„EU hat in Osteuropa Strahlkraft verloren“
Der Ost-West-Konflikt sei nie verschwunden. Er habe sich nach der Wende, wie so vieles andere, lediglich transformiert, sagt Kristina Chmelar, Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM), 15 Jahre nach der Osterweiterung. Aus dem Empfinden, mit dem Westen nicht auf Augenhöhe zu sein, versuchten etliche Parteien Kapital zu schlagen.
Frau Chmelar, die Ostererweiterung der EU jährt sich zum fünfzehnten Mal. Die EU hatte sich 2004 in Richtung Osten um die Länder Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Litauen, Lettland und Estland vergrößert. Diese bislang größte Erweiterung sollte den Beitrittsstaaten Wohlstand und Sicherheit bringen und außerdem die politische Transformation unterstützen. Hat sich das bewahrheitet?
Kristina Chmelar: Ja und nein. Viele makroökonomische Indikatoren zeigen, dass die osteuropäischen Staaten vom EU-Beitritt erheblich profitiert haben. Die wirtschaftliche Aufholjagd vollzog sich aber trotz der teils radikalen Liberalisierung nationaler Märkte lange nicht so schnell wie erhofft. Bis heute plagt viele Menschen in Osteuropa das Gefühl, Europäer*innen zweiter Klasse zu sein. Dazu führte die Wirtschafts- und Eurokrise allen drastisch vor Augen, wie abhängig das kapitalistische Wirtschaftsmodell vom Wohl und Wehe internationaler Finanzmärkte ist. Die Rezession und ihre Folgen deutete ein nicht zu vernachlässigender Teil der Osteuropäer*innen entsprechend nicht als national verursachte, sondern als importierte Probleme. Auch wenn nach wie vor die Mehrheit an das Wohlstandsversprechen der EU glaubt und die Union besonders für junge Menschen verheißungsvoll ist, hat sie in Osteuropa an Strahlkraft verloren.
Wie steht es um das Thema Sicherheit?
Chmelar: Der EU-Beitritt war für die osteuropäischen Mitglieder sicher insofern von Wert, als dadurch die Zugehörigkeit zu Westeuropa und seiner Sicherheitsarchitektur fixiert wurde. Gleichzeitig gibt es in der EU bis heute keine Institutionen, die beispielsweise im Falle einer Eskalation des Konflikts mit Russland wirklich tragfähig wären. Dass das aufgrund der geografischen Lage und historischer wie aktueller Erfahrungen neben dem Baltikum besonders Polen beunruhigt, kann man verstehen. Und auch der neuerlichen Bedrohung durch islamistisch motivierten Terrorismus und irreguläre Migration wird die EU in den Augen vieler Osteuropäer*innen kaum gerecht. Weit wichtiger für ihre Sicherheit sind deshalb nach wie vor die NATO und Formen multilateraler Zusammenarbeit, wie wir sie etwa im Zuge der sogenannten Schließung der Balkan-Route gesehen haben.
Das Versprechen auf politische Transformation bezog sich ja auf die Stärkung der Demokratie durch den Beitritt zur EU. Wie steht es darum?
Chmelar: Auch hier ist das Bild ambivalent. Vor allem in den 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre war die Beitrittsperspektive ein wesentlicher Motor der demokratischen Transformation und Konsolidierung. Heute gelten fast alle Staaten, die 2004 der Union beitraten, als konsolidierte Demokratien in einem westlich-liberalen Sinne. Seit einigen Jahren mehren sich jedoch vielerorts Anzeichen einer Dekonsolidierung. Manche Beobachter*innen sprechen gar von einer illiberalen Wende. Gemeint ist damit der Rückbau von Strukturen, die in liberalen Demokratien die Regierungsgewalt kontrollieren und beschränken. Besonders eindrücklich sehen wir ihn in Ungarn.
Kristina Chmelar
Kristina Chmelar ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet beim Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM). Dort ist sie unter anderem für die Themen „Migration in den Massenmedien“ und „Migrationsdiskurse in Mittel- und Osteuropa“ verantwortlich.
Wie haben sich die Gesellschaften in den neuen Mitgliedstaaten seit dem Beitritt verändert?
Chmelar: Bereits nach der Wende begannen sich alle osteuropäischen Gesellschaften mehr oder minder stark zu liberalisieren. Die Menschen arbeiten seither auf zunehmend deregulierten, dynamischen Arbeitsmärkten, sie konsumieren die gleichen oder ähnliche Produkte wie Westeuropäer*innen, sie haben ähnliche Lebensweisen und ähnliche Hobbies – das alles freilich im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten. Durch den EU-Beitritt gewann diese Entwicklung noch mehr an Fahrt. Gleichzeitig kämpfen die Gesellschaften in Osteuropa bis heute mit Problemen, wie sie typisch sind für postkommunistische Staaten: ein niedriges soziales Vertrauen, Korruption oder eine vergleichsweise schwache Rechtsstaatlichkeit. Die beschriebene Gemengelage führt dazu, dass der „Preis der Freiheit“ Osteuropäer*innen regelmäßig höher erscheint als Menschen in Westeuropa. Die verstärkte Hinwendung zum Nationalismus ist eine Folge davon.
In einigen dieser Staaten, besonders in Ungarn und Polen, sind EU-skeptische Positionen sehr prominent. Woran liegt das?
Chmelar: Ein Blick auf die öffentliche Meinung irritiert diesen Umstand zunächst: Die Polen gehören zu den EU-freundlichsten Bevölkerungen überhaupt. Über 50 Prozent der Befragten bewerten das Image der EU laut dem Eurobarometer positiv. In Ungarn sehen es 43 Prozent ähnlich, womit sie exakt dem EU-Durchschnitt entsprechen. Dass uns EU-skeptische Positionen aus beiden Ländern so auffallen, hängt damit zusammen, dass dort seit Jahren starke national-konservative Parteien regieren: in Polen die PiS, in Ungarn die Fidesz. Beide Parteien lassen kaum eine Gelegenheit aus, um die EU in massenmedial gut verwertbarer Weise zu kritisieren. Gleichzeitig sieht sich die Union regelmäßig veranlasst, deren illiberale Politik zu rügen. Aktuell sind gleich mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen beide Mitgliedsstaaten anhängig. Auch das ist immer wieder Thema in den Medien.
Wie geht das zusammen: relativ EU-freundliche Bevölkerungen einerseits und national-konservative, EU-skeptische Regierungen andererseits?
Chmelar: Man muss sich bewusstmachen: Die Gesellschaften in Osteuropa sind um einiges konservativer als es in Deutschland der Fall ist. In Polen und Ungarn hängt das zusammen mit dem Katholizismus, aber nicht nur. Osteuropa insgesamt hat viele Erfahrungen machen müssen mit Unordnung und Gewalt. Angesichts dessen sind die heutigen Bevölkerungen nicht dazu bereit, die bestehende Ordnung auf dem Altar größtmöglicher Freiheit zu opfern. National-konservative Positionen gehören zum Mainstream, weil die Nation hauptsächlich positiv konnotiert ist und für Emanzipation, Demokratisierung und Stabilität steht. Entsprechend möchten viele Osteuropäer*innen ein Europa der Vaterländer und keine Neuauflage der Vereinigten Staaten. Kulturell liberale Positionen wirken auf viele bedrohlich.
Sagen wir so: Der Ost-West-Konflikt ist eigentlich nie richtig verschwunden.
Welche Rolle spielt die europäische Migrationspolitik für die EU-Skepsis?
Chmelar: Die Migrationspolitik der EU war in den jüngsten Jahren liberaler als es sich die Osteuropäer*innen gewünscht hätten. Besonders die Einwanderung von außerhalb Europas wollen die meisten nicht. Im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise gelangten viele Personen aus dem Nahen Osten und aus Afrika vergleichsweise unkontrolliert in die EU. Das sogenannte Dublin-Verfahren, demzufolge Immigrant*innen ihren Asylantrag im Erstaufnahmeland stellen müssen, wurde ausgesetzt. Beides geschah gegen den ausdrücklichen Willen von etlichen osteuropäischen Regierungen. Das direktive Vorgehen der EU und dabei besonders Deutschlands weckte in Osteuropa Deprivationsgefühle und Abwehrreflexe. Zusammen mit der grundsätzlich starken Fremdenfeindlichkeit ergab das vielerorts einen fruchtbaren Nährboden für EU-skeptische Positionen.
Bildet sich hier ein neuer Ost-West-Konflikt?
Chmelar: Sagen wir so: Der Ost-West-Konflikt ist eigentlich nie richtig verschwunden. Er hat sich nach der Wende, wie so vieles andere, lediglich transformiert. Die sogenannte Flüchtlingskrise war nur ein Trigger, der den schwelenden Konflikt wieder einmal augenscheinlich werden ließ.
Im Mai stehen jetzt die Europawahlen an. Welche Rolle spielt das Thema Migration bei der Wahl in den osteuropäischen Ländern?
Chmelar: Die Antwort wird Sie womöglich überraschen: kaum eine. Mit Ausnahme Ungarns und Sloweniens ist in allen östlichen EU-Mitgliedsstaaten die Salienz des Themas Migration stark rückläufig. Weil fast überall eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung mindestens einwanderungsskeptisch ist, weil Immigration ein Randphänomen darstellt und weil sich die europäische Migrationspolitik langsam der osteuropäischen Haltung annähert, ist das Mobilisierungspotenzial gering. EU-skeptische Positionen stehen dagegen weiterhin hoch im Kurs. Aus dem Empfinden, mit dem Westen nicht auf Augenhöhe zu sein, versuchen etliche Parteien Kapital zu schlagen. Die polnische PiS beispielsweise wirbt mit dem Slogan „Du hast das Recht auf ein europäisches Lebensniveau“. Unabhängig davon, dass Aussagen wie diese implizit „europäisch“ mit „westeuropäisch“ gleichsetzen und so das kritisierte Gefälle zwischen Ost und West rekonstruieren, wecken sie bei Pol*innen verschiedene negative Assoziationen: Sie konfrontieren sie damit, dass ihr Einkommen trotz aller Mühen weit entfernt ist von westeuropäischen Löhnen. Solche Slogans erinnern aber auch an fremdenfeindliche Positionen gegenüber Menschen aus Osteuropa, wie sie sich 2018 beispielsweise in der sogenannten Kindergelddebatte Bahn brachen. Aus osteuropäischer Sicht war die Forderung nach einer Kürzung des Kindergeldes für EU-Ausländer ein Skandal: weil entsprechende Arbeitnehmer*innen wie alle anderen in das Sozialsystem einzahlen, vor allem aber, weil der Eindruck entsteht, Menschen aus Osteuropa missbrauchten regelmäßig den westlichen Sozialstaat. Auch wegen solcher Debatten rumort es immer mehr im gemeinsamen Haus Europa. Wenn die Osteuropäer*innen am 26. Mai zur Urne schreiten und EU-skeptischen Parteien ihre Stimme geben, könnten wir das deshalb vielleicht auch zum Anlass nehmen, um über den Anteil unserer Fremdenfeindlichkeit an diesem Ergebnis nachzudenken.
Mercator Forum für Migration und Demokratie
Das Mercator Forum für Migration und Demokratie (MIDEM) fragt danach, wie Migration demokratische Politiken, Institutionen und Kulturen prägt und zugleich von ihnen geprägt wird. Untersucht werden Formen, Instrumente und Prozesse politischer Verarbeitung von Migration in demokratischen Gesellschaften.