Wo Forschung und Fairness zusammenfinden
Von Ungarn über Nigeria, Sambia und Namibia bis nach Südafrika: Odilile Ayodeles Lebensweg ist ebenso verzweigt wie ihre wissenschaftliche Arbeit mit dem Ziel, die Welt im digitalen Raum gerechter zu machen. Dabei untersucht sie gemeinsam mit anderen Forscher*innen auch, welche Rolle Ethik in einer digitalisierten Gesellschaft spielt.
Es war dieser eine Nebenjob beim schwedischen Tech-Riesen Ericsson, der in Odilile Ayodele die Liebe zur Technologie wachsen ließ. Damals ging sie noch zur Highschool. „Die Erfahrung hat sich bei mir eingebrannt“, erinnert sich Ayodele, die heute 39 Jahre alt ist. „Um die Geräte und Handys zu verkaufen, sollten wir auch verstehen, wie sie funktionieren und vor allem, was sie in Südafrika verändern würden.“
Zwanzig Jahre später schreibt sie ihre Doktorarbeit über die Beziehung zwischen südafrikanischer Außenpolitik und der Politik hiesiger Mobilfunkunternehmen an der University of Johannesburg. Heute arbeitet sie an ihrem ersten Buch, einer Erweiterung ihres Promotionsthemas. In ihrem Haus im Norden von Johannesburg hat sie das Gästezimmer in ein Arbeitszimmer verwandelt: Zwischen Laptop und Whiteboard kleben überall bunte Post-its. Hier erforscht Ayodele die Herausforderungen der Digitalisierung in Afrika, hilft ihren beiden Töchtern bei den Hausaufgaben und vernetzt sich mit anderen Wissenschaftler*innen auf dem Kontinent.
Immer wieder wird im Austausch deutlich: Afrikas 54 Staaten eint nicht nur kulturell und politisch vieles, sondern auch wissenschaftlich. Das lässt sich unter dem Begriff Panafrikanismus fassen, der sich in Ayodeles Biografie widerspiegelt. Im Hausflur hängen Bilder von ihrer südafrikanisch-nigerianischen Hochzeit, den Kindern und Großeltern. Ayodeles Bruder hat ihr neulich Fotos geschickt, die von einer glücklichen Kindheit zeugen: ein lachendes Baby, abwechselnd im Arm der Mutter und der Großmutter. Wie so viele Südafrikaner*innen hatte Ayodeles Mutter damals nur begrenzte Möglichkeiten: entweder unter dem rassistischen Unterdrückungsregime der weißen afrikaansen Regierung zu leben – oder ihr Zuhause zu verlassen. „Meine Mutter hat mit mir nie über ihr Leben während der Apartheid gesprochen. Alles, was ich darüber weiß, hat mir meine Großmutter erzählt“, sagt Ayodele.
Eine Kindheit mit vielen Neuanfängen
Die Mutter entscheidet sich für ein Leben im Exil in Budapest, wo während der Apartheid viele Südafrikaner*innen Zuflucht finden. Dort lernt sie einen jungen nigerianischen Medizinstudenten kennen. Sie verlieben sich ineinander; 1982 kommt Odilile Ayodele zur Welt. An die frühen Jahre in Ungarn erinnert sie sich nicht mehr, die Zeit danach prägt sie umso stärker: Sambia, Nigeria, Simbabwe, Nigeria, dann Namibia. Die Eltern arbeiten hart, sind viel unterwegs und geben die Kinder in der Zwischenzeit zu den Großeltern. Irgendwann wollen sie zurück nach Südafrika. Damals weiß Ayodele noch nicht, dass dieser Weg auch ihren Weg in der Forschung mitbestimmen wird.
Das Leben in unterschiedlichen Ländern prägt Ayodele und ihre beiden Brüder, lässt sie bereits früh die Diversität Afrikas spüren. „Egal, wo ich unterwegs bin, auf dem Kontinent fühle ich mich zu Hause“, sagt sie. 1994 kehrt die Familie zurück nach Südafrika. Die Apartheid ist zu Ende, ein Neuanfang liegt in der Luft. Doch die erhoffte Gleichberechtigung zeigt sich natürlich nicht von heute auf morgen: „Die Mädchen, die indigene Sprachen wie Zulu oder Xhosa sprachen, durften das in der Schule nicht tun. Die anderen, die Afrikaans sprachen, wurden jedoch nicht daran gehindert. Und so, wie ich meinen Afro gerade trage, hätte ich das in der Schule nie gedurft. Wir mussten entweder alle Haare abschneiden oder sie glätten und zum Zopf binden“, erzählt sie. In solchen Momenten, sagt sie, fühle sie sich mehr der nigerianischen Seite ihres Vaters zugehörig, weil ihr zur südafrikanischen Geschichte der Bezug und die eigene Erfahrung fehle, obwohl sie sich eigentlich immer als Südafrikanerin betrachtet habe.
Flexibilität und viele Absprachen
All diese Erfahrungen wecken in ihr den Wunsch, Debatten über die Probleme und Chancen Afrikas anzustoßen und die Welt ein Stück gerechter zu machen. An der University of the Witwatersrand in Johannesburg beginnt Ayodele, Internationale Beziehungen zu studieren. Am „Heritage Day“, einem Nationalfeiertag, an dem das ganze Land die unterschiedlichen Traditionen und Ethnien seiner Bewohner*innen feiert, lernt Odilile Ayodele ihren heutigen Ehemann Ayo kennen. „Er hat auf der Bühne in seinem traditionellen nigerianischen Gewand getanzt. Ich fand ihn sofort gut“, berichtet sie. „Danach sind wir uns immer wieder rein zufällig auf dem Campus begegnet“, fügt er lachend hinzu. Ganz so zufällig sei es dann wohl doch nicht gewesen, meint er, und Odilile Ayodele knüpft an: „Ich bin ständig um die Fakultät der Ingenieurinnen und Ingenieure geschlichen, obwohl ich dort gar nicht studierte.“ Adeola, die jüngere Tochter, fasst sich an die Stirn, und auch die 12-jährige Kemi verdreht die Augen bei der Liebesgeschichte. Gelächter am Gartentisch der Familie.
Odilile Ayodele steckt noch mitten in der Promotion, als Adeola geboren wird. „Das war eine ganz schön hektische Phase. Zwei Kinder, eine Doktorarbeit, keine Nanny“, erinnert sie sich. Bald darauf macht Ayo seine Ausbildung zum Helikopterpiloten und ist viel unterwegs. Und doch lieben die beiden ihr Leben, selbst wenn es Stress, Flexibilität und viele Absprachen erfordert. „Ich bin Realistin. Der Idealismus meiner Mittzwanziger war vorbei, als meine Kinder geboren wurden“, sagt sie und lacht.
Auch wenn man ihr die Rationalität anmerkt, mit der sie ihre Projekte angeht, ist ihre persönliche Geschichte die einer Idealistin. Sie wirkt aktiv daran mit, Afrika in eine digitale Souveränität zu leiten. Südafrika könne hierbei eine führende Rolle einnehmen, da die digitale Infrastruktur gegeben sei, Kapital in Tech-Start-ups fließe und die Wissenschaft sich mit dem Thema Digitalisierung befasse. „Doch die Ergebnisse dieser Arbeit müssen auch in den sozial schwächeren Gesellschaftsteilen ankommen. Das ist bislang das große Problem auf dem ganzen Kontinent“, sagt Ayodele.
Westliche Tech-Riesen wollen die Regeln diktieren
Bei einem Wissenschafts-Sprint mit anderen afrikanischen Teilnehmer*innen, der unter dem treffenden Titel „Ethik der Digitalisierung“ ins Leben gerufen wurde, kam es im Sommer 2021 auch zum Austausch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Der Westen sehe Afrika mitunter noch immer als „Objekt der Geopolitik“, weshalb man an einem Dialog interessiert sei, erklärte Steinmeier. Für Ayodele war der Sprint eine Herzensangelegenheit und eine Chance, die Herausforderungen der Digitalisierung auf dem Kontinent zu adressieren. Für diesen Dialog sind solche internationalen Formate zentral, findet Ayodele. Nur wenn die internationalen Gesprächspartner*innen, wie bei den Wissenschafts-Sprints, auf Augenhöhe diskutieren können, sind auch Lösungen für die Probleme auf dem afrikanischen Kontinent möglich. Ayodele hofft, dass sich auch der Westen seiner Verantwortung bewusst wird. Denn im Gespräch mit ihren afrikanischen Kolleg*innen sickerte immer wieder durch, dass die Beziehung zwischen Afrika und westlichen Staaten nach wie vor als zu einseitig empfunden wird – zulasten Afrikas. Zum Beispiel hätten westliche Tech-Riesen wie Google oder Facebook ein Interesse daran, afrikanische Märkte zu erschließen. Und dabei die Regeln zu diktieren. „Dies geschieht aus Angst, afrikanische Unternehmen könnten aufgrund des enormen Wachstumspotenzials selbst einen Anspruch auf die Macht über Daten und Regularien erheben“, meint Ayodele. Man könne jedoch viel mehr erreichen, wenn das Verhältnis ausgeglichener sei und wenn die afrikanischen Staaten ihr Regelwerk selbst festlegten. Das werde auch die Zusammenarbeit auf dem Kontinent deutlich verbessern.
Der globale Norden sei in der Verantwortung, nicht nur zu nehmen, erklärt Ayodele. Insbesondere die Coronapandemie habe den Braindrain verstärkt. „Junge afrikanische Ärzt*innen wurden von den USA und China gelockt: Kommt zu uns zum Arbeiten, wir übernehmen alle Kosten und bezahlen euch gut, haben sie gesagt, um so die besten Leute aus unserem Land abzuwerben. Mitten in einer Pandemie!“, berichtet sie. Daran seien nicht nur die Nationalstaaten schuld, sondern vor allem große Pharmaunternehmen. Die Regierungen aber haben die Aufgabe, Rahmenbedingungen festzulegen, findet sie. „Es gibt Möglichkeiten, unser Wissen global zu teilen, ohne dass wir die gut ausgebildeten Leute hier verlieren.“
„Wir brauchen einen neuen Traum“
Odilile Ayodele sieht eine mögliche Lösung darin, den Zugang zur digitalen Infrastruktur zu verbessern: „Afrika ist da sehr unterschiedlich aufgestellt. Zwar haben wir in Südafrika, Kenia und Ruanda eine Art Silicon Valley, doch innerhalb dieser Länder gibt es ebenso Regionen, in denen noch Grundlegendes wie Elektrizität fehlt. Auch die Bildung ist mancherorts nicht auf einem Niveau, das für nachhaltigen Erfolg nötig wäre. Wie sollen die, die mit zwölf oder dreizehn Jahren die Schule abbrechen müssen, da noch mithalten?“ Die afrikanischen Staaten müssten zunächst eine Grundsicherung und Bildungsmöglichkeiten für alle sicherstellen, bevor man sich komplett auf die vierte industrielle Revolution, den südafrikanischen Schlachtruf zur Digitalisierung, einschieße. Sonst werde die Ungleichheit nur noch größer, glaubt Ayodele. „Die Politik muss Wege finden, um auch die ländlichen und ärmeren Communitys zu integrieren.“
Trotz der vielen Herausforderungen und Ernüchterungen glaubt sie an die Zukunft des afrikanischen Kontinents. Eine digitalisierte Gesellschaft könne die unterschiedlichen Kulturen, Länder und Menschen auf dem Kontinent endlich näher zusammenbringen und den Weg in eine Zukunft auf Augenhöhe mit anderen westlichen Staaten ebnen – solange nicht große Teile der Bevölkerung auf der Strecke blieben. „Die Regenbogennation war ein Traum, den wir damals in Südafrika dringend brauchten. Aber heute brauchen wir einen neuen Traum.“ Und der, so Ayodele, müsse inklusiv und panafrikanisch sein.
Ethik der Digitalisierung – von Prinzipien zu Praktiken
Das internationale Forschungsprojekt „Ethik der Digitalisierung – von Prinzipien zu Praktiken“ will wegweisende Antworten auf die Herausforderungen im Spannungsfeld von Ethik und Digitalisierung entwickeln.
https://www.hiig.de/project/ethik-der-digitalisierung/