Wo Forschung und Fairness zusammen­finden

Wo Forschung und Fairness zusammen­finden
Autorin: Jasmin Sarwoko Fotos: Jasmin Sarwoko 19.10.2021

Von Ungarn über Nigeria, Sambia und Namibia bis nach Südafrika: Odilile Ayodeles Lebensweg ist ebenso verzweigt wie ihre wissenschaftliche Arbeit mit dem Ziel, die Welt im digitalen Raum gerechter zu machen. Dabei untersucht sie gemeinsam mit anderen Forscher*innen auch, welche Rolle Ethik in einer digitalisierten Gesellschaft spielt.

Es war dieser eine Nebenjob beim schwedischen Tech-Riesen Ericsson, der in Odilile Ayodele die Liebe zur Technologie wachsen ließ. Damals ging sie noch zur Highschool. „Die Erfahrung hat sich bei mir eingebrannt“, erinnert sich Ayodele, die heute 39 Jahre alt ist. „Um die Geräte und Handys zu verkaufen, sollten wir auch verstehen, wie sie funktionieren und vor allem, was sie in Süd­afrika verändern würden.“

Zwanzig Jahre später schreibt sie ihre Doktorarbeit über die Beziehung zwischen süd­afrikanischer Außen­politik und der Politik hiesiger Mobil­funk­unternehmen an der University of Johannesburg. Heute arbeitet sie an ihrem ersten Buch, einer Erweiterung ihres Promotions­themas. In ihrem Haus im Norden von Johannesburg hat sie das Gäste­zimmer in ein Arbeits­zimmer verwandelt: Zwischen Laptop und White­board kleben überall bunte Post-its. Hier erforscht Ayodele die Heraus­forderungen der Digitalisierung in Afrika, hilft ihren beiden Töchtern bei den Haus­aufgaben und vernetzt sich mit anderen Wissenschaftler*innen auf dem Kontinent.

Immer wieder wird im Austausch deutlich: Afrikas 54 Staaten eint nicht nur kulturell und politisch vieles, sondern auch wissenschaftlich. Das lässt sich unter dem Begriff Panafrikanismus fassen, der sich in Ayodeles Biografie wider­spiegelt. Im Haus­flur hängen Bilder von ihrer südafrikanisch-nigerianischen Hochzeit, den Kindern und Großeltern. Ayodeles Bruder hat ihr neulich Fotos geschickt, die von einer glücklichen Kindheit zeugen: ein lachendes Baby, abwechselnd im Arm der Mutter und der Großmutter. Wie so viele Südafrikaner*innen hatte Ayodeles Mutter damals nur begrenzte Möglichkeiten: entweder unter dem rassistischen Unter­drückungs­regime der weißen afrikaansen Regierung zu leben – oder ihr Zuhause zu verlassen. „Meine Mutter hat mit mir nie über ihr Leben während der Apartheid gesprochen. Alles, was ich darüber weiß, hat mir meine Groß­mutter erzählt“, sagt Ayodele.

Eigentlich fühlt sie sich auf dem ganzen afrikanischen Kontinent zuhause, doch ihre Basis hat Odilile Ayodele in Johannesburg. © Jasmin Sarwoko

Eine Kindheit mit vielen Neuanfängen

Die Mutter entscheidet sich für ein Leben im Exil in Budapest, wo während der Apartheid viele Südafrikaner*innen Zuflucht finden. Dort lernt sie einen jungen nigerianischen Medizin­studenten kennen. Sie verlieben sich ineinander; 1982 kommt Odilile Ayodele zur Welt. An die frühen Jahre in Ungarn erinnert sie sich nicht mehr, die Zeit danach prägt sie umso stärker: Sambia, Nigeria, Simbabwe, Nigeria, dann Namibia. Die Eltern arbeiten hart, sind viel unterwegs und geben die Kinder in der Zwischen­zeit zu den Groß­eltern. Irgendwann wollen sie zurück nach Süd­afrika. Damals weiß Ayodele noch nicht, dass dieser Weg auch ihren Weg in der Forschung mitbestimmen wird.

Das Leben in unterschiedlichen Ländern prägt Ayodele und ihre beiden Brüder, lässt sie bereits früh die Diversität Afrikas spüren. „Egal, wo ich unterwegs bin, auf dem Kontinent fühle ich mich zu Hause“, sagt sie. 1994 kehrt die Familie zurück nach Südafrika. Die Apartheid ist zu Ende, ein Neuanfang liegt in der Luft. Doch die erhoffte Gleich­berechtigung zeigt sich natürlich nicht von heute auf morgen: „Die Mädchen, die indigene Sprachen wie Zulu oder Xhosa sprachen, durften das in der Schule nicht tun. Die anderen, die Afrikaans sprachen, wurden jedoch nicht daran gehindert. Und so, wie ich meinen Afro gerade trage, hätte ich das in der Schule nie gedurft. Wir mussten entweder alle Haare abschneiden oder sie glätten und zum Zopf binden“, erzählt sie. In solchen Momenten, sagt sie, fühle sie sich mehr der nigerianischen Seite ihres Vaters zugehörig, weil ihr zur südafrikanischen Geschichte der Bezug und die eigene Erfahrung fehle, obwohl sie sich eigentlich immer als Südafrikanerin betrachtet habe.

Flexibilität und viele Absprachen

All diese Erfahrungen wecken in ihr den Wunsch, Debatten über die Probleme und Chancen Afrikas anzustoßen und die Welt ein Stück gerechter zu machen. An der University of the Witwatersrand in Johannesburg beginnt Ayodele, Inter­nationale Beziehungen zu studieren. Am „Heritage Day“, einem National­feier­tag, an dem das ganze Land die unterschiedlichen Traditionen und Ethnien seiner Bewohner*innen feiert, lernt Odilile Ayodele ihren heutigen Ehemann Ayo kennen. „Er hat auf der Bühne in seinem traditionellen nigerianischen Gewand getanzt. Ich fand ihn sofort gut“, berichtet sie. „Danach sind wir uns immer wieder rein zufällig auf dem Campus begegnet“, fügt er lachend hinzu. Ganz so zufällig sei es dann wohl doch nicht gewesen, meint er, und Odilile Ayodele knüpft an: „Ich bin ständig um die Fakultät der Ingenieurinnen und Ingenieure geschlichen, obwohl ich dort gar nicht studierte.“ Adeola, die jüngere Tochter, fasst sich an die Stirn, und auch die 12-jährige Kemi verdreht die Augen bei der Liebes­geschichte. Gelächter am Garten­tisch der Familie.

Pausen müssen sein: Zwischen Hausaufgaben und Homeoffice entspannt sich die vierköpfige nigerianisch-südafrikanische Familie auf ihrer Terrasse. © Jasmin Sarwoko

Odilile Ayodele steckt noch mitten in der Promotion, als Adeola geboren wird. „Das war eine ganz schön hektische Phase. Zwei Kinder, eine Doktor­arbeit, keine Nanny“, erinnert sie sich. Bald darauf macht Ayo seine Ausbildung zum Helikopter­piloten und ist viel unterwegs. Und doch lieben die beiden ihr Leben, selbst wenn es Stress, Flexibilität und viele Absprachen erfordert. „Ich bin Realistin. Der Idealismus meiner Mitt­zwanziger war vorbei, als meine Kinder geboren wurden“, sagt sie und lacht.

Auch wenn man ihr die Rationalität anmerkt, mit der sie ihre Projekte angeht, ist ihre persönliche Geschichte die einer Idealistin. Sie wirkt aktiv daran mit, Afrika in eine digitale Souveränität zu leiten. Südafrika könne hierbei eine führende Rolle einnehmen, da die digitale Infra­struktur gegeben sei, Kapital in Tech-Start-ups fließe und die Wissenschaft sich mit dem Thema Digitalisierung befasse. „Doch die Ergebnisse dieser Arbeit müssen auch in den sozial schwächeren Gesellschafts­teilen ankommen. Das ist bislang das große Problem auf dem ganzen Kontinent“, sagt Ayodele.

Westliche Tech-Riesen wollen die Regeln diktieren

Bei einem Wissenschafts-Sprint mit anderen afrikanischen Teilnehmer*innen, der unter dem treffenden Titel „Ethik der Digitalisierung“ ins Leben gerufen wurde, kam es im Sommer 2021 auch zum Austausch mit Bundes­präsident Frank-Walter Steinmeier. Der Westen sehe Afrika mitunter noch immer als „Objekt der Geopolitik“, weshalb man an einem Dialog interessiert sei, erklärte Steinmeier. Für Ayodele war der Sprint eine Herzens­angelegenheit und eine Chance, die Heraus­forderungen der Digitalisierung auf dem Kontinent zu adressieren. Für diesen Dialog sind solche inter­nationalen Formate zentral, findet Ayodele. Nur wenn die inter­nationalen Gesprächs­partner*innen, wie bei den Wissenschafts-Sprints, auf Augenhöhe diskutieren können, sind auch Lösungen für die Probleme auf dem afrikanischen Kontinent möglich. Ayodele hofft, dass sich auch der Westen seiner Verantwortung bewusst wird. Denn im Gespräch mit ihren afrikanischen Kolleg*innen sickerte immer wieder durch, dass die Beziehung zwischen Afrika und westlichen Staaten nach wie vor als zu einseitig empfunden wird – zulasten Afrikas. Zum Beispiel hätten westliche Tech-Riesen wie Google oder Facebook ein Interesse daran, afrikanische Märkte zu erschließen. Und dabei die Regeln zu diktieren. „Dies geschieht aus Angst, afrikanische Unternehmen könnten aufgrund des enormen Wachstumspotenzials selbst einen Anspruch auf die Macht über Daten und Regularien erheben“, meint Ayodele. Man könne jedoch viel mehr erreichen, wenn das Verhältnis ausgeglichener sei und wenn die afrikanischen Staaten ihr Regelwerk selbst festlegten. Das werde auch die Zusammenarbeit auf dem Kontinent deutlich verbessern.

Odilile Ayodele wünscht sich gleiche Chancen für alle afrikanischen Staaten. An erster Stelle steht für sie dabei das Thema Bildung. © Jasmin Sarwoko
100 Tage Schreiben – die Zeitspanne bis zur Deadline für ihr Buch hat Odilile auf einer Tafel festgehalten. © Jasmin Sarwoko
Das Whiteboard als Gedächtnisstütze: Ordnung und Struktur helfen der Multitaskerin durch den Tag. © Jasmin Sarwoko

Der globale Norden sei in der Verantwortung, nicht nur zu nehmen, erklärt Ayodele. Insbesondere die Corona­pandemie habe den Brain­drain verstärkt. „Junge afrikanische Ärzt*innen wurden von den USA und China gelockt: Kommt zu uns zum Arbeiten, wir übernehmen alle Kosten und bezahlen euch gut, haben sie gesagt, um so die besten Leute aus unserem Land abzuwerben. Mitten in einer Pandemie!“, berichtet sie. Daran seien nicht nur die Nationalstaaten schuld, sondern vor allem große Pharma­unternehmen. Die Regierungen aber haben die Aufgabe, Rahmen­bedingungen fest­zu­legen, findet sie. „Es gibt Möglichkeiten, unser Wissen global zu teilen, ohne dass wir die gut ausgebildeten Leute hier verlieren.“

„Wir brauchen einen neuen Traum“

Odilile Ayodele sieht eine mögliche Lösung darin, den Zugang zur digitalen Infra­struktur zu verbessern: „Afrika ist da sehr unterschiedlich aufgestellt. Zwar haben wir in Südafrika, Kenia und Ruanda eine Art Silicon Valley, doch innerhalb dieser Länder gibt es ebenso Regionen, in denen noch Grund­legendes wie Elektrizität fehlt. Auch die Bildung ist mancherorts nicht auf einem Niveau, das für nach­haltigen Erfolg nötig wäre. Wie sollen die, die mit zwölf oder dreizehn Jahren die Schule abbrechen müssen, da noch mithalten?“ Die afrikanischen Staaten müssten zunächst eine Grundsicherung und Bildungs­möglichkeiten für alle sicher­stellen, bevor man sich komplett auf die vierte industrielle Revolution, den südafrikanischen Schlacht­ruf zur Digitalisierung, einschieße. Sonst werde die Ungleichheit nur noch größer, glaubt Ayodele. „Die Politik muss Wege finden, um auch die ländlichen und ärmeren Communitys zu integrieren.“

Trotz der vielen Herausforderungen und Ernüchterungen glaubt sie an die Zukunft des afrikanischen Kontinents. Eine digitalisierte Gesellschaft könne die unter­schiedlichen Kulturen, Länder und Menschen auf dem Kontinent endlich näher zusammen­bringen und den Weg in eine Zukunft auf Augenhöhe mit anderen westlichen Staaten ebnen – solange nicht große Teile der Bevölkerung auf der Strecke blieben. „Die Regen­bogen­nation war ein Traum, den wir damals in Süd­afrika dringend brauchten. Aber heute brauchen wir einen neuen Traum.“ Und der, so Ayodele, müsse inklusiv und panafrikanisch sein.

Ethik der Digitalisierung – von Prinzipien zu Praktiken

Das internationale Forschungsprojekt „Ethik der Digitalisierung – von Prinzipien zu Praktiken“ will wegweisende Antworten auf die Heraus­forderungen im Spannungs­feld von Ethik und Digitalisierung entwickeln.
https://www.hiig.de/project/ethik-der-digitalisierung/