„Merhaba“ trotz Corona
In die Lebenswelt des anderen eintauchen – das gehört zu einem Austausch dazu. Was aber, wenn genau das nicht geht? 15 junge Erwachsene aus Deutschland und der Türkei haben sich dennoch „getroffen“ und gemeinsam Kunst gemacht. Sie haben eine Fotoausstellung organisiert, obwohl mehr als 1.000 Kilometer sie trennen. Der Seminarraum: Zoom und WhatsApp. Die Galerie: Instagram. Das Projekt: komplett online.
Ein junger Mann spielt fotografisch mit den Reflexionen eines Zuges in Istanbul. Eine Frau porträtiert sich am Fenster, den Rücken zur Kamera gedreht. Ein anderer Mann zeigt sich mit Gesichtsmaske. Reisen, rausgehen, wegkommen: Schon bei den Selbstporträts zeigt die Instagram-Ausstellung namens „Creative Swap“, zu Deutsch etwa „kreativer Austausch“, den Einfluss der Corona-Beschränkungen auf das Selbstverständnis der jungen Generation in einem verlorenen Jahr. Entstanden ist diese Sehnsuchtsschau als digitales Experiment.
Den Austausch zwischen Jugendlichen aus zwei unterschiedlichen Ländern und Kulturen fördern, Verständnis und Verständigung stärken: Das ist das Ziel der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke (DTJB). Jetzt, während der Corona-Pandemie, verlagern sich auch interkulturelle Erfahrungen notgedrungen ins Netz. Doch wie funktioniert Annäherung, wenn Grenzen geschlossen sind, das Reisen quasi unmöglich ist – und persönlicher Kontakt gar gefährlich? „Es reicht nicht, physischen Austausch einfach eins zu eins ins Netz zu übertragen. Das funktioniert nicht“, sagt Daniel Grütjen, DTJB-Geschäftsführer. „Auch wenn die digitale Kommunikation für viele junge Menschen selbstverständlich ist, muss digitaler Jugendaustausch gestaltet werden.“
Die DTJB mit Sitz in Düsseldorf stärkt den deutsch-türkischen Schüler*innen- und Jugendaustausch und schafft in beiden Ländern ein besseres Verständnis füreinander. Sie hat bislang mehr als 7.000 Teilnehmer*innen aus beiden Ländern mit ihren Programmen erreicht. Mit Beginn der Corona-Krise galt es, umzudisponieren: Gefördert werden derzeit digitale Projekte zum Austausch. Die jungen Leute müssen sich virtuell mit „Merhaba!“ und „Hallo!“ begrüßen – wie bei „Creative Swap“.
Instagram statt Galerie
„Wir haben eine digitale Fotoausstellung geplant, komplett im Netz auf Instagram“, erklärt Marie Hartlieb von Friendzone.Studio, der Berliner Agentur, die zusammen mit dem türkisch-deutschen Onlinemagazin Maviblau und der Kulturplattform Katadrom hinter der Social-Media-Ausstellung steht. Insgesamt 15 junge Erwachsene zwischen 18 und 28 Jahren aus Deutschland und der Türkei haben dabei in drei Workshops über die Videoplattform Zoom die Grundlagen von Social Media und der Fotografie erlernt.
Hartlieb hat der bunt gemischten Gruppe den Umgang mit den sozialen Medien nähergebracht, die Aufmachung von Instagram erklärt und mit ihnen zusammen erarbeitet, wie die virtuellen Kacheln zu einer Ausstellung umgewandelt werden können. Damit am Ende eine Galerie des deutsch-türkischen Austauschs entsteht, für alle Welt mit dem Handy erreichbar.
Mit der Berliner Fotografin Charlotte Schmitz tauschten die Teilnehmer*innen sich über Licht, Komposition und den „Goldenen Schnitt“ aus. „Mit den Grundlagen ausgestattet, haben wir drei Gruppen gebildet und mussten dann Selbstporträts erstellen“, erklärt Teilnehmerin Gökçe Göbüt, 28, aus Antalya im Süden der Türkei. Sie hat durch Freunde von dem Workshop erfahren. Als Designerin habe sie zwar mit dem Ergebnis von Fotografie zu tun. „Den Schaffensprozess zu erfahren, das war aber etwas ganz Besonderes“, erzählt sie am Telefon auf Englisch. Ihre Gruppe tauschte sich über den Nachrichtendienst Telegram aus, diskutierte die Möglichkeiten der Selbstporträts.
Das unterschiedliche Selbstverständnis einer durch Corona getrennten Generation zeigt sich dann auch in den verschiedenen Aufnahmen, die die Teilnehmer*innen von sich erstellt haben. „Ich war zu dem Zeitpunkt zu Besuch bei meinen Eltern in Istanbul“, sagt die 28-Jährige, „ich war also nicht in meinem Umfeld. Das hat mich vor eine besondere Herausforderung gestellt.“ Aber auch die Fantasie angeregt: „Im Haus meiner Eltern habe ich die alte Kiste von der Kına Gecesi meiner Mutter herausgekramt.“ Am Tag vor der Hochzeit versammeln sich in der Türkei traditionell weibliche Gäste zur Kına Gecesi, dem „Henna-Abend“, und verabschieden die Frau symbolisch in die Ehe. Kleider und Dekorationen davon verwahrt das Paar in einer Kiste. „Ich habe sie als Grundlage für Motive genutzt“, so Gökçe, „da die Ehe meiner Eltern sozusagen die Grundlage meines Lebens ist.“
„Die Teams mussten dann ein bestimmtes Thema fotografisch beleuchten“, erklärt Mitorganisatorin Marie Hartlieb. „Sie schufen Bilder zu Themen, die für ihr Leben wichtig waren – zum Beispiel Themen wie ‚Momente‘, ‚Zurückgelassen‘ oder ‚Vitalität‘. Die ganze Zeit über waren sie an verschiedenen Orten, in Berlin und Istanbul, in Samsun, Didim, Lübeck und Görlitz.“
Persönlicher Einblick trotz Distanz
Automatisch lernten die Teilnehmer*innen einander kennen. „Mich hat so ein Selbstbildnis einer Deutschen sehr berührt, die sich beim Wäscheaufhängen zeigt“, berichtet Gökçe. „Anscheinend hatte sie ein besonderes Verhältnis zum Wäschewaschen. So einen persönlichen Einblick nur online und ganz direkt in der ersten Woche zu bekommen, das ist schon besonders“, fährt sie fort. „Hätte ich sie im echten Leben kennengelernt, hätten wir wahrscheinlich nicht als Erstes darüber geredet.“
Eve Hamann, 18, aus Görlitz war schon immer ein Fan der türkischen Sprache. „An das Fotoprojekt bin ich auch mit dem Gedanken herangegangen, neue Menschen in der Türkei kennenzulernen“, so die Auszubildende zur Steuerfachangestellten. Die jüngste Teilnehmerin bei der digitalen Fotoausstellung macht schon lange gerne Fotos, doch durch die Workshops konnte sie ihre Kenntnisse vertiefen, machte sich Gedanken über die Wirkung ihres Schaffens. „Es war auch einfach cool, sich mit Menschen in der Türkei auszutauschen. Wir haben in den Gruppen ja nicht nur über die Fotos gesprochen. Da hat eine Teilnehmerin auch mal die Eindrücke von der Terrasse ihrer Wohnung geschickt“, sagt Eve. „Wir haben viel übereinander gelernt.“ Dieses Näherkommen trotz der Entfernung, das war für Eve nur dank des digitalen Austauschs möglich. „Ich hatte ja gerade Abi gemacht, meine Ausbildung fing an … Da hätte ich nicht einfach in die Türkei fliegen können. Ich konnte nur teilnehmen, weil es online war.“
Heute online, morgen physisch
Die Digitalisierung verändere, wie wir mit unseren Mitmenschen kommunizieren und umgehen, erläutert DTJB-Geschäftsführer Daniel Grütjen. „Unsere Aufgabe ist es, den Austausch ins digitale Zeitalter zu begleiten. Wir sehen digitale und physische Begegnung dabei nicht als Gegensatz. In einer Welt ohne Corona sollten sie Hand in Hand gehen. Heute begegnen wir uns online, und morgen treffen wir uns.“
Darauf hoffen auch viele der Teilnehmer*innen: „Über Social Media sind viele von uns ja noch in Kontakt. Wir wollen uns nach der Pandemie aber auf jeden Fall treffen“, sagt Gökçe. Diesmal im echten Leben, physisch, über die geografischen Grenzen hinweg. Sie werden sich viel zu erzählen haben – zum Beispiel übers Wäschewaschen.
Deutsch-Türkische Jugendbrücke
Die Partnergesellschaft der Stiftung Mercator will den Austausch junger Menschen zwischen Deutschland und der Türkei intensivieren, um die Beziehungen zwischen beiden Ländern langfristig zu stärken.
jugendbruecke.de