Der Sturm vor der Ruhe
Rechtspopulisten, Brexit, Urheberrecht: Zuletzt war im Europaparlament sehr viel los. Zu Beginn des Wahlkampfs wird es dann aber still im Europaviertel, berichtet Julian Rappold.
Von europapolitischer Betriebsmüdigkeit ist keine Spur: Kurz vor Ende der Legislaturperiode des Europäischen Parlaments überschlugen sich die Ereignisse in Brüssel. Nach langem Ringen entschied die Führung der Europäischen Volkspartei (EVP), der auch die CDU und CSU angehören, die Mitgliedschaft von Viktor Orbáns Partei Fidesz auszusetzen. Anschließend trafen die Staats-und Regierungschefs zu einem Gipfel des Europäischen Rates zusammen, um im leidigen Thema „Brexit“ das Heft in die Hand zu nehmen und der britischen Regierung eine letzte Chance zu einem geordneten Austritt zu geben. Und schließlich verabschiedete das Europäische Parlament in seiner vorletzten Sitzungswoche in Straßburg die umstrittene Reform des Urheberrechts, die insbesondere in Deutschland im Vorfeld zu massiven Protesten geführt hatte.
Die EU befindet sich auf der Zielgeraden dieser Legislaturperiode, bevor die europäischen Parteifamilien nun in den Wahlkampfmodus umschalten. Von Mitte April bis Ende Mai wird Brüssel dann von der Hauptstadt der EU zum politischen Nebenschauplatz. In den europäischen Institutionen wartet man auf eine neue Führungscrew. Gesetzgebungsvorhaben liegen auf Eis, die die Vertreter*innen der Regionalvertretungen sowie der Verbände, Nichtregierungsorganisationen und Think Tanks begleiten könnten. Auch die Veranstaltungsmaschinerie, die Woche um Woche die verschiedensten fachspezifischen oder grundsätzlichen Themen der europäischen Politik bespricht, kommt zum Erliegen. Die Wahlen werden immer noch vor Ort im Wahlkreis bei den europäischen Bürger*innen gewonnen statt im Europaviertel. Die Kandidat*innen der Parteien findet man deshalb noch ganz traditionell auf den Marktplätzen zwischen Porto und Varna sowie Tampere und Nikosia, wo sie um die Gunst der Wähler*innen buhlen.
Nach der Europawahl beginnt dann traditionell das große Stühlerücken in den europäischen Institutionen. Mit einer hohen Anzahl neu gewählter Europaabgeordneter ist zu rechnen, oftmals mit frischen Ideen aus den Mitgliedsstaaten, aber oft auch ohne Erfahrung mit den Besonderheiten des Brüsseler Politikbetriebs.
Mit einer hohen Anzahl neu gewählter Europaabgeordneter ist zu rechnen.
Doch damit nicht genug: In diesem Jahr werden gleich fünf EU-Spitzenpositionen neu ausgeschrieben. Die Ämter des Kommissionspräsidenten und der Kommissare (26 oder doch 27) sowie des Präsidenten des Europäischen Rates und des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik gilt es neu zu besetzen. Zudem ist auch die Stelle an der Spitze der Europäischen Zentralbank vakant. Die Auswahl treffen die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat. Der Kriterienkatalog ist lang: Parteibuch, geographische Herkunft, Geschlecht und Alter der Kandidat*innen machen diesen Prozess zu einem hochkomplexen Unterfangen. Gerade im Brüsseler Europaviertel, wo das Spekulieren über Personalentscheidungen zu einem der Lieblingsvergnügen gehört, wird dies in den kommenden Wochen zu viel Klatsch und Tratsch über das neue Personaltableau führen.
Viel Zeit für Spekulationen
Zwar tritt das neu gewählte Europäische Parlament bereits zum ersten Mal nach der Sommerpause im September zusammen. Bis das Spitzenpersonal in den restlichen europäischen Institutionen ausgewählt und handlungsfähig ist, könnte jedoch noch deutlich mehr Zeit vergehen, zu komplex ist das Anforderungsprofil. Durch die steigende Anzahl an rechtspopulistischen Regierungen werden diese Verhandlungen sicher nicht einfacher. Verzögerungen sind deshalb vorprogrammiert. Es bleibt also viel Zeit zu spekulieren.
In der Zwischenzeit werden viele an der eigenen Karriere stricken und versuchen, einen der begehrten Jobs in den Institutionen zu ergattern. Ab Herbst werden in Brüssel viele neue Gesichter aufschlagen, die sich erstmal zurechtfinden müssen. Viele andere treten mit einem Koffer voller Eindrücke sowie mehr Verständnis und mehr Wissen über die Feinheiten des Brüsseler Politikbetriebs die Reise in ihre Heimatländer an. Sie werden hoffentlich die nationalen Debatten zu Europa mit ihrem Insiderwissen bereichern.
Connecting Europe
Das Projekt Connecting Europe will die Kluft zwischen der EU und ihren Bürger*innen überbrücken und aktives Engagement von Zivilgesellschaft, Aktivist*innen, Bürger*innen, Think Tanks und der akademischen Welt in Entscheidungsprozessen der EU ermöglichen. Connecting Europe ist eine Initiative vom European Policy Center (EPC) und von uns.