Stefaan Verhulst will mit Daten Gutes tun

Stefaan Verhulst
Stefaan Verhulst will mit Daten Gutes tun
Autor: Marcel Grzanna 15.08.2023

Der Datenexperte Stefaan Verhulst ist überzeugt: Daten, die nicht geteilt werden, sind für die Gesellschaft wertlos. Deshalb plädiert er für deren freie Weiter­gabe an und Verwendung durch alle. Als Mitbegründer der Denkfabrik The Data Tank ist er fest davon überzeugt, dass dies der Schlüssel zu einer besseren Welt ist.

Wenn Stefaan Verhulst über Daten spricht, hat er einflussreiche Zuhörer*innen: beim Welt­wirtschafts­forum, der Weltbank, der EU-Kommission, in UN-Organisationen oder bei zahlreichen privaten Unternehmen wie beispiels­weise Microsoft. Seine Vision: Er will Daten für das Allgemein­wohl nützlich machen. Deshalb fordert und bewirbt Verhulst ihre Offen­legung durch Firmen, Institutionen oder Verbände und fördert ihren Austausch und ihre universelle Verwendung. Um nur zwei Beispiele seiner Vision zu nennen: Daten aus Handels- oder Finanz­transaktionen können uns Informationen darüber liefern, wie wir Spielsucht bekämpfen, oder auch als Indikator für die wirtschaftliche Situation von Familien dienen. Mobil­funk­daten können wiederum helfen, Bewegungs­muster in Städten zu erkennen und die Stadt­planung zu verbessern.

Verhulst ist überzeugt, dass die Offenlegung von Daten unserer Gesellschaft guttun würde: mehr soziale Gerechtigkeit, weniger gesundheitliche Risiken, größerer Wohlstand für alle. Dafür hat er vor 20 Jahren The Governance Lab (GovLab) an der New York University mit­gegründet. Das hat ihn zum Experten für die Nutzung von Daten und Technologien für soziale Zwecke gemacht. Sein Ziel: Menschen sollen nicht in Sorge vor Missbrauch auf die Nachteile der Daten­verknüpfung schauen, sondern auf die Vorteile.

So funktionieren soziale Lizenzen für Daten

Mit der Organisation The Data Tank holt Verhulst die Debatte jetzt aus der Theorie des GovLab in die Praxis des Lebens – mitten in Europa. Die Einrichtung in Brüssel möchte ein Netzwerk kreieren, um die Vision von der Daten­offen­legung weiter voran­zu­treiben. Zudem will der Data Tank Menschen im kompetenten Umgang mit Daten weiter­bilden – zum Nutzen aller und zum Schutz der Einzelnen. Aber: Viele Daten sind sensibel, zum Beispiel private oder gesundheitliche Daten. Dennoch sind sie für die Allgemeinheit wichtig, um größere Zusammen­hänge zu verstehen. Würden wir aussage­kräftige Daten stärker als bisher nutzen, hätte das enorm positive Auswirkungen auf alle Bereiche unserer Gesellschaft, sei es Gesundheit, Bildung, Mobilität und Klima­schutz, so Verhulst. Genau hier setzt der Data Tank an, schafft Experimentier­räume, die sogenannten Social License Labs, um heraus­zu­finden, was die Menschen sich wünschen, und um ihre Daten mit der Allgemeinheit zu teilen.

Datenexperte Stefaan Verhulst
Die Welt anders sehen dank Daten? Datenexperte Stefaan Verhulst hat einen Blick dafür, wie es in der Welt anders laufen könnte, wenn alle von erhobenen Daten profitieren könnten. © Jennifer S. Altman

„Wir wollen ein völlig neues Konzept entwickeln, wie wir bei der Daten­nutzung neben der Zustimmung von Einzel­personen auch die Präferenzen und Prioritäten der Allgemeinheit oder bestimmter Gruppen berücksichtigen können“, erklärt Verhulst. „Es ist wichtig, ein Gefühl dafür zu bekommen, was sich Einzel­personen und Gruppen bei der Weiter­verwendung ihrer Daten für die Allgemein­heit wünschen.“ Die Creative-Commons-Lizenz, bei der Urheber*innen anderen Menschen gestatten, ihre Musik, Bilder oder Texte unter bestimmten Bedingungen zu verwenden, hat die Open-Source- und Open-Data-Bewegung beeinflusst. Davon inspiriert, setzt sich Verhulst für eine neue Art von sozialer Lizenz für die Wieder- beziehungs­weise Weiter­verwendung von Daten ein. Außerdem sollen Besitzer*innen großer Daten­mengen motiviert werden, ihre Daten preis­zu­geben. Sie hätten auch selbst etwas davon: Die Freigabe eigener Daten erlaubt nämlich Zugang zu fremden Daten. Eine Win-win-Situation: Am Ende soll es allen besser gehen.

Mit seinem Engagement hat sich Verhulst viel Einfluss verschafft. Ja, sicher, sagt er im Gespräch mit AufRuhr, irgendwer habe ihn zu einem der einfluss­reichsten Akademiker der Welt gekürt, wenn es um die Daten­nutzung für die Allgemeinheit gehe. „Aber wir wissen doch alle, dass wir solche Auszeichnungen nicht über­bewerten dürfen.“ Von ungefähr kommen sie aber auch nicht, und Wirkung zeigen sie ebenfalls – auch bei dem 57-Jährigen. „Ich werde noch mehr eingeladen, Reden zu halten. Und das gibt mir die Gewissheit, dass meine Botschaft tatsächlich eine Bedeutung hat“, sagt er.

Doch mit der Verbreitung seiner Botschaft sieht Verhulst seine Aufgaben keineswegs als erledigt an. Im Gegenteil spürt der Belgier eine Verantwortung, die Dinge auch anzupacken, Lösungen zu entwickeln, Vorschläge zu machen. So wie den, die Daten privater Beförderungs­unternehmen für alle zugänglich zu machen. Mithilfe dieser Bewegungsdaten könnten Volks­wirtschaften Abermilliarden Euro oder US-Dollar sparen. Der Verkehr könnte staufrei geleitet, die Produktivität der Wirtschaft erhöht werden.

Dass das nicht abwegig ist, zeigt sich beispielsweise heute schon in den USA. Dort hat sich im Gesundheitssektor die Accelerating Medicines Partnership (AMP) etabliert: Die National Institutes of Health (NIH), die Food and Drug Administration (FDA) sowie mehrere Pharma­unternehmen und gemein­nützige Organisationen haben sich darauf geeinigt, ihre Daten unter­einander offen­zu­legen. Alle Beteiligten stellen dafür ihre Daten für die medizinische Forschungs­gemeinschaft über Online­portale bereit. Dieser Informations­austausch kann in Zukunft dabei helfen, Pandemien zu verhindern und die Forschung zu verschiedenen Krankheiten zu verbessern.

Stefaan Verhulst in seinem Zuhause
Stefaan Verhulst in seinem Zuhause in Brooklyn. Der Datenexperte sammelt Holzschnitte der „Les Cinq“, einer Gruppe belgischer Künstler um Frans Masereel. Masereel stellte in seinen Werken oft die Verlorenheit der Einzelnen in modernen Gesellschaften dar und zeigte Auswege und Handlungsmöglichkeiten auf. Verhulst fühlt sich dem Künstler nah. © Jennifer S. Altman
Stefaan Verhulst
© Jennifer S. Altman

Kosten senken durch Datennutzung

Auch in Europa wird schon geteilt. In Finnland gibt es eine Online­plattform, die Daten über die Beschaffenheit von privaten Wald­gebieten des Landes aufbereitet. Das Finnische Forst­zentrum macht Luft­aufnahmen oder Ergebnisse von Laser­scanning und Stich­proben­messungen zugänglich. Die kostenlose Plattform richtet sich insbesondere an Wald­besitzer*innen, Regierungs­vertreter*innen, Unternehmer*innen und andere, deren Entscheidungen vom Zugang zu aktuellen Situations­analysen der finnischen Wälder profitieren. Die Kosten der Wald­bewirtschaftung konnten deutlich gesenkt werden – ein dicker Brocken für die finnische Wirtschaft. 60 Prozent der Wald­gebiete des Landes sind privat.

„Daten haben keinen Wert, wenn sie nicht geteilt werden“, sagt Verhulst, der sich durch diese positiven Beispiele bestätigt fühlt. Diese These mag provozieren, weil sie dem Zeitgeist demokratischer Gesellschaften widerspricht: Privat­sphäre über allem. Bloß nicht dem Staat eine Grund­lage bieten, auf der dieser die freiheitlichen Bürger*innen­rechte einschränken kann – auch keine daten­basierte.

Erst Daten geben unserer Welt einen Sinn.

Stefaan Verhulst

Verhulst versteht diese Sorgen. Sie seien sogar berechtigt, weil immer wieder Daten missbraucht würden. Doch er hält die Nicht­anwendung von Daten für das größere Übel: „Wir müssen Wege finden, um einen vertrauens­vollen Umgang garantieren zu können“, sagt er.

Sein Lebensmittelpunkt New York motiviert ihn täglich, seine Arbeit für das Allgemeinwohl unermüdlich fortzusetzen. In der Stadt prallen soziale Ungleichheiten so dicht aufeinander, dass er sie nicht übersehen kann. Die Pandemie hat die Probleme noch verschlimmert. Nach deren Ausbruch ging das Bürgermeister­büro deshalb einen Schritt in Richtung datenbasiertes Regieren und übernahm das Konzept des GovLab.

Stefaan Verhulst
Stefaan Verhulst träumt von einer Welt, in der alle von Daten profitieren können. Gerade in Europa gibt es noch viel Potenzial. © Jennifer S. Altman

Im Rahmen der NYC Recovery Data Partnership ermutigte die Stadt private und zivil­gesellschaftliche Organisationen, relevante Daten, wie sich COVID-19 in Echtzeit auf die Stadt auswirkt, mit den Behörden zu teilen. Eine ausgewählte Gruppe hochrangiger Führungs­kräfte der Verwaltung fungierten als Vermittler*innen und leitete die Daten, etwa Anträge auf Arbeits­losen­versicherungen bei Anfragen von Behörden, zur Nutzung weiter. Damit konnten die Ämter auf Basis breiter Datenmengen bessere politische Entscheidungen für die Entwicklung der Metropole treffen.

Die wichtigste Neuerung in diesem Prozess: eine Bürger­versammlung über die Weiter­verwendung von Daten, an der öffentliche Interessen­gruppen und New Yorker Bürger*innen teil­genommen haben. Sie stimmten gemeinsam darüber ab, unter welchen Bedingungen ihre Daten im Rahmen des Krisen­managements weiter­verwendet werden sollten. Welche Zwecke wurden als angemessen erachtet? Wer sollte Zugang bekommen? Welche Methoden würden die Vertrauens­würdigkeit erhöhen? Dadurch wurde sowohl das Vertrauen der New Yorker Bürger*innen gestärkt als auch der Stadt eine „soziale Lizenz“ für die Weiter­verwendung der Daten erteilt.

Für Verhulst und das GovLab bedeutete dies eine Bestätigung ihrer Arbeit. Denn das Lab war für ihn nie eine Geschäfts­idee, sondern die Verwirklichung eines Traumes, der ihn seit Jugend­tagen begleitet hat. Er wollte nie Gewinne maximieren, sondern der Allgemeinheit ein Werkzeug an die Hand geben, um ihre Ressourcen besser zu nutzen.

Als Philosoph in die Welt der Daten

Als junger Mensch wollte Verhulst Filme­macher werden. Er war fasziniert von der Idee, eine Art Mediator zu sein für neue Perspektiven, also ein Vermittler in einem Kommunikations­prozess – sei es durch Dokumentation oder Fiktion. Letzten Endes entschied er sich aber für eine akademische Laufbahn, weil er sich in diesem Bereich noch mehr als Mediator fühlte.

Er promovierte in Kommunikations­wissenschaften und studierte dazu noch Politik und Philosophie. Bis heute laufen für ihn in der Liebe zur Weisheit, also der Philosophie, alle Fäden zusammen. „Erst Daten geben unserer Welt einen Sinn. Und wir müssen uns fragen, ob wir selbst die Daten sind oder ob wir als Menschen von Daten bestimmt werden“, sinniert der Wissenschaftler.

Weglaufen könnten wir vor Daten ohnehin nicht, meint er. Sie steckten in jeder Beobachtung, in jeder Unterhaltung. „Wo lebst du, und seit wann?“ „Wann gehst du morgens zur Arbeit? Wie lang bist du unterwegs?“ Datenabfrage, Datenverarbeitung, Daten­speicherung – das ist ein konstanter Prozess. Und Daten sind ein Werkzeug, um Perspektiven zu wechseln und Entscheidungen zu generieren, die allen helfen: „Ich hol dich morgen ab, und übermorgen fährst du.“

In seinem Leben wechselt Verhulst ständig die Perspektive. In Belgien geboren, zog es ihn nach Schottland, dann viele Jahre nach London und schließlich im Jahr 2001, gemeinsam mit seiner Frau, nach New York. Neben der belgischen besitzt er nun auch die US-Staats­bürgerschaft. Er pendelt zwischen Brüssel und New York, und er spürt immer wieder den Drang, von der anderen Seite herüber­zuschauen, wenn er zu lange am selben Ort ist. „In gewisser Weise bin ich entwurzelt. Aber ich empfinde diesen steten Perspektivenwechsel als enormen Gewinn für mein Leben.“


The Data Tank

The Data Tank in Brüssel soll Daten für die Allgemein­heit nutzbar machen. Wenn qualitativ hochwertige, relevante und vertrauens­würdige Daten beschafft, zugänglich gemacht und verantwortungs­voll weiter­verwendet werden, können sie uns allen helfen, besser informierte Entscheidungen zu treffen. Aus diesem Grund gibt es The Data Tank. Er ist kein reiner Thinktank, sondern ein „Think and Do Tank“, der diese Vision in die Realität umsetzt.

www.datatank.org