Digitale
Zukünfte entwickeln
Zukünfte entwickeln
Wem stehen digitale Räume offen, und welchen Gruppen werden sie verwehrt? Diese Fragen stellen sich die Gründerinnen Julia Kloiber und Elisa Lindinger. Im SUPERRR Lab gestalten sie Zukunftsvisionen für die Gesellschaft.
Julia Kloiber und Elisa Lindinger stehen an einem langen Stehtisch in ihrem Büro am Moritzplatz. An den Scheiben des ehemaligen Ladenlokals laufen Passant*innen mit Regenschirmen vorbei. Ein Schauer ist plötzlich über den Berliner Kiez Kreuzberg gezogen. Die beiden Gründerinnen schauen nur kurz nach draußen und wenden sich wieder Abir Ghattas zu: Ghattas ist Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Zusammen mit dem SUPERRR Lab möchte sie eine Finanzierung für ein Nebenprojekt namens HammamRadio, ein feministisches Onlineradio, beantragen.
Auf Englisch tauschen sie sich über passende Beschreibungen für das Projekt aus. Während sich Julia Kloiber immer wieder durch die kurzen Haare fährt und gebannt auf den Bildschirm vor ihnen schaut, schreibt Elisa Lindinger Ideen in ihrem Notizbuch mit. Sie machen Witze und unterstützen sich gegenseitig dabei, ihre Ideen weiterzuentwickeln.
Teamarbeit muss auch persönlich sein
Julia Kloiber und Elisa Lindinger sind Gründerinnen, die ihren Mitarbeitenden und Kolleg*innen auf Augenhöhe begegnen. Mit der Organisationsentwicklerin Bettina Rollow arbeiten sie gerade daran, eine feministische Führungskultur und Strukturen zu entwickeln, in denen sich alle Teammitglieder entfalten und gut zusammenarbeiten können. „Ein Teil unseres wöchentlichen Team-Check-ins ist, dass wir uns besser kennenlernen und uns über unsere Lieblingsthemen austauschen: Welche Pflanzen habt ihr auf dem Balkon, oder was ist euer Lieblingscomputerspiel? Uns gehen die Fragen bisher nicht aus“, erzählt Elisa Lindinger. Beide sind sich sicher, dass eine gute Zusammenarbeit nicht ohne ein fundiertes Verständnis füreinander funktioniert.
Schon vor der Gründung von SUPERRR Lab im Februar 2019 arbeiteten die beiden Frauen zusammen. Gemeinsam leiteten sie den Prototype Fund, ein Förderprogramm für gemeinwohlorientierte Technologie. Bei der gemeinnützigen Organisation Open Knowledge Foundation Deutschland traf Elisa Lindinger auf Julia Kloiber, die sich schon seit mehreren Jahren für den Verein engagiert. Beiden war bei ihrer vorherigen Arbeit im Bereich „Digital Rights“ aufgefallen, dass sich zivilgesellschaftliche Organisationen stark darauf fokussieren, Schaden abzuwenden, indem sie sich zum Beispiel gegen Überwachung und für mehr Datenschutz einsetzen. Der Fokus auf Aufklärungs- und „Watchdog“-Arbeit hat aber zur Folge, dass wenig Zeit bleibt, wünschenswerte Zukünfte zu skizzieren. „Für uns gab es eine Leerstelle bezüglich der Zukunft. Wir haben uns gefragt, wo wir mit der Digitalisierung hinwollen und für welche Gesellschaft wir diese Zukunftsentwürfe imaginieren. Wenn man immer nur im Abwehrmodus ist, dann kommt dieser Teil schnell zu kurz.“
Ihnen fehlte in den Organisationen, deren Führungsebene oft akademisch und männlich geprägt ist, die Arbeit, die intersektional-feministische Ansätze und unterrepräsentierte Gruppen miteinbezieht. „Für uns ist es wichtig, mit Gruppen und Organisationen weit über die üblichen homogenen Akteure hinaus zu arbeiten“, betont Elisa Lindinger. Zivilgesellschaftliche Organisationen agierten oft unter prekären Arbeitsbedingungen und seien oft nicht sehr divers. Befristete Verträge, schlechte Bezahlung und wenige Weiterbildungsmöglichkeiten seien oft die Norm, kritisiert Julia Kloiber. Sie wollen mit diesen veralteten Strukturen brechen und mit SUPERRR Lab eine Organisation aufbauen, die feministische Werte wie Fürsorge, Gerechtigkeit und Kollaboration auch nach innen lebt.
Zukunftsvisionen gegen Diskriminierung
Im SUPERRR Lab kümmert sich Elisa Lindinger um die Administration und tiefergehende Recherchen, während Julia Kloiber für die Projektkoordination und Akquise zuständig ist. Konzepte, Themen und Projekte entwickelt das Team gemeinsam. Die Projekte, die sie in den letzten drei Jahren gemeinsam umgesetzt haben, sind vielfältig: Sie fördern mit Stipendien Visionär*innen, die zu digitalen Zukünften arbeiten, und thematisieren in Publikationen verschiedene Zukunftsvisionen für die digitale Zivilgesellschaft und darüber hinaus. Außerdem veröffentlichten sie ein Poster und ein Kartenspiel, das sich mit feministischen Ansätzen im Bereich „Tech Policy“ beschäftigt.
Momentan arbeiten die beiden Frauen an Methoden für zivilgesellschaftliche Organisationen zum Thema „Foresight“. Sie wollen es für Organisationen einfacher machen, neue Narrative zu entwerfen und über den Status quo hinaus wünschenswerte Alternativen zu skizzieren. Damit möchten sie die Leerstelle füllen, die sie in ihrer früheren Arbeit festgestellt haben: Damit die Zivilgesellschaft wirksam handeln kann, darf sie nicht nur reaktiv und abwehrend handeln, sondern braucht eigene Leitbilder, auf die sie hinarbeitet.
Ein weiteres Projekt ist ein Framework, mit dem Risiken von Technologien gesamtgesellschaftlich abgeschätzt werden können. SUPERRR Lab versucht herauszufinden, wie sich neue Technologien auf Fragen der Chancengerechtigkeit oder Ungleichheit in der Gesellschaft auswirken können. Denn erst wenn man die systematischen Ursachen von Diskriminierung begreift, kann man sie auch bekämpfen.
Die 36-jährige Österreicherin Julia Kloiber beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit den Themen Open Data und Open Government. „Sie war eine der ersten Personen, die das Thema vor zehn Jahren in Deutschland auf die politische Agenda gesetzt hat“, erzählt ihre Mitgründerin Elisa Lindinger. Julia Kloiber, die an der Grenze zu Ungarn und Slowenien aufwuchs, machte 2005 ihren Bachelor in Design. „Mich hat Gestaltung und die Frage, wie man komplexe Themen so kommuniziert, dass sie mehr Menschen zugänglich werden, schon immer interessiert, doch in die klassische Werbebranche wollte ich nicht.“ Stattdessen setzte sie sich mit gesellschaftlichen Themen auseinander und damit, wie Design – außerhalb von ästhetischen Kategorien – diese gestalten kann.
Feministische Diskurse an der Universität
Dabei prägten sie besonders ihre Eltern, die neben ihrer Arbeit in ihrem kleinen österreichischen Dorf einen Weltladen eröffneten und mit ihren Kindern für ein Jahr nach Guatemala gingen. An der Universität bemerkten Professor*innen ihr Interesse für Gerechtigkeitsfragen und beschäftigte sich auf deren Empfehlungen hin mit feministischer Literatur und Diskursen. „Ich hatte immer viel Neugierde für Themen an den Schnittstellen. Unterschiedliche Debatten und Fachbereiche miteinander auf kreative Art und Weise zu verbinden, das erfüllte mich“, blickt Julia Kloiber auf ihre Studienzeit zurück.
Dieser Wissensdrang brachte sie zu einem feministischen Film-Distributor namens Women Make Movies in New York, zu einer Agentur für politische Kommunikation in Berlin und für das Masterstudium nach Utrecht. Dort begann sie sich für netzpolitische Themen und Open Data zu interessieren.
Während sich im netzpolitischen Bereich viele Debatten gegen etwas richten – die Ablehnung von Datenspeicherung und Überwachung zum Beispiel –, sah Julia Kloiber im Thema „offene Daten“ das Potenzial, etwas für die Gesellschaft zu schaffen. Die Motivation, selbst aktiv zu sein, brachte sie zur Open Knowledge Foundation. Für sie ist SUPERRR Lab ein Gestaltungsraum, den sie mit eigenen Themen bespielen kann. „Auch wenn wir noch einiges zu tun haben, damit unsere Arbeit im Mainstream landet“, gibt sie zu.
Fehlende Repräsentationen aufzeigen
Auch Elisa Lindinger stört die fehlende Repräsentation vieler Gruppen in der Tech-Branche. Für sie sei SUPERR Lab die Möglichkeit, auf diese anhaltenden Missstände aufmerksam zu machen, denn es gebe weiterhin Räume im Digitalen, die nicht zugänglich seien.
Die gebürtige Bayerin studierte Archäologie in Erlangen und begann sich schnell für Klassifikationsfragen und die Verarbeitung von größeren Datenmengen zu interessieren. Nach ihrem Studium nutzte sie maschinelle Lernverfahren, um archäologische Daten aufzuarbeiten. Schon immer suchte sie in ihrer Arbeit nach der nächsten Herausforderung. „Über die Ergebnisse der KI-Versuche möchte ich mal nicht reden, aber ich arbeitete damit, bevor es cool wurde“, erzählt sie und lacht. Sie blieb der Universität auch nach ihrem Abschluss treu und brachte in interdisziplinären Teams mit Informatiker*innen und Vermesser*innen datengetriebene Projekte voran.
Für sie war die Zusammenarbeit trotz der Personen aus vielen unterschiedlichen Bereichen immer „extrem schön, da wir den Freiraum hatten, uns im Team auszuprobieren“. Doch auf lange Sicht waren ihr die Effekte, die ihre Arbeit in der Wissenschaft hatten, nicht nachhaltig genug. Sie wollte mit ihrem Schaffen schneller einen messbaren Einfluss erzielen. Diese Möglichkeit gibt ihr die Arbeit bei SUPERR Lab.
Macht abgeben
Nach drei erfolgreichen Jahren mit vielen Events und Publikationen beschäftigen sich die beiden Gründerinnen nun verstärkt mit ihrer eigenen Organisationsstruktur. Sie wissen, dass gesellschaftliche Veränderungen, die sie mit ihrem Lab anstreben, auch bei ihnen stattfinden müssen. „Als weiße Frauen an der Spitze des Labs arbeiten wir daran, Macht abzugeben“, erzählt Julia Kloiber. Es gehe ihnen nicht darum, das Team zu führen, sondern gemeinsam Hierarchien abzubauen.
Oft helfen ihnen dabei Gespräche mit anderen Gründer*innen aus der Tech-Branche. Doch auch der Blick aus der eigenen Blase heraus ist ihnen wichtig. Schon vor der eigentlichen Gründung des Labs trafen sich cis und trans Frauen, LGBTQI+ und nicht binäre Menschen aus verschiedenen Bereichen unter dem Netzwerknamen „Superrr“, um sich auszutauschen. Für Elisa Lindinger und Julia Kloiber ein wichtiger Teil ihrer Arbeit – „denn nur, wenn wir mit anderen Personen im Austausch bleiben, denken wir sie in unseren Zukünften mit“.
SUPERRR Lab
SUPERRR Lab setzt sich schon seit 2019 für einen Paradigmenwechsel hin zu einer intersektional-feministischen Digitalpolitik ein. Diese begegnet den aktuellen Herausforderungen, indem sie Grundrechte in den Mittelpunkt rückt und für Transparenz, Mitgestaltung und Zukunftsfähigkeit einsteht.