Stefaan Verhulst will mit Daten Gutes tun
Der Datenexperte Stefaan Verhulst ist überzeugt: Daten, die nicht geteilt werden, sind für die Gesellschaft wertlos. Deshalb plädiert er für deren freie Weitergabe an und Verwendung durch alle. Als Mitbegründer der Denkfabrik The Data Tank ist er fest davon überzeugt, dass dies der Schlüssel zu einer besseren Welt ist.
Wenn Stefaan Verhulst über Daten spricht, hat er einflussreiche Zuhörer*innen: beim Weltwirtschaftsforum, der Weltbank, der EU-Kommission, in UN-Organisationen oder bei zahlreichen privaten Unternehmen wie beispielsweise Microsoft. Seine Vision: Er will Daten für das Allgemeinwohl nützlich machen. Deshalb fordert und bewirbt Verhulst ihre Offenlegung durch Firmen, Institutionen oder Verbände und fördert ihren Austausch und ihre universelle Verwendung. Um nur zwei Beispiele seiner Vision zu nennen: Daten aus Handels- oder Finanztransaktionen können uns Informationen darüber liefern, wie wir Spielsucht bekämpfen, oder auch als Indikator für die wirtschaftliche Situation von Familien dienen. Mobilfunkdaten können wiederum helfen, Bewegungsmuster in Städten zu erkennen und die Stadtplanung zu verbessern.
Verhulst ist überzeugt, dass die Offenlegung von Daten unserer Gesellschaft guttun würde: mehr soziale Gerechtigkeit, weniger gesundheitliche Risiken, größerer Wohlstand für alle. Dafür hat er vor 20 Jahren The Governance Lab (GovLab) an der New York University mitgegründet. Das hat ihn zum Experten für die Nutzung von Daten und Technologien für soziale Zwecke gemacht. Sein Ziel: Menschen sollen nicht in Sorge vor Missbrauch auf die Nachteile der Datenverknüpfung schauen, sondern auf die Vorteile.
So funktionieren soziale Lizenzen für Daten
Mit der Organisation The Data Tank holt Verhulst die Debatte jetzt aus der Theorie des GovLab in die Praxis des Lebens – mitten in Europa. Die Einrichtung in Brüssel möchte ein Netzwerk kreieren, um die Vision von der Datenoffenlegung weiter voranzutreiben. Zudem will der Data Tank Menschen im kompetenten Umgang mit Daten weiterbilden – zum Nutzen aller und zum Schutz der Einzelnen. Aber: Viele Daten sind sensibel, zum Beispiel private oder gesundheitliche Daten. Dennoch sind sie für die Allgemeinheit wichtig, um größere Zusammenhänge zu verstehen. Würden wir aussagekräftige Daten stärker als bisher nutzen, hätte das enorm positive Auswirkungen auf alle Bereiche unserer Gesellschaft, sei es Gesundheit, Bildung, Mobilität und Klimaschutz, so Verhulst. Genau hier setzt der Data Tank an, schafft Experimentierräume, die sogenannten Social License Labs, um herauszufinden, was die Menschen sich wünschen, und um ihre Daten mit der Allgemeinheit zu teilen.
„Wir wollen ein völlig neues Konzept entwickeln, wie wir bei der Datennutzung neben der Zustimmung von Einzelpersonen auch die Präferenzen und Prioritäten der Allgemeinheit oder bestimmter Gruppen berücksichtigen können“, erklärt Verhulst. „Es ist wichtig, ein Gefühl dafür zu bekommen, was sich Einzelpersonen und Gruppen bei der Weiterverwendung ihrer Daten für die Allgemeinheit wünschen.“ Die Creative-Commons-Lizenz, bei der Urheber*innen anderen Menschen gestatten, ihre Musik, Bilder oder Texte unter bestimmten Bedingungen zu verwenden, hat die Open-Source- und Open-Data-Bewegung beeinflusst. Davon inspiriert, setzt sich Verhulst für eine neue Art von sozialer Lizenz für die Wieder- beziehungsweise Weiterverwendung von Daten ein. Außerdem sollen Besitzer*innen großer Datenmengen motiviert werden, ihre Daten preiszugeben. Sie hätten auch selbst etwas davon: Die Freigabe eigener Daten erlaubt nämlich Zugang zu fremden Daten. Eine Win-win-Situation: Am Ende soll es allen besser gehen.
Mit seinem Engagement hat sich Verhulst viel Einfluss verschafft. Ja, sicher, sagt er im Gespräch mit AufRuhr, irgendwer habe ihn zu einem der einflussreichsten Akademiker der Welt gekürt, wenn es um die Datennutzung für die Allgemeinheit gehe. „Aber wir wissen doch alle, dass wir solche Auszeichnungen nicht überbewerten dürfen.“ Von ungefähr kommen sie aber auch nicht, und Wirkung zeigen sie ebenfalls – auch bei dem 57-Jährigen. „Ich werde noch mehr eingeladen, Reden zu halten. Und das gibt mir die Gewissheit, dass meine Botschaft tatsächlich eine Bedeutung hat“, sagt er.
Doch mit der Verbreitung seiner Botschaft sieht Verhulst seine Aufgaben keineswegs als erledigt an. Im Gegenteil spürt der Belgier eine Verantwortung, die Dinge auch anzupacken, Lösungen zu entwickeln, Vorschläge zu machen. So wie den, die Daten privater Beförderungsunternehmen für alle zugänglich zu machen. Mithilfe dieser Bewegungsdaten könnten Volkswirtschaften Abermilliarden Euro oder US-Dollar sparen. Der Verkehr könnte staufrei geleitet, die Produktivität der Wirtschaft erhöht werden.
Dass das nicht abwegig ist, zeigt sich beispielsweise heute schon in den USA. Dort hat sich im Gesundheitssektor die Accelerating Medicines Partnership (AMP) etabliert: Die National Institutes of Health (NIH), die Food and Drug Administration (FDA) sowie mehrere Pharmaunternehmen und gemeinnützige Organisationen haben sich darauf geeinigt, ihre Daten untereinander offenzulegen. Alle Beteiligten stellen dafür ihre Daten für die medizinische Forschungsgemeinschaft über Onlineportale bereit. Dieser Informationsaustausch kann in Zukunft dabei helfen, Pandemien zu verhindern und die Forschung zu verschiedenen Krankheiten zu verbessern.
Kosten senken durch Datennutzung
Auch in Europa wird schon geteilt. In Finnland gibt es eine Onlineplattform, die Daten über die Beschaffenheit von privaten Waldgebieten des Landes aufbereitet. Das Finnische Forstzentrum macht Luftaufnahmen oder Ergebnisse von Laserscanning und Stichprobenmessungen zugänglich. Die kostenlose Plattform richtet sich insbesondere an Waldbesitzer*innen, Regierungsvertreter*innen, Unternehmer*innen und andere, deren Entscheidungen vom Zugang zu aktuellen Situationsanalysen der finnischen Wälder profitieren. Die Kosten der Waldbewirtschaftung konnten deutlich gesenkt werden – ein dicker Brocken für die finnische Wirtschaft. 60 Prozent der Waldgebiete des Landes sind privat.
„Daten haben keinen Wert, wenn sie nicht geteilt werden“, sagt Verhulst, der sich durch diese positiven Beispiele bestätigt fühlt. Diese These mag provozieren, weil sie dem Zeitgeist demokratischer Gesellschaften widerspricht: Privatsphäre über allem. Bloß nicht dem Staat eine Grundlage bieten, auf der dieser die freiheitlichen Bürger*innenrechte einschränken kann – auch keine datenbasierte.
Erst Daten geben unserer Welt einen Sinn.
Verhulst versteht diese Sorgen. Sie seien sogar berechtigt, weil immer wieder Daten missbraucht würden. Doch er hält die Nichtanwendung von Daten für das größere Übel: „Wir müssen Wege finden, um einen vertrauensvollen Umgang garantieren zu können“, sagt er.
Sein Lebensmittelpunkt New York motiviert ihn täglich, seine Arbeit für das Allgemeinwohl unermüdlich fortzusetzen. In der Stadt prallen soziale Ungleichheiten so dicht aufeinander, dass er sie nicht übersehen kann. Die Pandemie hat die Probleme noch verschlimmert. Nach deren Ausbruch ging das Bürgermeisterbüro deshalb einen Schritt in Richtung datenbasiertes Regieren und übernahm das Konzept des GovLab.
Im Rahmen der NYC Recovery Data Partnership ermutigte die Stadt private und zivilgesellschaftliche Organisationen, relevante Daten, wie sich COVID-19 in Echtzeit auf die Stadt auswirkt, mit den Behörden zu teilen. Eine ausgewählte Gruppe hochrangiger Führungskräfte der Verwaltung fungierten als Vermittler*innen und leitete die Daten, etwa Anträge auf Arbeitslosenversicherungen bei Anfragen von Behörden, zur Nutzung weiter. Damit konnten die Ämter auf Basis breiter Datenmengen bessere politische Entscheidungen für die Entwicklung der Metropole treffen.
Die wichtigste Neuerung in diesem Prozess: eine Bürgerversammlung über die Weiterverwendung von Daten, an der öffentliche Interessengruppen und New Yorker Bürger*innen teilgenommen haben. Sie stimmten gemeinsam darüber ab, unter welchen Bedingungen ihre Daten im Rahmen des Krisenmanagements weiterverwendet werden sollten. Welche Zwecke wurden als angemessen erachtet? Wer sollte Zugang bekommen? Welche Methoden würden die Vertrauenswürdigkeit erhöhen? Dadurch wurde sowohl das Vertrauen der New Yorker Bürger*innen gestärkt als auch der Stadt eine „soziale Lizenz“ für die Weiterverwendung der Daten erteilt.
Für Verhulst und das GovLab bedeutete dies eine Bestätigung ihrer Arbeit. Denn das Lab war für ihn nie eine Geschäftsidee, sondern die Verwirklichung eines Traumes, der ihn seit Jugendtagen begleitet hat. Er wollte nie Gewinne maximieren, sondern der Allgemeinheit ein Werkzeug an die Hand geben, um ihre Ressourcen besser zu nutzen.
Als Philosoph in die Welt der Daten
Als junger Mensch wollte Verhulst Filmemacher werden. Er war fasziniert von der Idee, eine Art Mediator zu sein für neue Perspektiven, also ein Vermittler in einem Kommunikationsprozess – sei es durch Dokumentation oder Fiktion. Letzten Endes entschied er sich aber für eine akademische Laufbahn, weil er sich in diesem Bereich noch mehr als Mediator fühlte.
Er promovierte in Kommunikationswissenschaften und studierte dazu noch Politik und Philosophie. Bis heute laufen für ihn in der Liebe zur Weisheit, also der Philosophie, alle Fäden zusammen. „Erst Daten geben unserer Welt einen Sinn. Und wir müssen uns fragen, ob wir selbst die Daten sind oder ob wir als Menschen von Daten bestimmt werden“, sinniert der Wissenschaftler.
Weglaufen könnten wir vor Daten ohnehin nicht, meint er. Sie steckten in jeder Beobachtung, in jeder Unterhaltung. „Wo lebst du, und seit wann?“ „Wann gehst du morgens zur Arbeit? Wie lang bist du unterwegs?“ Datenabfrage, Datenverarbeitung, Datenspeicherung – das ist ein konstanter Prozess. Und Daten sind ein Werkzeug, um Perspektiven zu wechseln und Entscheidungen zu generieren, die allen helfen: „Ich hol dich morgen ab, und übermorgen fährst du.“
In seinem Leben wechselt Verhulst ständig die Perspektive. In Belgien geboren, zog es ihn nach Schottland, dann viele Jahre nach London und schließlich im Jahr 2001, gemeinsam mit seiner Frau, nach New York. Neben der belgischen besitzt er nun auch die US-Staatsbürgerschaft. Er pendelt zwischen Brüssel und New York, und er spürt immer wieder den Drang, von der anderen Seite herüberzuschauen, wenn er zu lange am selben Ort ist. „In gewisser Weise bin ich entwurzelt. Aber ich empfinde diesen steten Perspektivenwechsel als enormen Gewinn für mein Leben.“
The Data Tank
The Data Tank in Brüssel soll Daten für die Allgemeinheit nutzbar machen. Wenn qualitativ hochwertige, relevante und vertrauenswürdige Daten beschafft, zugänglich gemacht und verantwortungsvoll weiterverwendet werden, können sie uns allen helfen, besser informierte Entscheidungen zu treffen. Aus diesem Grund gibt es The Data Tank. Er ist kein reiner Thinktank, sondern ein „Think and Do Tank“, der diese Vision in die Realität umsetzt.