Fit, fitter, am demo­kratischsten

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Fit, fitter, am demo­kratischsten
Autorin: Maren Beck Fotos: Thomas Skou 07.06.2019

Was haben Muskeln und Demokratie gemeinsam? Beide muss man trainieren. Die Initiative „Democracy Fitness“ will Europäer*innen fit im demokratischen Handeln machen.

Behäbig tröpfelt der dänische Dauerregen auf den Asphalt. Der still­gelegte Park­platz in Nørrebro im Norden Kopen­hagens glänzt schwarz. Von einer Seite des Areals dringen fröhliche Gesprächs­fetzen zu den angrenzenden Gebäuden und treffen auf sechs Menschen, die stiller nicht sein könnten. Vor einer mit Graffiti bemalten Hauswand stehen sie sich pärchen­weise gegen­über und schauen sich in die Augen. Tief, noch tiefer, eine Minute lang. Verlegen­heit huscht hier und da über die Gesichter und verrät, wie unbequem die Situation für die meisten ist. Schließlich erlöst Lise Tejsner die Gruppe: „Und“, sagt sie lachend, „wie weh tat euch das?“

Ein Fitness­training für Demokratie

„Die Frage fällt bewusst“, erzählen Lise Tejsner und ihre Kollegin Helle Østerberg später, „denn was wir machen, muss unangenehm sein.“ Die beiden sind frisch ausgebildete Trainerinnen für ein besonderes Fitness­programm. Statt Bauch, Beine und Po trainiert es die Muskel­gruppe, die man für die Demokratie benötigt – also Eigen­schaften, die man für die wirksame und aktive Teilnahme in einem demokratischen System bemühen muss. Und genau wie bei Sit-ups und Squats setzt der Effekt auch hier erst ein, wenn es wehtut. Im Rahmen des „Demokratidag“, der heute auf dem ehemaligen Park­platz und jetzigen Demokratie-Hub Garage Park Nord Vest statt­findet, steht für die Instruktorinnen der Muskel „Empathie“ auf dem Trainings­plan. Ein wichtiger Muskel, denn sich in andere hinein­zu­fühlen erzeugt Verständnis und Toleranz. Unverzicht­bar in einer Demokratie.

Das Training lebt auch von Symbolik wie der Trillerpfeife.
Das Training lebt auch von Symbolik wie der Trillerpfeife. © Thomas Skou
Mit zwei Mitstreiterinnen hat Zakia Elvang Democracy Fitness erfunden.
Mit zwei Mitstreiterinnen hat Zakia Elvang Democracy Fitness erfunden. © Thomas Skou

„Super, ihr seid nun aufgewärmt!“, ruft Helle Østerberg der Gruppe zu. Ihrer warm­herzigen Stimme lauschen die Teil­nehmenden aufmerksam. Die Triller­pfeife, die sie um den Hals trägt, muss gar nicht erst zum Einsatz kommen. Als Nächstes, so teilt sie ihren Schützlingen mit, sollen sich die Pärchen etwas Körperliches über­mitteln. Die Hand halten, eine Schulter­massage, eine Umarmung. „Wenn wir uns mindestens dreißig Sekunden berühren, schütten wir das Bindungs­hormon Oxytocin aus“, erklärt sie. Gepusht durch das Hormon können so selbst Fremde in Beziehung zueinander treten. Oxytocin wirkt hier also wie ein Türöffner für den empathischen Muskel. Nach der kurzen Befangen­heit, die auch in normalen Sport­kursen die Partner­übungen ein­leitet, nieselt es aus dem Himmel nur Sekunden später auf drei sich innig umarmende Paare hinab.

Einfach mitmachen

Zakia Elvang hat schon viele solcher Umarmungen erlebt. Democracy Fitness ist das Baby der lebhaften Dänin mit den hell­blauen Augen. Gemeinsam mit ihren Mit­streiterinnen Trine Demant und Kathrine Krone hat sie es 2017 auf die Welt gebracht. Seitdem verbreitet sich das Konzept quer durch Europa. Dafür sorgt Elvang, die weit über Dänemark hinaus in der Demokratie­szene vernetzt ist. 2018 setzte sich die Idee zudem im europäischen Wettbewerb Advocate Europe durch, der ebendiese Art von ungewöhnlichen Projekten fördert – ein Meilen­stein für die drei Macherinnen. Aber das Fitness­programm selbst trägt natürlich eben­falls zu seiner Ausbreitung bei: Es ist bestechend einfach, unglaublich logisch und macht auch noch Spaß, was man daran erkennt, wie sehr die Teil­nehmenden darin aufgehen. Warum das Training genau so und nicht anders ist, ergab sich aus dem Ziel, mit dem es entwickelt wurde. „Wir haben nach einer Methode gesucht, wie man das demokratische Bewusst­sein einer Gesellschaft möglichst einfach und breit stärken kann“, erläutert die Aktivistin. Ein Vortrag oder eine Präsentation würden dieses Ergebnis nicht erzielen können. „Das wäre zu verkopft. Uns schwebte etwas Involvierendes, Aktives vor“, erinnert sie sich, „etwas, das diese kopf­lastige Sache in eine wirkliche Bewegung umwandelt.“ Die Metapher mit den Muskeln ließ nicht lange auf sich warten.

Inzwischen hat der Regen aufgehört. Die Umarmungen haben sich gelöst, alle Teilnehmer*innen haben ihre Mobil­telefone gezückt. „Findet nun über eine Such­maschine das Bild einer Person, die ihr nicht mögt oder deren Meinung ihr nicht nach­voll­ziehen könnt“, leitet Helle Østerberg die nächste Übung ein. Auf einigen Displays ploppt ein dänischer Politiker auf, dessen neue, sehr konservative Partei das Land spaltet. Eine Minute soll der Blick jetzt auf dem Bild verharren, anschließend werden zusätzlich Zitate der gewählten Person gesucht und vor­gelesen. Und dann wird es wirklich schmerz­haft: „Sucht etwas an diesem Menschen, für das ihr Verständnis empfindet oder das ihr an ihm schätzt, und erzählt es euch.“ Es bleibt erst mal still. Fast hört man die innerliche Arbeit, die jeder Einzelne gerade aufwendet, um sich irgend­wie an die verhasste Person heran­zu­fühlen. Schließlich kommt der Austausch doch in Gang und damit auch die Empathie – der aktive Versuch, jemanden zu verstehen und dessen Verhalten oder Aussagen nach­zu­empfinden. Tejsner und Østerberg blicken zufrieden. Sie haben gequält, aber gestählt.

Auch Glücklichsein ist ein Muskel

Ende 2019 wird es rund 2.000 Trainer*innen in 15 europäischen Ländern geben. Was sie unterrichten, ist dabei relativ flexibel. „In Dänemark haben wir erst mal mit acht Muskeln angefangen“, erklärt Zakia Elvang, „darunter zum Beispiel Empathie, Mobilisierung, aktives Zuhören oder Kompromiss.“ Diese Muskeln sind jedoch auf die dänische Gesellschafts­struktur zugeschnitten. Andere Länder können je nach gesell­schaftlicher Bedürfnis­lage neue Muskeln identifizieren und ein entsprechendes Trainings­programm entwickeln. „In Estland wird derzeit der Muskel Glücklich­sein erarbeitet und in Lettland Vertrauen“, berichtet Elvang freudig. Dass sich die Idee verselbst­ständigt und kreativ weiter­entwickelt wird, ist ein Erfolg, der sie bestätigt. „In vielen Ländern nimmt man die Demokratie als selbst­verständlich wahr. Das ist sie aber nicht. Man muss sich um sie kümmern, insbesondere jetzt, wo einige sie infrage stellen.“ Dafür brauche es jedoch bestimmte Fähig­keiten, die praktischer­weise bereits in uns lägen – nur aktivieren müsse man sie eben.

Empathie für jeden empfinden – das bringt viele an die Schmerzgrenze.
Empathie für jeden empfinden – das bringt viele an die Schmerzgrenze. © Thomas Skou
Martha Norgaard hat gelernt, wie Mobilisierung funktionieren kann.
Martha Norgaard hat gelernt, wie Mobilisierung funktionieren kann. © Thomas Skou

Mobil machen

Martha Norgaard strahlt. Sie hat soeben das Training „Mobilisierung“ erfolgreich abgeschlossen, die zweite Democracy-Fitness-Übung auf dem Demokratidag. Innerhalb von dreißig Minuten galt es, das Gegenüber für die eigene Sache ins Boot zu holen – indem man Argumente ein­schätzt, heraus­spürt, für welche Sache es sich gemeinsam zu kämpfen lohnt, und eine gemeinsame Position verhandelt. Marthas Anliegen: Sie will die weibliche Regel­blutung von ihrem Stigma befreien, sie zu etwas völlig Normalem machen. Am Ende des Trainings wollen das alle. Martha jubelt, halb im Spaß und halb im Ernst, und drückt die junge Frau direkt neben ihr fest an sich.

Wer für etwas brennt, kann andere mitreißen.
Wer für etwas brennt, kann andere mitreißen. © Thomas Skou
Demokratische Fitness kann nicht früh genug beginnen.
Demokratische Fitness kann nicht früh genug beginnen. © Thomas Skou

Wie bei der Empathie werden auch in dieser Muskel­übung mit einer kalkulierten Beiläufig­keit genau die Fähig­keiten aktiviert, die die Gesellschaft zusammen­halten: mit­einander zu reden und einander zuzuhören. Martha Norgaard fand das Training heraus­fordernd, „doch das ist normal, ohne Schwierig­keiten läuft das Mit­einander nicht. Man muss sich dem aber stellen“, sagt sie. Sie ist über­zeugt, dass jeder in einer Gesellschaft zu ihrem demokratischen Funktionieren beitragen kann, egal, wie klein dieser Beitrag sein mag. Das Training hat ihr gezeigt, wie einfach es ist, die eigene Stimme zu nutzen. Die Hemm­schwelle lag tiefer als erwartet, die Sache war wichtiger.

Aus dem Kopf auf die Straße

Die erste Hürde, das Mitmachen, ist der kritische Punkt für die Initiative. Zakia Elvang erinnert sich an die nerven­auf­reibenden Anfänge: „2017 starteten wir mit Democracy Fitness auf dem ‚Folkemøde‘, dem dänischen Demokratie-Festival. Dort gab es über 3.000 Events – also massen­haft Konkurrenz.“ Ein Megafon und drei beherzte Aktivistinnen sorgten schließlich dafür, dass Democracy Fitness dort einen ersten Erfolg verbuchen konnte. „Hier bestanden wir den Straßen­test“, meint Elvang lachend. Das Programm, bis dahin eine Kopf­geburt, zog auch in der Realversion Leute an, die sich von der Trainings­ein­heit begeistern ließen. „Toll war, dass wir gute Rück­meldungen von ganz verschiedenen Menschen bekamen“, fährt Zakia Elvang fort. „Eine breite Ziel­gruppe zu erreichen ist schwierig, aber genau das möchten wir.“

Animieren lernen

Nach dem Festival folgte ein Jahr mit so vielen Test­trainings wie möglich. Parallel begann die Aus­bildung von Trainern und Trainerinnen in Dänemark und weiteren europäischen Ländern. Zwei Tage dauert ein Camp, in dem angehende Übungs­leiter*innen lernen, was Democracy Fitness will, wie man Muskeln identifiziert und andere animiert, sie zu trainieren. Die schlüssig aus­gearbeiteten Anleitungen für die jeweils 30-minütigen Lektionen hat die Initiative selbst entwickelt. Mit­gearbeitet haben viele Aktivist*innen der Organisationen „WE DO DEMOCRACY“ und „Demokratiscenen“, an die Democracy Fitness angedockt ist. „Kommunikations­expert*innen, Berater*innen, Lehrer*innen – wir haben viel gebündelte Expertise, durch die das Programm so involvierend und einfach geworden ist, wie uns das vor­schwebte“, erzählt Elvang.

Draußen vor der Graffiti­wand greift Lise Tejsner in einen Jute­beutel und zaubert daraus eine Handvoll Buttons hervor. Das Abzeichen mit dem gespannten Bizeps kennzeichnet die erfolg­reichen Demokratie-Sportler*innen fortan. Noch während sich die kleine Gruppe auf dem Areal verstreut, heften sich zwei Frauen ihren Anstecker an die Regen­jacke. Vielleicht werden sie heute Abend Muskel­kater haben, Empathie-Muskel­kater.

Advocate Europe

Seit 2014 setzt MitOst zusammen mit Liquid Democracy den Ideen­wett­bewerb Advocate Europe um. Dabei werden Projekte aus­gezeichnet, die Europa verbinden – auf unkonventionelle und trans­nationale Art. Wir fördern den Wettbewerb, der den Gewinnern und Gewinnerinnen eine Anschub­finanzierung für ihr Projekt ermöglicht.
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