Der Schnelldenker der Philosophie

Weiß der Mensch, was gut und was böse ist? Und wie sieht es mit Künstlichen Intelligenzen aus? Können sie menschliche Werte übernehmen? Orientierung über solche Fragen bieten Philosoph*innen wie Markus Gabriel. Der Bonner Wissenschaftler zählt zu den gefragtesten Denkern der Gegenwart.
Eine frisch renovierte Altbauwohnung im oberen Stock einer schmalen Seitenstraße in der Hamburger Innenstadt, geschmackvoll eingerichtet mit Designklassikern. Vom Balkon mit dem verschnörkelten Geländer aus schweift der Blick auf einer Seite zur Binnenalster, auf der anderen zur Staatsoper, bis zum Jungfernstieg sind es nur wenige Meter zu Fuß. Hier lebt der Philosoph Markus Gabriel, aktuell als Fellow des The New Institute, einer Denkfabrik, die der Reeder Erck Rickmers gegründet hat. In dem weitläufigen Open-Space-Büro im Erdgeschoss sucht Gabriel zusammen mit Kolleg*innen aus anderen Disziplinen nach Antworten auf die drängendsten ökologischen, ökonomischen und politischen Fragen unserer Zeit. „DiMiDo“, sagt der 42-jährige Wissenschaftler mit dem rotblonden Kurzhaarschnitt, der gerne Anzug trägt und an manchen Tagen auch ein 60er-Jahre-Retro-Brillengestell. Dass er die an Hochschulen übliche Abkürzung für eine Arbeitszeit von Dienstag bis Donnerstag verwendet, passt. Und zwar nicht nur, weil er sich damit als Hochschulprofessor zu erkennen gibt. Er lehrt Philosophie an der Universität Bonn, in Bonn lebt er zusammen mit seiner Frau und zwei Töchtern. Zuvor hat er in Heidelberg, Helsinki, New York, Neapel, Paris, Lissabon, Palermo, Tokio und im kalifornischen Berkeley unterrichtet. Es passt auch, weil Markus Gabriel schnell ist. Er denkt schnell. Er spricht schnell. Und er hat dabei alles gleichzeitig im Blick, geht blitzschnell auf seine Umgebung ein. Auf das Kamerateam, das im Wohnzimmer auf einen Anschlusstermin wartet, genauso wie auf den Fotografen, für den er vor dem Bücherregal posiert, und die Journalistin in der Küche. „Sie sehen dort auf dem Beistelltisch die Papierbox, die meine Tochter gebastelt hat“, ruft er. Tatsächlich: Da ist eine handgroße Kiste aus gefaltetem Papier, darauf steht in Kinderschrift etwas mit Bleistift geschrieben. „Wir müssen unsere Handys in die Box legen, wenn wir zusammen essen“, sagt Markus Gabriel und lacht. „Solche Vorschläge meiner Töchter übernehme ich immer gerne!“

Bin ich derselbe, gestern und heute?
Markus Gabriel gilt als Mensch der Superlative. Mit 29 Jahren war er Deutschlands jüngster Philosophieprofessor. Seine Bücher – neben Fachliteratur auch populärwissenschaftliche Bestseller – wurden in 15 Sprachen übersetzt. Die Medien bezeichnen ihn mal als bekanntesten Philosophen der Gegenwart, mal als Starphilosophen oder Rockstar am Philosophenhimmel. Sein Kollege Michael Pauen von der Humboldt-Universität zu Berlin nannte ihn in Bezug auf sein Buch „Ich ist nicht Gehirn“ scherzhaft „Hochgeschwindigkeitsphilosoph“, weil er viele Themen manchmal auch nur oberflächlich streife. Wer sich mit ihm unterhält, schätzt an ihm vermutlich, dass er sich rasch auf sein Gegenüber einstellt und voller Begeisterung erzählt. Er sprudelt nur so los – egal, ob es um seine Kindheit im rheinland-pfälzischen Remagen geht, seine morgendliche Joggingrunde um die Hamburger Alster und im Wald am Bonner Venusberg oder um Erkenntnistheorie, Moral, Digitalisierung, künstliche Intelligenz.
Zur Philosophie hat es ihn schon früh gezogen. „Ich war als Kind an Dingen interessiert, die ich heute als philosophische Überlegungen zusammenfassen würde“, sagt er im verglasten und in Niederländischem Blau gestrichenen Konferenzraum. Zwischendurch grüßt er durch Augenzwinkern Wissenschaftler*innen, die im Foyer vorbeigehen. „Also, zum Beispiel: Was ist der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Schein? Oder die Erfahrung der Zeit. Als Grundschüler wollte ich gerne herausfinden, wie es sein kann, dass ich ein anderer bin, je nachdem, mit wem ich meine Zeit verbringe. Und was bedeutet diese Erkenntnis für die Frage, wer ich über verschiedene Zeitpunkte hinweg bin? Bin ich derselbe, gestern und heute? Das Thema Zeit ist vermutlich das schwerste überhaupt. Da trau ich mich noch nicht wirklich ran.“



Vom Skater zum Nerd im Pullunder
Er wagte sich dafür an philosophische Schwergewichte. Mit 15 Jahren las er Søren Kierkegaard, den dänischen Denker, der als Urvater der Existenzphilosophie gilt. Das Buch „Die Krankheit zum Tode“ hatte ihm ein Freund geschenkt, nachdem Gabriel sich beim Skaten auf der Kölner Domplatte einen Knöchel gebrochen hatte. Als er nach den Ferien und einigen Aha-Momenten in die Schule zurückkehrte, war aus dem Skater mit tief sitzenden Hosen ein Nerd im Pullunder mit einem Faible für Philosophie geworden. Seine Eltern, die Mutter Krankenschwester, der Vater Friedhofsgärtner, konnten nicht viel damit anfangen: „Der Jung ist ja verrückt!“ Doch Gabriel war sich sicher. Er studierte Philosophie in Hagen, Bonn und Heidelberg. 2009 folgte der Ruf an den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart an der Universität Bonn. „Hauptberuflich Erkenntnistheoretiker, das ist meine Job-Description. Aber das große Privileg an einer akademischen Laufbahn, zumal auf einer entfristeten Stelle, ist, dass man immer weiter lernen kann – und das sollte man als Wissenschaftler*in auch tun. Diese Verantwortung hat man der Gesellschaft gegenüber.“

Auf dem Skateboard stand Gabriel übrigens doch noch mal. 2013, als Gastprofessor in Berkeley. „Da hat sich der Traum des 15-Jährigen erfüllt, in Kalifornien zu skaten und das zu machen, was für meine Knie noch in Ordnung war. Aber als ich neulich wieder für einen Monat an der Stanford University war, habe ich lieber die Finger davongelassen.“
Auch Platon hätte Putins Angriffskrieg verurteilt
In seinem Buch „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ postuliert er jüngst einen moralischen Fortschritt auf der Grundlage von universellen moralischen Werten. Während mathematische Tatsachen einfach da seien – eins plus eins ergibt zwei –, hängen moralische Tatsachen davon ab, was die Menschen tun. „Beispielsweise existierte die moralische Tatsache, dass der Angriffskrieg auf die Ukraine radikal böse ist, nicht, als es noch keine Angriffskriege gab. Das heißt, die moralischen Tatsachen sind mit den historischen Praktiken der Menschen verwoben. Aber: Der Beschuss von Kindergärten war immer schon unmoralisch. Hätten die alten Griechen Raketen entdeckt und sie auf die Perser gejagt, wäre das genauso böse gewesen wie das, was Putin heute macht. Es ist gleich böse zu allen Zeiten.“


Der Mensch trägt einen moralischen Kompass in sich, er weiß, was gut und was schlecht ist. Aber wie bringt man ihn dazu, das moralisch Richtige zu tun? Vor allem in einer digitalen Welt, die einem ständig nahelegt, noch mehr konsumieren zu müssen, ist das gar nicht so leicht. Hinzu kommen Fake News und Desinformation, die den inneren moralischen Kompass in die Irre leiten. „Auch wir in Deutschland haben Propagandamaschinen. Bei uns sind es keine staatsgelenkten Medien wie in Russland. Bei uns sind die Propagandamaschinen selbst verschuldete Unmündigkeiten.“
Ethische Algorithmen sind möglich
Diese Unmündigkeiten hängen eng mit der weltweiten Digitalisierung zusammen. An der Universität Bonn, in Kooperation mit der Universität Cambridge, untersucht Gabriel derzeit im Projekt „Wünschenswerte Digitalisierung“ („Desirable Digitalisation: Rethinking AI for Just and Sustainable Futures“), wie künstliche Intelligenz grundlegende menschliche Werte unterstützen kann. „Ein Vorteil von Algorithmen ist, dass sie nicht so schnell ihre Meinung ändern wie beispielsweise Richter*innen, die anders nach einer Mittagspause urteilen als erschöpft am späten Nachmittag – das führt Nobelpreisträger Daniel Kahneman in seinem jüngsten Buch aus“, fasst Gabriel zusammen. „Aber KI kann gleichzeitig in rasender Geschwindigkeit neue Muster und Werte erstellen, die wir gar nicht mehr nachvollziehen können. Deshalb wäre es wichtig, sie mit hohen ethischen Werten zu füttern.“ Dass dies nicht der Fall ist, zeigt die Fülle an Fake News und Verschwörungserzählungen, die Algorithmen in sozialen Netzwerken unermüdlich multiplizieren. Doch es gebe zumindest theoretisch Alternativen, die es dem Menschen leichter machten, seinem inneren moralischen Kompass zu folgen. „Ich denke dabei an eine soziale Plattform, die von einem Qualitätsmedium herausgegeben wird“, sagt Markus Gabriel. „Dafür habe ich mich mit der US-amerikanischen Software-Ingenieurin Nell Watson von der Singularity University zusammengeschlossen. Denn sie hat einen Prototyp für ein solches Netzwerk entwickelt. In diesem ist es unmöglich, Hasskommentare zu hinterlassen. Versucht man, jemanden zu beleidigen, ploppt stattdessen automatisch eine Botschaft auf dem Bildschirm auf: ‚Ich fühle mich schlecht bei dem, was du sagst.‘ Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie setzen künstliche Intelligenz auf diese Weise zum Wohl der Menschheit ein!“ Die Welt hätte vermutlich einige Probleme weniger.
Von der Freiheit, das Richtige zu tun
Wieder in der Gastwohnung, in der Markus Gabriel DiMiDo lebt. Der Wissenschaftler brachte seine Bücher mit, darunter Daniel Kahnemans „Noise: Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können“ und „Wovon wir leben“ von Corine Pelluchon. Die französische Philosophin setzt sich darin für die Abkehr von einer Ausbeutung von Tieren ein, sie lebt in Hamburg direkt über Gabriel. Das Stockwerk darunter wird noch, genau wie das Treppenhaus, renoviert. Im Flur steht ein Buggy mit lachsfarbenem Bezug, die Familie war am Wochenende in Hamburg. Eine inspirierende und kreative Atmosphäre, auch für die Kinder. Wie vermittelt er seinen Töchtern Vorstellungen von richtiger und guter Moral? „Meine Frau macht das als Pädagogin besser“, lacht Markus Gabriel und fügt hinzu: „Ich versuche es durch Praxis. Vorleben. Und als Philosoph diskursiv, also durch Erklären und Diskutieren.“ Das funktioniere. „Einmal hatte meine Siebenjährige ein anderes Kind zusammen mit einer Freundin gedemütigt. Angetrieben von der Freundin, aber sie hat mitgemacht, und zwar ohne ein Bewusstsein dafür zu haben, dass es schlecht ist. Als wir sie damit konfrontiert haben, verschanzte sie sich hinter Ausflüchten. Dann hat sie die harte Frage gestellt, die in der Philosophie das Amoralistenargument genannt wird: ‚Ich sehe ein, dass es böse ist. Aber warum soll ich das Böse nicht tun?‘ Die philosophische Antwort darauf lautet: ‚Weil es böse ist.‘ Wie erkläre ich das einem Kind?“ Weil dies ein komplexes und gleichzeitig notwendiges Unterfangen ist, plädiert Markus Gabriel für Ethik- und Philosophieunterricht ab der Grundschule. Seine Tochter verstand durch einen inneren Perspektivenwechsel, dass ihr Verhalten für das andere Kind verletzend war. Und damit hat sie etwas Wichtiges gelernt: Die Freiheit, etwas Gutes zu tun, ist besser ist als die Freiheit, etwas Böses zu tun.
Desirable Digitalisation: Rethinking AI for Just and Sustainable Futures
Wie verändert KI unsere Vorstellungen von Menschsein und Werten? Welche gesellschaftlichen Strukturen und Menschenbilder prägen aktuell die Technologieentwicklung? In diesem internationalen Projekt arbeiten Forscher*innen an den Universitäten Bonn und Cambridge an grundlegenden Fragestellungen im Zusammenhang von KI, Werten und Menschenbildern. Das Ziel sind normative Leitplanken für die Entwicklung und den Einsatz von KI und Wege zu ihrer praktischen Anwendung.
