Integration ist Arbeit ist Integration
Ein wichtiger Baustein für gelungene Integration ist das Gefühl, gebraucht zu werden. Rasha Albnayat hat es. Die Syrerin wird in Deutschland Krankenschwester.
Es bleibt der Tag, an dem es nicht mehr um die Geburt, sondern um den Tod ging. Der Tag, an dem Rasha Albnayat, Krankenschwester auf der Frühchenstation, in der Notaufnahme der Klinik arbeiten musste, weil die Bomben auf ihre Heimatstadt Hama fielen. Mehr möchte sie darüber nicht sagen, es ist weit weg. Heute pflegt die 25-jährige Syrerin Patienten auf der Station 35 im dritten Stock des Vivantes-Klinikums in Berlin-Neukölln. Hier kümmert sie sich um Menschen, die an der Lunge operiert wurden, und absolviert die übliche Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin. Dass das so ist, hat Rasha ihrem Bruder, einer unbekannten Frau aus München, dem Programm „Sprachkompetenz und Berufsorientierung für Geflüchtete“ (SpraBo) und ihrem eigenen Willen zu verdanken. In Deutschland fehlen in der Pflege Tausende Arbeitskräfte – laut der Gewerkschaft Verdi allein 80.000 in Kliniken. Auch die Diakonie Deutschland fordert 60.000 neue Stellen in der Altenpflege.
Typisch Rasha: „Dann frage ich eben nach“
Rasha möchte genau das: Alte und Kranke pflegen. „Ich war zu Beginn meiner Ausbildung hier auf der Geriatrie, und das ist meine Wunschabteilung. Ich vermisse die Alten da, die sind lieb“, sagt sie und lacht, wissend, dass das kein typischer Satz einer 25-Jährigen ist. Dann erzählt sie von ihrem Opa. Sonntags auf seinem Schoß zu sitzen und seinen Geschichten zu lauschen, das sind ihre schönsten Kindheitserinnerungen. Wohl deshalb verbringt sie gerne Zeit mit alten Menschen. So hat sie auch Deutsch gelernt. „Wenn ein 90-Jähriger vor dir sitzt und mit dir reden möchte, dann musst du es einfach versuchen.“ Das ist für Rasha eine Frage des Respekts. „Ich habe immer nachgefragt: ‚Können Sie das noch mal anders ausdrücken?‘ So habe ich gelernt – jeden Tag ein bisschen mehr.“ Ein typischer Rasha-Satz: „Dann frage ich eben nach.“
Rasha landete mit dem ersten Flug ihres Lebens am 19. April 2017 in Berlin-Tegel. „Ich konnte nur ‚Hallo‘ sagen und habe mich gewundert: Die Deutschen umarmen gern und oft“, erinnert sie sich. Ihrem Bruder Basel war 2015 die gefährliche Flucht aus Hama nach Berlin gelungen. Der heute 27-Jährige kämpfte jahrelang dafür, dass seine kleine Schwester im Rahmen des Landesaufnahmeprogramms nachkommen durfte. Der Berliner Verein „Flüchtlingspaten Syrien“ organisierte schließlich alles. Eine ihr unbekannte Frau aus München unterschrieb eine Bürgschaft für die Syrerin.
Im dreimonatigen Deutschkurs sprach Rasha kaum ein Wort. „Ich habe mich am Anfang nie getraut zu reden, wollte keine Fehler machen. Ich bin Perfektionistin.“ Durch den Verein der Flüchtlingspaten lernte sie dann Dr. Hagen Tuschke kennen, und er ermutigte sie. Der promovierte Diplompflegepädagoge am Institut für berufliche Bildung im Gesundheitswesen und Vivantes-Projektleiter von SpraBo sagt: „Arbeit ist wichtig, denn Integration funktioniert, wenn sich Menschen gebraucht fühlen.“
In den Beruf hineinschnuppern
Mit dem Programm SpraBo reagierte Vivantes 2016 als größter kommunaler Krankenhauskonzern Deutschlands auf den akuten Personalmangel und die vielen Geflüchteten in der Stadt. Die Idee: In einem sechsmonatigen Berufsorientierungsprogramm schnuppern die Teilnehmenden in den Klinikalltag hinein und besuchen berufsspezifischen Deutschunterricht. Zusammen mit dem Berliner Krankenhaus Charité sucht Vivantes so neue Arbeitskräfte. Rasha konnte ihre Ausbildung im Oktober letzten Jahres beginnen, wie sie wurden 20 von den 80 SpraBo-Teilnehmenden übernommen.
Rasha sagt, dass sie nur dank Hagen Tuschke bei SpraBo gelandet ist, dank ihm den B2-Deutschtest bestanden und den Ausbildungsplatz bekommen hat – so erinnert sie sich an ihre Integration. Der Projektleiter Tuschke sieht dagegen auch ihren Anteil daran: „Rasha ist extrem ehrgeizig und besteht eine Prüfung nach der anderen mit Bravour.“
Viele Geflüchtete arbeiten lieber ungelernt
Dr. Tanja Kiziak kennt sich aus mit den großen Themen unserer Zeit: Zuwanderung, Integration und demografischer Wandel. Sie ist promovierte Sprachwissenschaftlerin und stellvertretende Geschäftsführerin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Hier beschäftigt sie sich mit dem Projekt „Zuwanderer von morgen“, in dem es um Migrationspotenziale verschiedener Weltregionen und die nachhaltige Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten geht. Kiziak: „Besonders gut funktionieren Programme wie SpraBo, die einerseits berufsspezifische Deutschkurse und andererseits eine Berufsorientierung bieten.“ Denn: Neben mangelnden Sprachkenntnissen zeigt sich in vielen Fällen auch ein mangelndes Wissen über das deutsche Ausbildungssystem und den Arbeitsmarkt. „Viele der Geflüchteten unterschätzen, wie wichtig Abschlüsse sind und dass sich eine Ausbildung langfristig auszahlt. Sie stehen oft unter Druck, schnell Geld verdienen zu müssen, etwa um die Familie in der Heimat zu unterstützen. So kommt es, dass viele Geflüchtete lieber ungelernt arbeiten, als eine Ausbildung zu beginnen“, sagt Kiziak. Insgesamt befanden sich im Juni 2018 gut 27.000 Menschen aus den acht wichtigsten Asylherkunftsländern in Ausbildung – das sind fast doppelt so viele wie noch ein Jahr zuvor.
Kiziak fordert: „In Deutschland leben derzeit über eine Million Geflüchtete mit anerkanntem Schutzstatus, der ihnen rechtlich gesehen vollen Zugang zum Arbeitsmarkt gibt. Dieses Potenzial gilt es zu heben.“ Vieles spricht dafür, dass es Deutschland guttun würde, sich als Einwanderungsland zu begreifen. Die Rahmenbedingungen dafür sind denkbar gut. Die Wirtschaft floriert, die Arbeitslosigkeit befindet sich auf dem tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung, und die Unternehmen sind auf zusätzliche Arbeitskräfte angewiesen.
Von der täglichen Angst um die Eltern
Doch nur wenige der Geflüchteten konnten vor der Flucht eine Berufsausbildung abschließen, was oft auch am jungen Alter liegt. Rasha hat die Ausbildung zur Krankenschwester in Hama abgeschlossen, aber dafür keinen Nachweis. „In Syrien machst du als Krankenschwester nur medizinische Tätigkeiten: Blut abnehmen, so was. Pflege ist tabu. Bei uns waschen und pflegen die Angehörigen. Ich habe letztlich drei Jahre für nichts gelernt. Die Schule hat keine Zeugnisse ausgestellt, weil die Angst da war, dass alle damit das Land verlassen“, erklärt sie. Rashas Eltern, eine Kunstlehrerin und ein Lkw-Fahrer, sind immer noch dort, erleben die Bombenangriffe. Jeden Tag. „Ich habe ständig Angst. Ich bin so weit weg und kann nichts machen. Wir reden täglich per WhatsApp oder Messenger“, sagt Rasha. Eine Stütze vor Ort ist Hagen Tuschke. Rasha und er treffen sich weiterhin, auch wenn das Projekt im Dezember 2018 auslief. Für den engagierten Pflegepädagogen sind die „SpraBos fast wie seine eigenen Kinder“, denen er beim Deutschlernen hilft oder bei der Vorbereitung aufs Vorstellungsgespräch.
In Deutschland leben derzeit über eine Million Geflüchtete mit anerkanntem Schutzstatus, der ihnen rechtlich gesehen vollen Zugang zum Arbeitsmarkt gibt. Dieses Potenzial gilt es zu heben.
Stationsleitung mit Röntgenblick für Talente
„Solange ich arbeite, fühle ich mich sicher. Nur alle zwei Jahre muss ich zur Ausländerbehörde.“ Rasha erwähnt das fast beiläufig, so als berichte sie von einem Besuch beim Bäcker. Arbeit nicht nur als Brotverdienst, Arbeit als Halt, Arbeit als Hoffnung. Wer mit der Syrerin spricht, ist beeindruckt, dass sie erst vor zwei Jahren nach Deutschland kam. So souverän findet sie die richtigen Worte, so fröhlich erzählt sie von ihrem Ausbildungsalltag und bringt die Patienten zum Lächeln.
So wie Silke Langfeld. Während Rasha den Sauerstoffgehalt im Blut der 59-jährigen Berlinerin misst, sprechen sie über das Wetter und darüber, wie fit die Frau schon wieder ist – nur 48 Stunden nach der OP. Die Ärzte mussten ein Viertel ihrer Lunge entfernen, weil ein Tumor dort seine Metastasen gestreut hatte. Nicht nur die Patienten halten viel von der Auszubildenden, sondern auch Elke Richter, die die Station 35 leitet. Das Urteil der 62-Jährigen: „Rasha hat ein Händchen für diesen Beruf. Wenn sie bei einem Patienten erhöhten Blutdruck feststellt, können wir uns darauf verlassen, dass sie dem nachgeht. Sie ist offen und sehr zuverlässig. Das Pflegeteam ist von Rasha und ihrer Geschichte beeindruckt. Ihre positive Ausstrahlung ist hervorzuheben.“ Seit 15 Jahren führt Richter die Station. Sie hat einen Röntgenblick für Talente.
Dr. Stephan Eggeling, Chefarzt der Klinik für Thoraxchirurgie und Leiter des Vivantes-Lungenkrebszentrums, hat ebenfalls gute Erfahrungen gemacht. „Geflüchtete sind oft sehr viel engagierter“, erklärt er. „Wer sich auf den Weg ins Ausland macht, ist selbstständig, zielstrebig und bereit, sich für die Patienten einzusetzen. Kulturell bedingt ist da oft ein sehr hohes Ansehen gegenüber Kranken und alten Menschen.“
Rasha träumt von einem Hund
Wie bei Rasha. Wovon träumt eine Auszubildende, die zurzeit von einem Bruttoverdienst von 1.140 Euro im Monat lebt? „Dass ich mir eine größere Wohnung leisten kann. Dann kaufe ich mir einen Hund. Einen Husky“, sagt sie. Ihre Wohnung misst 43 Quadratmeter. Wenn sie nicht für die nächste Prüfung für die Berufsschule lernt, trainiert sie spanische Vokabeln. „Spanisch ist sexy“, meint Rasha, lacht. Dieses Mal mit der Hand vor dem Mund.
Den Chef freut es. Eggeling: „Wir sind eines der führenden Lungenkrebszentren und Experten für Thoraxchirurgie. Bei uns landen die schweren Fälle, unsere Patienten sind sehr international. Da ist es von Vorteil, wenn unsere Mitarbeiter möglichst viele Sprachen sprechen. Es schafft Vertrauen, den Ablauf der OP in der eigenen Muttersprache erklärt zu bekommen.“
Im blauen Linoleumboden spiegeln sich die grellen Neonröhren, es riecht nach Desinfektionsmittel, irgendwo piept ein Alarm. Ein frisch operierter Patient schlurft in Schlappen über den Flur. Rasha schiebt den Visitenwagen am Stationszimmer vorbei zu den Patienten weiter hinten auf dem Korridor. Mit dem Kopf deutet sie auf einen in Klarsichtfolie verpackten Spruch der Woche neben der Eingangstür zum Pausenraum. Eingerahmt von bunten Blumen wird Nelson Mandela zitiert: „Es scheint immer unmöglich, bis es vollbracht ist.“ Das mag kitschig klingen – bis Rasha sagt, dass sie das schon sehr oft in ihrem Leben gedacht hat.
Zuwanderer von morgen
Im Projekt „Zuwanderer von morgen“ untersucht das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung die Migrationspotenziale verschiedener Weltregionen und die nachhaltige Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten.