Wikimedia: „Digitalpolitik muss das Gemeinwohl fördern“

Mann im Anzug mit Textblasen und grafischen Elementen. Chatbot, künstliche Intelligenz im täglichen Leben Konzept. Vektor-Illustration.
Wikimedia: „Digitalpolitik muss das Gemeinwohl fördern“
Autorin: Elisabeth Krainer 21.03.2024

Wissen ist Macht – auch im Internet. Wie wird digitales Wissen also für alle zugänglich? Welche Heraus­forderungen gibt es, und was sollte die Digital­politik tun, um mehr Teilhabe zu ermöglichen? An einem Ort des Internets funktioniert das schon gut: bei der Organisation Wikimedia, die unter anderem den deutsch­sprachigen Teil von Wikipedia betreut. Dr. Christian Humborg, Vorstand von Wikimedia Deutschland, arbeitet mit über 100.000 Vereins­mitgliedern daran, digitales Wissen gerechter zu gestalten. Im Interview spricht Humborg über die Bedeutung von Wikipedia, Emotionen als Internet­währung und darüber, welche Rolle sowohl die Zivil­gesellschaft als auch die Politik spielen können, um für mehr Gemeinwohl zu sorgen.

Der Themenbereich Gerechtigkeit wird auch im Rahmen des Mercator Forums am 23. und 24. April 2024 eine Rolle spielen. Dann diskutiert Humborg mit anderen Expert*innen über die neuen Machtdynamiken der digitalen Transformation.

Wikipedia ist das größte Enzyklopädie-Projekt der Welt. Welche Rolle spielt die Plattform für das Weltwissen?

Ich glaube, Wikipedia hat große Bedeutung – und das sage ich mit Ehrfurcht, denn damit geht auch große Verantwortung einher. Wir sehen das zum Beispiel bei der Entwicklung neuer Technologien wie ChatGPT oder vor einigen Jahren bei Siri und Alexa: Dabei wurde zu großen Teilen auf Inhalte der Wikimedia-Projekte zurück­gegriffen, um die Large-Language-Models zu trainieren. Wikipedia ist eine der wichtigsten Quellen.

Dass wir so eine große Bedeutung haben, ist auch ein Vorteil. Denn wir verfolgen einen radikal offenen Ansatz, und das Wissen der Wikipedia unterliegt einem Peer-Review-Prozess.

Wieso ist das offene Prinzip so wichtig?

Es gibt keine Zugangs­barrieren, jede*r kann mitmachen. Für diesen Grundsatz hat die Wikipedia zu Gründungs­zeiten viel Gegenwind bekommen. Das Ergebnis dieses Prozesses hat aber bewiesen, dass das gut funktioniert. Zudem ist Wikipedia dezentral organisiert. Es gibt also keine Macht­instanz, die Regeln vorgibt. Die Qualität der Inhalte wird von Ehren­amtlichen gewähr­leistet. Wir unter­stützen sie lediglich dabei, zum Beispiel mit Recherche­material oder Reise­kosten, und versuchen, das Konzept nach außen hin sichtbar zu machen. Im Kern ist die Wikipedia aber ein selbst­organisiertes Projekt.

Christian Humborg, Wikimedia Deutschland e. V., Geschäftsführender Vorstand
© Lena Giovanazzi für Wikimedia Deutschland

Dr. Christian Humborg wuchs in Münster auf und promovierte an der Universität Potsdam in einem Fach­bereich der Betriebs­wirtschafts­lehre. Danach nahm er verschiedene Positionen bei der Deutschen Bahn, Scholz & Friends, Transparency Inter­national sowie beim gemein­nützigen Medien­unternehmen CORRECTIV ein. Humborg ist zudem einer der Initiator*innen des Transparenz­portals FragDenStaat, das die Informations­freiheit fördert. 2016 wechselte er zu Wikimedia Deutschland, seit 2021 ist er geschäfts­führender Vorstand gemeinsam mit Franziska Heine.

Als Vorstand der Wikimedia Deutschland setzen Sie sich für Wissens­gerechtigkeit ein. Wie sieht Ihre Arbeit aus?

Die Wikimedia ist eine globale Organisation, die aus unterschiedlichen Säulen besteht. Bei Wikimedia Deutschland kümmern wir uns um die Belange ehren­amtlicher Mitarbeiter*innen aus der deutschsprachigen Community der Wikipedia und tragen zusätzlich die globale Verantwortung für die weltweit größte offene Datenbank, die Wikidata. Außerdem setzen wir uns gemeinsam mit anderen Organisationen für freies Wissen auf politischer Ebene ein.

Wir stärken Demokratie

Wie kann die Verteilung von Wissen gerechter werden?

Wir fördern zum Beispiel Programme für marginalisiertes Wissen von Menschen, die meist in mehr­facher Hinsicht diskriminiert werden. Das Problem ist, dass die Quellen der Wikimedia-Projekte das Ergebnis von bereits ungleichen Verhältnissen der Wissens­produktion sind. Ein Beispiel: In Bibliotheken findet man mehr Biografien über Männer und weniger über Frauen, weil die Verhältnisse historisch andere waren als heute. Ist das etwas, was wir in Zukunft weiter­führen wollen? Nein. Dennoch wollen wir mit historisch akkuraten Quellen arbeiten. Hier gibt es also eine Wider­sprüchlichkeit, mit der wir umgehen müssen.

Mercator Forum „Digitale (Ohn-)Macht – Teilhabe und Zusammenhalt in der digitalisierten Gesellschaft“ am 23. und 24. April 2024

Die Digitalisierung bietet große Chancen für Teilhabe. Sie ermöglicht staatliche Transparenz, schafft neue Wege für Partizipation und vielfältige öffentliche Diskurse. Doch digitale Technologien werden nicht von allen Menschen gleichermaßen erfahren und können so Ungleichheiten verfestigen.

Herzlich laden wir ins Ruhrgebiet ein, um über Disziplinen und Sektoren hinweg zu diskutieren, Kontakte zu knüpfen und an der Vision einer gerechten, demokratischen und digitalisierten Gesellschaft zu arbeiten.
Bei unserem Forum sind noch einige Plätze verfügbar. Dr. Christian Humborg spricht dort gemeinsam mit Ferda Ataman, Dr. Meike Zehlike und Carla Hustedt über neue Machtdynamiken der Digitalen Transformation. Anmeldungen sind noch bis zum 4. April möglich.

Im Internet investiert der Staat keinen Cent, dort herrscht Kapitalismus pur.

Dr. Christian Humborg, Vorstand von Wikimedia Deutschland

Das Internet galt anfangs als demokratiefördernd. Heute wissen wir: Es gab Geburts­fehler, die falsch eingeschätzt wurden. Was können wir in Bezug auf aktuelle Entwicklungen davon lernen?

Ich würde nach wie vor die These vertreten, dass das Internet demokratie­fördernd sein kann. Aktuell sind wir in einer Situation, in der Emotionen und Empörung im Netz zu Interaktion führen und diese wiederum zu Werbe­einnahmen. Das ist die Logik von Unternehmen, natürlich auch von Big Tech. Das ist grund­sätzlich nicht verwerflich. Aber dadurch, dass Emotionen zur Währung wurden, ergibt sich die heutige Markt­dynamik. Wir sollten uns überlegen, ob wir dieses System wollen oder eher eines, in dem der gepflegtere Diskurs anstelle der Schreierei belohnt wird. Das gilt auch für Entwicklungen bezüglich KI.

Welche Hebel müssen jetzt in Bewegung gesetzt werden, um die demokratische Teilhabe an neuen Technologien wie KI oder in Zukunft dem Quantencomputer zu gewährleisten?

Viele Plattformen und Tech-Firmen sind in einer Art Wild-West-Situation groß geworden. Sie haben massen­haft Rechte verletzt. Das machen KI-Firmen heute zum Teil auch, indem sie zum Beispiel urheber­rechtlich geschützte Texte nutzen. Wenn neue Technologien auf den Markt kommen, dann wird häufig erst mal alles ausprobiert, solange die Politik zu langsam ist, zu reagieren. Diese Unternehmen sind dann irgendwann so groß, dass sie Regulierungs­maßnahmen aussitzen können. Es wäre schade, wenn wir diesen Fehler wiederholen würden. Außerdem ist Transparenz wichtig. Big-Tech-Konzerne geben so wenig Informationen wie möglich preis. Das sollte sich jetzt durch den Digital Services Act ändern.

Was kann die deutsche Digital­politik tun?

Sie sollte das Gemeinwohl in den Vordergrund stellen. Das Konzept gibt es im analogen Bereich auch: Wir haben Stadt­büchereien und Theater, also öffentliche, nicht privatisierte Orte, an denen Menschen zusammen­kommen. Im Digitalen investiert der Staat aber keinen Cent, dort herrscht Kapitalismus pur. Stellen Sie sich eine analoge Gesellschaft vor, in der es keine Theater, keine Büchereien mehr gibt. Das ist keine Welt, in der ich gerne leben möchte.

Wie wird sich der Wissensbegriff zukünftig verändern?

Die Art, wie Menschen Wissen konsumieren, verändert sich: Die Texte werden kürzer oder werden ersetzt durch andere Inhalte, das sehen wir bereits heute in Studien zum Onlinenutzungs­verhalten. Ich glaube, der Wissens­begriff selbst lässt sich nur diskursiv voran­treiben, das muss gemeinsam diskutiert werden. Wir arbeiten aktuell an Formaten, die den richtigen Rahmen dafür geben sollen.

Mercator Forum 2024

Das Mercator Forum 2024 widmet sich dem Thema „Digitale (Ohn-)Macht – Teilhabe und Zusammen­halt in der digitalisierten Gesellschaft“.

Die Geschäfts­modelle und die Dominanz einzelner großer Tech-Konzerne machen uns anfällig für Manipulation, schaffen neue Abhängigkeits­verhältnisse und schwächen damit nicht nur die europäische Wirtschaft, sondern auch unsere Demokratie. Kurzum: Das Macht­verhältnis zwischen Staat, Individuum und Unternehmen wird durch den digitalen Wandel fundamental verändert.