinen Lebensweg geplant. Dafür hatte mein Umfeld oft kein Verständnis. Ich habe mich trotzdem gegen den traditionellen Karriereweg entschieden – und arbeite jetzt in meinem Traumjob.“
Ihr Traumjob, das ist, bei internationalen Verhandlungen die Schweizer Positionen in Klima- und Umweltfinanzfragen zu vertreten. „Ich habe zwar keinen Abschluss in Internationalen Beziehungen, aber dank meines Chemiestudiums lese ich einen Klimabericht mit anderen Augen, da ich auch wissenschaftlich nachvollziehen kann, was drinsteht“, sagt Blatter. Und das muss sie, denn sie hat mit den anderen UN-Partnerländern darüber verhandelt, welche Formulierungen etwa in das rechtlich verbindliche Klimaübereinkommen von Paris aufgenommen wurden. Es sind Sätze, die alle konkret betreffen, weil das Abkommen von den meisten Ländern ratifiziert wurde und umgesetzt werden muss. „Es macht schon stolz, dass Formulierungen, an denen wir tagelang gefeilt habe, nun tatsächlich ihren Weg in das Klima-Abkommen gefunden haben. Davon werde ich noch meinen Enkeln erzählen können. Zum Beispiel Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c, der die Zielsetzung für die Staatengemeinschaft skizziert, alle globalen Finanzflüsse klimagerecht auszurichten. Hier geht es um die Neuausrichtung von mehreren Billionen.“ Für ihren Traumjob reist sie vier Monate im Jahr durch die Welt, engagiert sich parallel noch als Stadträtin der Grünliberalen Partei in Bern und gibt Karrieretipps als Alumna des Mercator Kollegs für internationale Aufgaben. In ihrem Lebenslauf reihen sich Bestnoten aneinander – dabei hat sie nur Eliteuniversitäten besucht.
„Selber“ als erstes Lieblingswort
Wer begreifen möchte, wie Gabriela Blatter geworden ist, wer sie heute ist, sollte sie durch ihren Tag begleiten, sie im Büro besuchen und, gemeinsam mit ihr, die Stadtratssitzung, aber auch ihren Eltern zuhören. Wie sie davon erzählen, dass eines der ersten Wörter ihrer jüngsten Tochter „selber“ ist. Davon, wie „Gaby“, wie ihre Freund*innen sie nennen, im Alter von fünf Jahren, ohne lesen zu können, darauf besteht, im Alleingang mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Ihre Mutter will widersprechen, doch sie zögert, möchte den Mut ihrer Jüngsten nicht kleinreden. Also lässt sie das pummelige Mädchen mit den krausen blonden Haaren fahren – allein. Doch sie folgt unauffällig ihrer Tochter im Auto, um zu sehen, ob sie von der Haltestelle in Blickensdorf im Kanton Zug in den richtigen Bus in die Stadt Zug einsteigt, aussteigt, wartet und umsteigt in den nächsten Bus und danach die Anlaufstelle für das verabredete Kinderprogramm findet. Gaby schafft es.
Theater-AG als Rettung
Eine größere Herausforderung kommt dann mit der Einschulung. „Ich war sehr gut in der Schule – und ich war dick. Das ist keine gute Kombination! Das Bullying war schlimm für mich.“ Sie spricht nicht davon, gehänselt worden zu sein. Gabriela Blatter wählt die englische Bezeichnung. So als könnte sie damit die Distanz vergrößern zwischen dem kleinen Mädchen, das sich nicht wehren konnte, und der Frau, die souverän internationale Verhandlungen führt. „Meine Rettung war eine Kinder-und-Jugendtheater-Gruppe in Zug – da habe ich Freundinnen jenseits des Schulhofs gefunden.“ Und setzt nach: „Ach, und ich habe da Bühnen-Hochdeutsch gelernt!“
Sie springt mühelos zwischen den Sprachen. Mittags bei einem Conference Call mit den Kolleginnen aus dem Umweltministerium in den Niederlanden spricht sie Englisch, tauscht sich mit ihrer eigenen Kollegin parallel auf Französisch aus und hält abends bei der Stadtratssitzung auf Schweizerdeutsch ein Votum für ihre Fraktion der Grünliberalen Partei – ehrenamtlich nach Feierabend, wie sich das bei der Milizarbeit in der Schweiz gehört. Das politische System der Schweiz lebt von der Partizipation und vom Engagement der Bürger*innen.
Kurz bevor sie aufsteht, um zum Mikro zu gehen, streicht sie sich die Haare aus der Stirn. Die kräuseln und winden sich aus dem Dutt, ähnlich wie sich Blatter sträubt, einfach alles hinzunehmen. „Ich wollte immer schon was ändern. Dafür ist man ein Typ oder nicht, glaube ich.“ In der Pause der Stadtratssitzung geht sie mit ihren Parteikolleg*innen essen. Es ist 19 Uhr. Die Sitzung wird noch bis 22 Uhr gehen. Auf dem Weg zum Restaurant sieht sie müde aus, doch zu hören ist das nicht. Die Antwort auf die Frage, ob sie einen Lieblingskörperteil hat, kommt prompt und präzise: „Ich habe immer gesagt: Ab hier kann man alles austauschen“, dabei zeigt sie vom Hals abwärts. „Aber den da möchte ich behalten“, sagt sie und deutet auf ihren Kopf. Ein Satz wie ihr Lachen. Entwaffnend ehrlich.
Mit 13 lernt Gaby doppelte Buchführung
Gabys Eltern begeistern sich für Politik, das hat Gabys Kindheit geprägt. Vier Mal im Jahr stimmen die Schweizer*innen in direkter Demokratie ab – ob über den Beitritt zur UN oder den Bau einer neuen Schule in der Gemeinde. Gabys Eltern erklären ihren drei Kindern jedes Kreuz und warum sie wie stimmen, vermitteln, was für ein Glück darin besteht, zu gestalten. „Ich habe mich erst, als ich zum ersten Mal auch abstimmen durfte – mit 18 –, als vollwertige Person gefühlt“, sagt sie, ohne zu kokettieren.
Mit 13 Jahren engagiert sie sich bereits bildungspolitisch, übernimmt die Finanzaufsicht der Schüler*innenorganisation ihres Gymnasiums. Ihr Vater, selbstständiger Wirtschaftsprüfer, sagt: „Dann musst du auch doppelte Buchführung können.“ Also bringt er es seiner Jüngsten bei. Blatters Geschichte ist die eines Menschen, der sich selbst viel zutraut, weil ihm viel zugetraut wird. Die Geschichte einer Aufwärtsspirale.
Mit 16 bettelt sie so lange bei ihren Eltern, bis diese ihr ein Austauschjahr in Kansas City in den USA erlauben. Danach wiederholt sie keine Klasse, sondern steigt einfach wieder ein. Ihren späteren Mann David – heute 35, der derzeit in Biologie habilitiert – lernt sie wenig später, mit 18 Jahren, kennen. Beide hatten es in die finale Auswahl des nationalen „Jugend forscht“-Wettbewerbs geschafft. „Nerdy, ’ne?“ sagt Blatter und lacht laut.
Da ist es wieder, ihr Lachen. Wer es gehört hat, kann sich vorstellen, wie entwaffnend es im Kampf um die richtigen Worte auf internationalem Parkett wirkt, welch befreienden Moment es in die ernste Diskussion um die Klimakatastrophe bringen kann. David und sie landen jeweils auf dem zweiten Platz in ihren Disziplinen, sie in Chemie, er in Biologie. „Aber in Wahrheit haben wir beide den Hauptgewinn bekommen“, sagt sie und lacht wieder.
Blatter bringt Bio-Kaffee ins Umweltministerium
Nach dem Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,3 entscheidet sie sich für das Studium der Chemie. An der ETH, der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, schließt sie mit Bestnoten ab – absolviert zwischendurch noch ein Erasmus-Semester an einer Eliteuniversität in Paris. „Meine Professorin in Zürich war fassungslos, weil ich keinen PhD machen wollte. Aber ich hatte den Wunsch, international zu arbeiten und mit Menschen etwas zu bewegen“, sagt Blatter. Es folgt das renommierte Stipendium des Mercator Kollegs für internationale Aufgaben, sie arbeitet für eine Umwelt-NGO in Raipur, Indien, und wird „Urban Water Specialist“ bei der Asian Development Bank in Manila auf den Philippinen.
Mit wem sie welchen Meilenstein erreicht hat, verrät ein Besuch in ihrem Büro in der Berner Vorortsgemeinde Ittigen. Überall Erinnerungen an Errungenschaften. Kleine Siege für dieses weltumspannend große Thema Klima. Neben Schnappschüssen aus einem Fotoautomaten auf der UN-Klimakonferenz im polnischen Kattowitz hängt ein ausgetrocknetes Kaffee-Pad. In ihm steckt die Essenz, die Gabriela Blatter ausmacht.
Im Umweltministerium müsste es nur nachhaltigen Bio-Kaffee in der Cafeteria geben, könnte man meinen. Dem war aber nicht so, als sie ihren Job als Klimaunterhändlerin antritt. Sie schlägt vor, auf eine lokale Bio-Rösterei aus Bern umzustellen, doch die Cafeteria lehnt ab. Also besorgt sie eine Kaffeemaschine, vollständig abbaubare Pads und macht so ihr Büro zur Alternative. Alle Kolleg*innen bringen mal Pads mit, Hauptsache, sie passen in die Maschine – deshalb der Prototyp an der Wand. Er wird noch da hängen, wenn sie nach sechs Monaten Zeit mit Kind zu Hause zurück ins Büro kommt. Wie ihr Mann reduziert sie auf 80 Prozent.
Außer alles kommt anders: Am 20. Oktober stellt sich Blatter zur Wahl ins nationale Parlament, vergleichbar mit dem deutschen Bundestag. „Wenn ich gewählt werde, ist das fast ein Vollzeitjob“, stellt sie fest, relativiert dann: „Aber ich bin ja nur auf Listenplatz 8.“ Ihr Lachen klingt nun ernst. Danach, dass sie ihren Traumjob aufgeben muss, sollte sie tatsächlich zur Nationalrätin gewählt werden.
Mercator Kolleg für internationale Aufgaben
Das Programm fördert jährlich 25 engagierte deutschsprachige Hochschulabsolvent*innen und junge Berufstätige, die in der Welt von morgen Verantwortung übernehmen wollen. Während 12 Monaten arbeiten die Kollegiat*innen in internationalen Organisationen, NGOs oder Wirtschaftsunternehmen und widmen sich einem selbst entwickelten Projektvorhaben.