Digitale
Zukünfte entwickeln

Digitale
Zukünfte entwickeln
Autorin: Anastasia Zejneli Fotos: Rachel Israela 29.11.2022

Wem stehen digitale Räume offen, und welchen Gruppen werden sie verwehrt? Diese Fragen stellen sich die Gründerinnen Julia Kloiber und Elisa Lindinger. Im SUPERRR Lab gestalten sie Zukunfts­visionen für die Gesellschaft.

Julia Kloiber und Elisa Lindinger stehen an einem langen Stehtisch in ihrem Büro am Moritz­platz. An den Scheiben des ehemaligen Laden­lokals laufen Passant*innen mit Regen­schirmen vorbei. Ein Schauer ist plötzlich über den Berliner Kiez Kreuzberg gezogen. Die beiden Gründerinnen schauen nur kurz nach draußen und wenden sich wieder Abir Ghattas zu: Ghattas ist Direktorin der Menschen­rechts­organisation Human Rights Watch. Zusammen mit dem SUPERRR Lab möchte sie eine Finanzierung für ein Neben­projekt namens HammamRadio, ein feministisches Online­radio, beantragen.

Auf Englisch tauschen sie sich über passende Beschreibungen für das Projekt aus. Während sich Julia Kloiber immer wieder durch die kurzen Haare fährt und gebannt auf den Bildschirm vor ihnen schaut, schreibt Elisa Lindinger Ideen in ihrem Notizbuch mit. Sie machen Witze und unter­stützen sich gegenseitig dabei, ihre Ideen weiter­zu­entwickeln.

Teamarbeit muss auch persönlich sein

Julia Kloiber und Elisa Lindinger sind Gründerinnen, die ihren Mitarbeitenden und Kolleg*innen auf Augen­höhe begegnen. Mit der Organisations­entwicklerin Bettina Rollow arbeiten sie gerade daran, eine feministische Führungs­kultur und Strukturen zu entwickeln, in denen sich alle Team­mitglieder entfalten und gut zusammen­arbeiten können. „Ein Teil unseres wöchentlichen Team-Check-ins ist, dass wir uns besser kennen­lernen und uns über unsere Lieblings­themen austauschen: Welche Pflanzen habt ihr auf dem Balkon, oder was ist euer Lieblings­computer­spiel? Uns gehen die Fragen bisher nicht aus“, erzählt Elisa Lindinger. Beide sind sich sicher, dass eine gute Zusammen­arbeit nicht ohne ein fundiertes Verständnis füreinander funktioniert.

Julia Kloiber macht sich während des Gesprächs Notizen. Gemeinsam arbeiten sie an einem Finanzierungsantrag.
Julia Kloiber macht sich während des Gesprächs Notizen. Gemeinsam arbeiten sie an einem Finanzierungsantrag. © Rachel Israela

Schon vor der Gründung von SUPERRR Lab im Februar 2019 arbeiteten die beiden Frauen zusammen. Gemeinsam leiteten sie den Prototype Fund, ein Förder­programm für gemein­wohl­orientierte Technologie. Bei der gemein­nützigen Organisation Open Knowledge Foundation Deutschland traf Elisa Lindinger auf Julia Kloiber, die sich schon seit mehreren Jahren für den Verein engagiert. Beiden war bei ihrer vorherigen Arbeit im Bereich „Digital Rights“ aufgefallen, dass sich zivil­gesellschaftliche Organisationen stark darauf fokussieren, Schaden abzuwenden, indem sie sich zum Beispiel gegen Überwachung und für mehr Datenschutz einsetzen. Der Fokus auf Aufklärungs- und „Watchdog“-Arbeit hat aber zur Folge, dass wenig Zeit bleibt, wünschens­werte Zukünfte zu skizzieren. „Für uns gab es eine Leer­stelle bezüglich der Zukunft. Wir haben uns gefragt, wo wir mit der Digitalisierung hinwollen und für welche Gesellschaft wir diese Zukunfts­entwürfe imaginieren. Wenn man immer nur im Abwehrmodus ist, dann kommt dieser Teil schnell zu kurz.“

Ihnen fehlte in den Organisationen, deren Führungs­ebene oft akademisch und männlich geprägt ist, die Arbeit, die inter­sektional-feministische Ansätze und unter­repräsentierte Gruppen miteinbezieht. „Für uns ist es wichtig, mit Gruppen und Organisationen weit über die üblichen homogenen Akteure hinaus zu arbeiten“, betont Elisa Lindinger. Zivil­gesellschaftliche Organisationen agierten oft unter prekären Arbeits­bedingungen und seien oft nicht sehr divers. Befristete Verträge, schlechte Bezahlung und wenige Weiter­bildungs­möglichkeiten seien oft die Norm, kritisiert Julia Kloiber. Sie wollen mit diesen veralteten Strukturen brechen und mit SUPERRR Lab eine Organisation aufbauen, die feministische Werte wie Fürsorge, Gerechtigkeit und Kollaboration auch nach innen lebt.

Im Büro am Moritzplatz arbeiten die beiden Gründerinnen und ihr Team an ihren Visionen. Sie nutzen den Raum auch als Veranstaltungsort.
Im Büro am Moritzplatz arbeiten die beiden Gründerinnen und ihr Team an ihren Visionen. Sie nutzen den Raum auch als Veranstaltungsort. © Rachel Israela

Zukunftsvisionen gegen Diskriminierung

Im SUPERRR Lab kümmert sich Elisa Lindinger um die Administration und tiefergehende Recherchen, während Julia Kloiber für die Projekt­koordination und Akquise zuständig ist. Konzepte, Themen und Projekte entwickelt das Team gemeinsam. Die Projekte, die sie in den letzten drei Jahren gemeinsam umgesetzt haben, sind vielfältig: Sie fördern mit Stipendien Visionär*innen, die zu digitalen Zukünften arbeiten, und thematisieren in Publikationen verschiedene Zukunfts­visionen für die digitale Zivil­gesellschaft und darüber hinaus. Außerdem veröffentlichten sie ein Poster und ein Kartenspiel, das sich mit feministischen Ansätzen im Bereich „Tech Policy“ beschäftigt.

Momentan arbeiten die beiden Frauen an Methoden für zivil­gesellschaftliche Organisationen zum Thema „Foresight“. Sie wollen es für Organisationen einfacher machen, neue Narrative zu entwerfen und über den Status quo hinaus wünschens­werte Alternativen zu skizzieren. Damit möchten sie die Leer­stelle füllen, die sie in ihrer früheren Arbeit fest­gestellt haben: Damit die Zivil­gesellschaft wirksam handeln kann, darf sie nicht nur reaktiv und abwehrend handeln, sondern braucht eigene Leitbilder, auf die sie hinarbeitet.

Die NGO ist erfolgreich: SUPERRR Lab erhielt 2021 den Gender Design Award IphiGenia in der Kategorie „Revolution“.
Die NGO ist erfolgreich: SUPERRR Lab erhielt 2021 den Gender Design Award IphiGenia in der Kategorie „Revolution“. © Rachel Israela
Über der kleinen Teeküche hängt ein Bücherregal mit feministischer Literatur.
Über der kleinen Teeküche hängt ein Bücherregal mit feministischer Literatur. © Rachel Israela

Ein weiteres Projekt ist ein Framework, mit dem Risiken von Technologien gesamt­gesellschaftlich abgeschätzt werden können. SUPERRR Lab versucht heraus­zu­finden, wie sich neue Technologien auf Fragen der Chancen­gerechtigkeit oder Ungleichheit in der Gesellschaft auswirken können. Denn erst wenn man die systematischen Ursachen von Diskriminierung begreift, kann man sie auch bekämpfen.

Die 36-jährige Österreicherin Julia Kloiber beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit den Themen Open Data und Open Government. „Sie war eine der ersten Personen, die das Thema vor zehn Jahren in Deutschland auf die politische Agenda gesetzt hat“, erzählt ihre Mitgründerin Elisa Lindinger. Julia Kloiber, die an der Grenze zu Ungarn und Slowenien aufwuchs, machte 2005 ihren Bachelor in Design. „Mich hat Gestaltung und die Frage, wie man komplexe Themen so kommuniziert, dass sie mehr Menschen zugänglich werden, schon immer interessiert, doch in die klassische Werbebranche wollte ich nicht.“ Stattdessen setzte sie sich mit gesellschaftlichen Themen auseinander und damit, wie Design – außerhalb von ästhetischen Kategorien – diese gestalten kann.

Abir Gattas möchte mit dem SUPERRR Lab eine Finanzierung für ein feministisches Onlineradio beantragen. Gemeinsam besprechen sie erste Details im Büro.
Abir Gattas möchte mit dem SUPERRR Lab eine Finanzierung für ein feministisches Onlineradio beantragen. Gemeinsam besprechen sie erste Details im Büro. © Rachel Israela
SUPERRR Lab will den digitalen Raum gerechter gestalten.
SUPERRR Lab will den digitalen Raum gerechter gestalten. © Rachel Israela

Feministische Diskurse an der Universität

Dabei prägten sie besonders ihre Eltern, die neben ihrer Arbeit in ihrem kleinen österreichischen Dorf einen Weltladen eröffneten und mit ihren Kindern für ein Jahr nach Guatemala gingen. An der Universität bemerkten Professor*innen ihr Interesse für Gerechtigkeits­fragen und beschäftigte sich auf deren Empfehlungen hin mit feministischer Literatur und Diskursen. „Ich hatte immer viel Neugierde für Themen an den Schnitt­stellen. Unterschiedliche Debatten und Fachbereiche miteinander auf kreative Art und Weise zu verbinden, das erfüllte mich“, blickt Julia Kloiber auf ihre Studienzeit zurück.

Dieser Wissensdrang brachte sie zu einem feministischen Film-Distributor namens Women Make Movies in New York, zu einer Agentur für politische Kommunikation in Berlin und für das Masterstudium nach Utrecht. Dort begann sie sich für netz­politische Themen und Open Data zu interessieren.

Während sich im netzpolitischen Bereich viele Debatten gegen etwas richten – die Ablehnung von Daten­speicherung und Über­wachung zum Beispiel –, sah Julia Kloiber im Thema „offene Daten“ das Potenzial, etwas für die Gesellschaft zu schaffen. Die Motivation, selbst aktiv zu sein, brachte sie zur Open Knowledge Foundation. Für sie ist SUPERRR Lab ein Gestaltungsraum, den sie mit eigenen Themen bespielen kann. „Auch wenn wir noch einiges zu tun haben, damit unsere Arbeit im Mainstream landet“, gibt sie zu.

Julia Kloiber und Elisa Lindinger sprechen über ihre Projekte und Visionen. Sie sitzen am großen Gemeinschaftstisch im Büro.
Julia Kloiber und Elisa Lindinger sprechen über ihre Projekte und Visionen. Sie sitzen am großen Gemeinschaftstisch im Büro. © Rachel Israela

Fehlende Repräsentationen aufzeigen

Auch Elisa Lindinger stört die fehlende Repräsentation vieler Gruppen in der Tech-Branche. Für sie sei SUPERR Lab die Möglichkeit, auf diese anhaltenden Missstände aufmerksam zu machen, denn es gebe weiterhin Räume im Digitalen, die nicht zugänglich seien.

Die gebürtige Bayerin studierte Archäologie in Erlangen und begann sich schnell für Klassifikations­fragen und die Verarbeitung von größeren Daten­mengen zu interessieren. Nach ihrem Studium nutzte sie maschinelle Lern­verfahren, um archäologische Daten auf­zu­arbeiten. Schon immer suchte sie in ihrer Arbeit nach der nächsten Heraus­forderung. „Über die Ergebnisse der KI-Versuche möchte ich mal nicht reden, aber ich arbeitete damit, bevor es cool wurde“, erzählt sie und lacht. Sie blieb der Universität auch nach ihrem Abschluss treu und brachte in inter­disziplinären Teams mit Informatiker*innen und Vermesser*innen daten­getriebene Projekte voran.

Für sie war die Zusammenarbeit trotz der Personen aus vielen unter­schiedlichen Bereichen immer „extrem schön, da wir den Freiraum hatten, uns im Team aus­zu­probieren“. Doch auf lange Sicht waren ihr die Effekte, die ihre Arbeit in der Wissenschaft hatten, nicht nachhaltig genug. Sie wollte mit ihrem Schaffen schneller einen messbaren Einfluss erzielen. Diese Möglichkeit gibt ihr die Arbeit bei SUPERR Lab.

Macht abgeben

Nach drei erfolgreichen Jahren mit vielen Events und Publikationen beschäftigen sich die beiden Gründerinnen nun verstärkt mit ihrer eigenen Organisations­struktur. Sie wissen, dass gesellschaftliche Veränderungen, die sie mit ihrem Lab anstreben, auch bei ihnen stattfinden müssen. „Als weiße Frauen an der Spitze des Labs arbeiten wir daran, Macht abzugeben“, erzählt Julia Kloiber. Es gehe ihnen nicht darum, das Team zu führen, sondern gemeinsam Hierarchien abzubauen.

Oft helfen ihnen dabei Gespräche mit anderen Gründer*innen aus der Tech-Branche. Doch auch der Blick aus der eigenen Blase heraus ist ihnen wichtig. Schon vor der eigentlichen Gründung des Labs trafen sich cis und trans Frauen, LGBTQI+ und nicht binäre Menschen aus verschiedenen Bereichen unter dem Netz­werk­namen „Superrr“, um sich aus­zu­tauschen. Für Elisa Lindinger und Julia Kloiber ein wichtiger Teil ihrer Arbeit – „denn nur, wenn wir mit anderen Personen im Austausch bleiben, denken wir sie in unseren Zukünften mit“.


SUPERRR Lab

SUPERRR Lab setzt sich schon seit 2019 für einen Paradigmen­wechsel hin zu einer inter­sektional-feministischen Digital­politik ein. Diese begegnet den aktuellen Heraus­forderungen, indem sie Grund­rechte in den Mittel­punkt rückt und für Transparenz, Mitgestaltung und Zukunfts­fähigkeit einsteht.

superrr.net/