Fotoporträts ukrainischer Frauen:
„Ich bin eine Überlebende“

Oleksandra Bienert
Fotoporträts ukrainischer Frauen:
„Ich bin eine Überlebende“
Autorin: Sally Wilkens 14.02.2023

Überlebende und Kämpferinnen für ein neues Leben – so sehen sich geflüchtete Frauen aus der Ukraine, die Oleksandra Bienert porträtiert hat. Die Fotografin zeigt ihre Bilder ab dem 20. Februar 2024 in den Räumen der Stiftung Mercator, insgesamt 18 Porträts selbstbewusster Europäerinnen, die auf Augenhöhe behandelt werden wollen. AufRuhr konnte die Künstlerin und Menschenrechtsaktivistin Bienert bereits vorab treffen.

„Es fühlt sich so an, als wären mir durch die Flucht alle Rollen, die ich sonst habe, genommen worden. Jetzt bin ich nur noch Mutter. Ich bin keine Intellektuelle mehr, keine Expertin. In Kiew war es zu gefährlich; es gab Explosionen, und es gab ständig Flugalarm. Nun zuckt mein kleiner Sohn bei jedem lauten Geräusch zusammen.“

Alyona, 37, Kiew, Philosophin

„Ich hatte ein gutes Leben vor der flächendeckenden russischen Invasion in die Ukraine. Damit will ich sagen: Ich bin kein Opfer. Ich bin eine Überlebende. I’m not a victim. I’m a survivor. Das möchte ich unterstreichen, weil es um Würde geht. Mein Leben davor, mein Lebensweg hatte einen Sinn. Mein Leben war schön. Und das alles war meine Wahl.“

Inna, 35, Irpin/Kiew, Psychotherapeutin

„In Kiew haben ich und meine Partnerin kurz vor der Invasion eine Wohnung gekauft. Wir haben dafür jahrelang gespart. Natürlich würden wir gern zurückkehren. Die Hauptsache ist, dass es einen Ort gibt, wohin wir zurückkehren können.“

Alex, 42, Kiew/Luhansk, Künstlerin

Wir stärken Demokratie

Das sind Worte von drei der 18 ukrainischen Frauen, deren großformatige Schwarz-Weiß-Porträts ab dem 20. Februar in Essen hängen werden. Oleksandra Bienert hat Frauen fotografiert, die im Frühjahr 2022 angesichts des eskalierenden Krieges aus der Ukraine nach Berlin geflohen sind. Die Fotografin und Menschenrechtsaktivistin Bienert, selbst in der Ukraine geboren, lebt seit 2005 in Berlin. Über ihr Fotoprojekt „I’m not a victim. I’m a survivor“ sagt sie: „Ich möchte damit Menschen sichtbar machen. Ziel ist es aber auch, zu verhindern, dass wir diese Frauen nur auf eine Rolle reduzieren, und zwar auf die Opferrolle. Sie sind ja nicht nur Geflüchtete, sie sind auch Ärztinnen, sie sind Intellektuelle, sie sind Menschen.“ Einige der Frauen kommen zur Eröffnung der Ausstellung am 20. Februar im Rahmen eines Mercator Talks zusammen. Im Fokus stehen ihre Identitäten jenseits ihrer Fluchtgeschichten: ihre Karrieren, ihre Wünsche, ihre Ziele. Die Frauen wählen selbst, welches Narrativ sie der Öffentlichkeit über sich vermitteln möchten.

Denn die individuellen Schicksale der Menschen in der Ukraine sowie die der inzwischen über 17 Millionen Geflüchteten geraten oft in den Hintergrund der Berichterstattung zur ukrainischen Politik und der Zukunft der Ukraine in Europa. Seit vor einem Jahr Russland den seit 2014 andauernden Angriffskrieg gegen die Ukraine in eine flächendeckende Invasion in das ganze Land ausgeweitet hat, sind Nachrichten über Folterungen, Zerstörung und entsetzliches Leid allgegenwärtig. Doch in der deutschen Öffentlichkeit wird kaum über einzelne Schicksale der geflüchteten Frauen gesprochen, und auch Mitglieder der LGTBQIA+-Community und weitere marginalisierte Gruppen finden wenig Beachtung in der Berichterstattung. Dabei bestimmen auch ihre Geschichten die Zukunft der Ukraine in Europa.

Bienerts Fotografien zeigen Bloggerinnen, Psychotherapeutinnen, Personalmanagerinnen, Sängerinnen, Schauspielerinnen und Barkeeperinnen, die die Fotografin im Rahmen ihrer Ausbildung an der Berliner Ostkreuzschule – Schule für Fotografie und Bildredaktion aufgenommen hat. Über Facebook hatte sie nach Freiwilligen gesucht.

Schaufenster mit Bildern der Ausstellung von Oleksandra Bienert
Die großformatigen Fotografien der Frauen aus der Ukraine hingen zuletzt in der Smart - Genossenschaft für Selbstständige in Berlin. © Stefanie Loos
Karte mit ukrainischen Orten in Berlin
Welche Orte in Berlin sind ukrainisch? Oleksandra Bienert hat über die Jahre in Berlin Orte gesammelt, an denen Deutschlands Hauptstadt ukrainisch ist, und bietet Führungen dazu an. © Stefanie Loos

Selbstbewusste Frauen der neuen Ukraine

Bienert ist stolz auf die Porträts, weil sie Menschen und ihren Geschichten sichtbar machen. Die Fotografin: „Die Gespräche mit den porträtierten Frauen haben mir Kraft gegeben – obwohl ihre Geschichten von der Verfolgung und ihren Albträumen erschütternd sind. Die Bilder zeigen die neue Ukraine und die Gesellschaftsveränderung in der Ukraine: selbstbewusste Menschen, die Deutschland bereichern.“

Seit Jahren engagiert sich Bienert für die ukrainische Community. So gründete sie 2009 den Ukrainischen Kinoklub Berlin, der seit 2018 als Verein „CineMova. Ukrainian Film Community Berlin e. V.“ agiert. Weitere brückenbauende Projekte folgten. Für ihr jahrelanges Engagement hat das Land Berlin sie im Oktober 2022 mit seinem Landesorden ausgezeichnet. Seit dem flächendeckenden Angriff Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 hilft Bienert ankommenden Ukrainer*innen, kümmert sich um Unterkünfte, sorgt dafür, dass die Menschen die richtigen Anlaufstellen finden. Im September 2022 ist sie zur Vorstandsvorsitzenden der Allianz Ukrainischer Organisationen gewählt worden.

Außerdem hat sie über die Jahre in Berlin Orte gesammelt, an denen Deutschlands Hauptstadt ukrainisch ist, und bietet Führungen dazu an. Sie besucht etwa das Wohnhaus des Philologen Oleksandr Potebnja (1835–1891) an der Dorotheenstraße parallel zum Boulevard Unter den Linden. Oder auch den Ort der ersten Botschaft der Ukraine (1918-1923), die sich in der Nähe des heutigen Hauptbahnhofes befand, oder die Bar „Space Meduza“ an der Skalitzer Straße. Eigentlich möchte Bienert an ihrer Doktorarbeit über ukrainische Frauenbiografien der Zwischenkriegszeit in Berlin weiterschreiben. Doch neben ihrem Engagement komme sie dazu derzeit leider wenig, so Bienert kopfschüttelnd.

Symbole für die neue Ukraine

Ein Jahr nach der landesweiten russischen Invasion, ein Jahr nach den Gesprächen mit den Porträtierten sagt Bienert: „Neulich meinte eine Frau aus der Ukraine zu mir: Heute könntest du die Ausstellung umbenennen: „I’m not a victim. I’m a survivor. I’m a fighter“. Dem würde ich zustimmen: Diese Frauen haben sich in ein völlig neues Leben hineingekämpft, nicht aufgegeben. Sie stehen symbolisch für die neue Ukraine, die selbstbewusst und vielseitig ist“, sagt Bienert. Sie stehen für die Chancen und Herausforderungen der Ukraine in Europa.

Während Bienert spricht, streicht sie sich oft über ihre Ohrringe. Ukrainische Handarbeit, ein Geschenk ihrer Mutter. „Die Ukraine ist für mich Heimat, das Land meiner Wurzeln, ein Ort, wo ich Kraft schöpfe, ein Ort, der mich durch seine starken Menschen immer wieder überrascht und inspiriert. Natürlich vermisse ich die Ukraine. Sie ist ein Sehnsuchtsort und gleichzeitig keiner: Ich habe sie ja immer dabei.“


Mercator Talk: Veranstaltungsreihe zur Ukraine

Der Mercator Talk und die Fotoausstellung sind der Auftakt einer Veranstaltungsreihe, die die Stiftung Mercator anlässlich des traurigen Jahrestages des flächendeckenden russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine organisiert und die die verschiedenen Dimensionen des Krieges beleuchten soll.

www.stiftung-mercator.de/de/veranstaltungen/

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