Wie wird Deutschland ein digitaler Staat?

Die Ampel-Regierung hat im Sommer 2022 eine Digitalstrategie verabschiedet. Ein Ziel: Verwaltungen sollen digitalisiert und modernisiert werden.
Wie wird Deutschland ein digitaler Staat?
Autor: Manuel Heckel 16.01.2024

Welche Wirkung zeigt die Digitalpolitik der Regierung? Um diese Frage dreht sich „E-Valuate“, ein Forschungsprojekt der Agora Digitale Transformation. AufRuhr spricht mit Vivien Benert und Benedikt Göller über den Nutzen eines lernenden und digitalen Staats für Bürger*innen, Widerstände im Dickicht der deutschen Bürokratie und Verwaltung als attraktiven Arbeitsplatz.

Was verbirgt sich hinter dem lernenden und digitalen Staat, der als Leitbild im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung verankert ist?

Benedikt Göller: Im Koalitionsvertrag ist das Ziel formuliert, dass der Staat für die Bürger*innen arbeitet. Damit das möglich ist, muss die Verwaltung digitalisiert und modernisiert werden. Aber das reicht nicht. Es braucht strukturierte Lernprozesse, die den Menschen in den Verwaltungsbehörden helfen, bessere Entscheidungen zu treffen und aus den Ergebnissen dieser Entscheidungen zu lernen. Doch der Staat kann nur lernen, wenn er weiß, welche Wirkung er mit seinen Maßnahmen überhaupt erzielen möchte. Statt Projekte und Prozesse abzuarbeiten, soll es in den Behörden oder Ministerien stärker um die Frage gehen: Welche gesellschaftlichen Veränderungen wollen wir erwirken? Und wie trägt unsere alltägliche Arbeit dazu bei? Dafür ist die Arbeit mit Daten wichtig, da sich mit ihrer Hilfe Entscheidungen besser bewerten lassen.

Das Projekt „E-Valuate“ soll den Weg hin zu einem lernenden und digitalen Staat ebnen. Was haben Sie vor?

Göller: Mit dem Projekt „E-Valuate“ begleiten wir bis Ende 2025 sechs Vorhaben aus der Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung. Gemeinsam entwickeln wir Arbeitsmethoden und Vorgehensweisen, um zu bewerten, welche konkreten Auswirkungen das Handeln des Staates heute hat: Wie werden aus politischen Ideen Gesetze, Verordnungen, Förderprogramme oder Projekte, die unseren Alltag verändern? Dazu arbeiten wir eng mit der Bundesregierung und den Vorhaben aus der Digitalisierungsstrategie zusammen. Durch neue Formen der Zusammenarbeit wollen wir den Beschäftigten in der Verwaltung bei der Umsetzung ihrer Vorhaben helfen, sodass sie tatsächlich die gesellschaftliche Wirkung erreichen, die in den politischen Zielen formuliert ist. In einem ersten Leitfaden haben wir Arbeitshilfen und Vorgehensschritte gebündelt, wie dieses Umdenken in der Praxis aussehen kann.

Benedikt Göller
© Robert Günther

Benedikt Göller arbeitet als Innovation Lead – Wirkung und Daten in der Digital­politik bei der Agora Digitale Transformation. Er hat zuvor in verschiedenen Rollen die digitale Transformation des öffentlichen Sektors mitgestaltet und zahl­reiche Behörden bei Digitalisierungs­bemühungen begleitet.

Wir stärken Demokratie

Warum ist so ein Wandel nötig?

Göller: Weil Zukunftsprognosen selbst auf relativ kurze Sicht immer schwieriger werden. Wir sehen ja, wie unwägbar unsere Welt geworden ist – etwa am Beispiel der Coronapandemie, den Kriegen, den Energiefragen. Daher muss der Staat weg von starren Fünf- oder Zehnjahresplänen. Wir brauchen Prozesse der kleinen Schritte, bei denen wir jeweils aus den vorherigen Erfahrungen lernen. Für den Staat ist das ein innovatives Konzept.

Vivien Benert: Traditionell arbeitet die deutsche Verwaltung entlang von Regeln, Vorschriften und Verordnungen. Weil wir aber immer weniger einschätzen können, was auf uns zukommt, müssen wir mehr ausprobieren. Das kann für die Bürger*innen viele Vorteile bringen.

Inwiefern?

Benert: Wenn sich der Staat klare und kurzfristige Ziele setzt, wird er effizienter arbeiten. Die Wirkung umgesetzter Maßnahmen wird viel besser überprüfbar. Das macht staatliches Vorgehen und Entscheidungen für Bürger*innen transparenter und hilft so, Maßnahmen zu legitimieren. Die Digitalisierung und der Umgang mit großen Datenmengen, auch mithilfe Künstlicher Intelligenz, können dabei helfen.

Vivien Benert
© Robert Günther

Vivien Benert arbeitet als Data Scientist im Projekt „E-Valuate“ bei der Agora Digitale Transformation. Zuvor hat sie an der Freien Universität Berlin zu den Chancen und Heraus­forderungen digitaler Kommunikations­möglichkeiten für die Demokratie geforscht.

Göller: Tatsächlich stärkt ein digitaler, lernender Staat die Demokratie. Es führt zu mehr Partizipation der Zivilgesellschaft, wenn Bürger*innen regelmäßig informiert und befragt werden, es messbare Ergebnisse gibt und mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten existieren. Der digitale, lernende Staat nutzt mehr Wissen aus der Zivilgesellschaft. So merken die Bürger*innen, dass sie einen Beitrag leisten können, und haben weniger das Gefühl, der Staat sei eine „Blackbox“, in der „die da oben“ von ihren Interessen geleitet werden.

Wie zufrieden sind Nutzer*innen von Verwaltungsleistungen? Im digitalen Staat sollen überflüssige Onlineformulare – wie etwa beim Kindergeld – abgeschafft werden, weil sie Eltern nur mehr Arbeit machen.
Wie zufrieden sind Nutzer*innen von Verwaltungsleistungen? Im digitalen Staat sollen überflüssige Onlineformulare – wie etwa beim Kindergeld – abgeschafft werden, weil sie Eltern nur mehr Arbeit machen. © unsplash

Wie wirkungsvoll ist die Digitalpolitik der Regierung denn derzeit?

Göller: Derzeit werden vor allem Maßnahmen abgearbeitet, aber deren Wirkung nicht standardmäßig überprüft. Statt des politischen Zieles „Wir digitalisieren 575 Verwaltungsleistungen“ gehen Wirkungsziele einen Schritt weiter: Sie formulieren eine konkrete gesellschaftliche Wirkung. Nehmen wir Onlineformulare, die niemand braucht – so wie beim Kindergeld: Wenn Eltern ein Kind bekommen und es anmelden, erfährt der Staat das doch. Auch kennt er die Einkommensverhältnisse und Kontodaten. Warum also müssen Eltern trotzdem einen komplizierten Kindergeldantrag ausfüllen? Ein digitaler, lernender Staat wäre anders organisiert. Die Anforderung wäre nicht: „Wir müssen ein funktionierendes Kindergeldverfahren umsetzen“, sondern: „Familien müssen Kindergeld so unkompliziert wie möglich erhalten“. Um dorthin zu gelangen, würde schrittweise immer wieder Feedback von Eltern über die Prozesse eingeholt und diese Daten genutzt. Im einfachsten Fall geben diese beispielsweise Auskunft, wie lange sie für das Ausfüllen eines Antrages benötigen.

Digitalstrategie der Bundesregierung

Die Ampel-Regierung hat im Sommer 2022 eine umfassende Strategie verabschiedet, mit der sie das Querschnittsthema Digitalisierung angeht. Unter der Überschrift „Wegweiser für den digitalen Aufbruch“ umfasst sie Ziele für den digitalpolitischen Fortschritt bis 2030 und benennt auch konkrete Vorhaben und Leuchtturmprojekte. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr koordiniert die Strategie, beteiligt sind jedoch alle Ministerien. Im Hypothesenpapier „Der Lernende Staat“ definiert die Agora Digitale Transformation Wege, wie man die in der Digitalstrategie formulierten Ziele wirksam erreichen kann.

Wir wollen, dass junge Menschen Lust auf die Verwaltung bekommen, weil sie dort wirklich etwas verändern können.

Benedikt Göller, Innovation Lead – Wirkung und Daten

Die Verwaltung hat den Ruf, ein eher träges System zu sein. Wie wollen Sie das reformieren?

Göller: Wir probieren Arbeitsmethoden aus, die für viele Beschäftigte in der Verwaltung noch relativ neu sind, beispielsweise aus der Welt der Start-ups, etwa das Arbeiten mit „Objectives and Key Results“ (OKRs). Dabei schauen wir während eines laufenden Prozesses immer wieder anhand von Umfragen und Daten, ob ein Wirkungsziel erreicht wird und wie die Fortschritte bei den Nutzer*innen ankommen – und wo nachgesteuert werden muss. So ein kontinuierliches Hinterfragen ist für Verwaltungsorganisationen neu.

Wo holen Sie sich noch Inspiration?

Benert: Wir schauen viel ins Ausland, wie dort Verwaltungen funktionieren. Großbritannien etwa ist schon sehr weit bei der evidenzbasierten Politikgestaltung. Bei ihr wird systematisch evaluiert, ob Maßnahmen die erwünschte Wirkung auch erzielen. In Österreich definieren die Ministerien, welche gesellschaftliche Wirkung sie erreichen wollen – und sie schauen, wie gut das gelingt. In der Schweiz sind in einigen Kantonen einzelne Verwaltungsbudgets konkret damit verbunden, welche Wirkung sie entfalten.

Wir schauen viel ins Ausland, wie dort Verwaltungen funktionieren.

Vivien Benert, Data Scientist

Welche Rolle spielen Sie bei der Optimierung von Verwaltungsprozessen?

Benert: Wir stehen erst am Anfang, aber es gibt in den Verwaltungen viele Menschen, die das System verändern wollen. Doch wir sind keine Missionar*innen. Wir sehen uns als Innovator*innen, die ganz konkret zeigen, an welchen Stellen Veränderungen möglich sind.

Göller: Wir werden aber sicher auch auf Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsprozesse stoßen, die es unmöglich machen, wirkungsorientiert zu arbeiten. Das können wir dann staatlichen Akteur*innen spiegeln. Aber das Ziel ist, dass wir am Ende sagen können: Hier sind einige konkrete Beispiele, wie der Staat künftig wirkungsorientierter und damit auch effizienter arbeiten kann.

Das klingt nach einer Sisyphusarbeit. Was motiviert Sie?

Benert: Ich habe mich lange zunächst auf theoretischer Ebene mit der Frage auseinandergesetzt, wie ich mithilfe von Daten politische Inhalte analysieren und erklären kann. Es reizt mich sehr, die Erkenntnisse daraus jetzt in der Praxis anzuwenden.

Göller: Die Arbeit in der öffentlichen Verwaltung kann in hohem Maße sinnstiftend sein. Wir wollen, dass junge Menschen Lust auf die Verwaltung bekommen, weil sie dort wirklich etwas verändern können. Dafür müssen sich aber Arbeitsmethoden und Wirkweisen ändern. Das mitzugestalten, motiviert mich sehr. Denn klar ist: Wir brauchen ein Update für das Betriebssystem der Verwaltung und unseres Staates.

Agora Digitale Transformation

Die Agora Digitale Transformation wurde 2022 gegründet, alleinige Gesellschafterin ist die Stiftung Mercator. Die Mission des Thinktanks: überparteilich, kollaborativ und evidenzbasiert auszuloten, welche Chancen die digitale Transformation bietet, die Demokratie zu stärken. Im Rahmen des Forschungsprojektes „E-Valuate“ werden Arbeitsmethoden und Vorgehensweisen für Wirkungsorientierung in der Ministerialverwaltung auf Bundesebene entwickelt.

www.agoradigital.de/