Ukraine Entwicklung: Helfen, wo alles fehlt

Igor Mitchnik engagiert sich für den Schutz der Menschenrechte in Belarus und der Ukraine. Als der Krieg ausbrach, floh der Mercator Alumnus aus Kyjiw. Derzeit koordiniert er von der Slowakei aus humanitäre Hilfe in der Krisenregion.
Herr Mitchnik, Sie waren in Kyjiw, als mitten in der Nacht russische Truppen die Ukraine angriffen. Wie haben Sie diese Stunden erlebt?
Igor Mitchnik: Die Signale, dass es passieren konnte, waren sehr deutlich. Aber trotzdem konnte es sich kaum jemand vorstellen. Ich hatte am Tag vor dem Angriff noch einige Treffen mit lokalen Partner*innen in der Ukraine, sowohl Ukrainer*innen wie auch Belarus*innen, um genau das mit ihnen zu besprechen: Wie sie sich im Falle eines Angriffs verhalten würden.

Seit den gefälschten Wahlen im August 2020 und den präzedenzlosen Staatsrepressionen gegen die belarusische Zivilgesellschaft haben viele Menschen Belarus verlassen und waren von dort in die Ukraine geflohen. Diese Community ist besonders vulnerabel. Eine Partnerorganisation versuchte, Menschen aus der Community in den Tagen vor Kriegsbeginn zu evakuieren. Viele angesprochene Personen dachten aber, die spinnen und sagten: „Russland wird niemals angreifen.“
Ich selbst plante, am nächsten Tag aus Kyjiw in die Westukraine zu reisen. Noch in dieser Nacht griff Russland an.
Wie haben Sie reagiert?
Mitchnik: Das Schlimmste war wahrgeworden. Ich habe sofort zig Leuten geschrieben, von denen ich wusste, dass sie noch irgendwo in Kyjiw oder in der Ostukraine waren. In Kyjiw versuchten wir, uns sofort in Sicherheit zu bringen. Das war ein absoluter Krisenmodus.
Nicht nur persönlich war das schmerzhaft: Aufgrund des Ausnahmezustands, der im ganzen Land verhängt worden war, war sofort klar, dass alle meine männlichen Freunde und Kollegen mit ukrainischem Pass im wehrfähigen Alter nicht ausreisen konnten. Viele von ihnen wollten aber nun auch erst recht nicht ausreisen, sondern helfen oder kämpfen.
Menschen, die 2014 und 2015 bereits zu Beginn des Kriegs in der Ostukraine ihre Heimat verloren hatten und sich auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet neue Existenzen aufgebaut hatten, holte der Krieg wieder ein. Und die vielen Menschen, die aus Belarus vor Verfolgung geflüchtet waren, und zumeist keinen geregelten Aufenthaltsstatus in der Ukraine hatten, oder sich mit temporären Visa im Land aufhielten, wussten auch: Sie müssen jetzt wieder fliehen.

Sie haben weiterhin engen Kontakt zu Personen vor Ort. Was brauchen diese Menschen jetzt?
Mitchnik: Der Bedarf ist klar: Krankenhäuser müssen mit Medikamenten und Geräten ausgestattet werden. Lebensmittel müssen ins Land geschafft werden, insbesondere in den Osten des Landes. Evakuierungen aus aktivem Beschussgebiet gestalten sich superschwierig: Es fehlt an Treibstoff, sicheren Fluchtrouten, Matratzen und so banalen Sachen wie Powerbanks, um Kommunikationskanäle aufrecht zu erhalten. In vielen Orten sind Wasser- und Elektrizitätsversorgung unterbrochen. Zugang zu Trinkwasser wird generell immer schwerer, auch weil das Leitungswasser landesweit schon vor der Invasion nicht trinkbar war.
Ich bekomme privat auch direkte Bitten um Defensivausrüstung: Helme, Schutzwesten und alles, was die Menschen unterstützt, in der eigenen Stadt durchzuhalten. Das Bankenwesen ist noch nicht kollabiert. Wir bemühen uns, irgendwie Geld ins Land zu schaffen, damit Güter, die noch da sind, gekauft und verteilt werden können.
Alles wird knapper. Und sichere humanitäre Korridore, über die die Zivilbevölkerung versorgt werden könnte, gibt es auch noch nicht.
Alles wird knapper. Und sichere humanitäre Korridore, über die die Zivilbevölkerung versorgt werden könnte, gibt es auch noch nicht.
Sie sind Projektleiter bei Libereco – Partnership for Human Rights. Zusammen mit Ihrer ukrainischen Partnerorganisation Vostok SOS haben Sie eine umfangreiche Aktion zur humanitären Soforthilfe gestartet. Was bedeutet das und wie gelingt das, mitten im Krieg?
Mitchnik: Ein Teil des Teams unserer Partnerorganisation hilft bei Evakuierungen aus dem Osten des Landes. Sie haben eine Telefon-Hotline eingerichtet und leisten telefonisch auch psychologische Unterstützung. Andere sind in Uschhorod, in der Nähe der slowakisch-ukrainischen Grenze. Wir unterstützen sie derzeit vor allem von der slowakischen Seite dabei, ihr Büro aufzubauen und die Versorgung des Büros mit Hilfsgütern aus der EU zu vereinfachen. Von dort können unsere Partner*innen dann Krankenhäuser und Ortschaften in anderen Teilen der Ukraine mit Hilfsgütern beliefern.
Als kleine Menschenrechtsorganisation arbeiten wir und unsere lokalen Partnerorganisationen anders als große humanitäre Akteur*innen. Wir versuchen, Lücken zu füllen, wo große Organisationen noch nicht einschreiten können. Wenn zum Beispiel humanitäre Korridore noch nicht bestehen, wie es aktuell in der Ukraine der Fall ist, können kleine lokale Organisationen mit freiwilligen, privaten Helfer*innen vor Ort schneller handeln. Wir versuchen, sie dabei bestmöglich zu unterstützen.

Sie waren als Mercator Kollegiat selbst Teilnehmer eines Austauschformates. Bis Mitte 2021 waren Sie zudem für den Berliner Verein Deutsch-Russischer Austausch (DRA) tätig. Wie steht es um den Austausch und die Zivilgesellschaft in Russland?
Mitchnik: Russland hat in den letzten Jahren versucht, die eigene Zivilgesellschaft im Keim zu ersticken. Auch der DRA wurde im letzten Jahr zu einer sogenannten „unerwünschten Organisation“ erklärt – also faktisch in Russland verboten. Das bedeutet, dass jede Zusammenarbeit mit dem Verein in Russland unter Strafe steht. Und trotzdem: Obwohl derzeit die Verbreitung von allem, was nicht dem russischen Narrativ in diesem Angriffskrieg entspricht, von der russischen Regierung kriminalisiert wurde, gibt es weiterhin noch einige tausend russische Menschen, die auf die Straßen gehen. Etwa 14.000 Personen wurden bei Antikriegsdemos bereits verhaftet. In einem Land von 140 Millionen Einwohner*innen ist das aber nicht genug, um etwas zu bewirken.
In Russland werden die Medien vom Staat gelenkt, freie Berichterstattung ist kaum noch möglich. Sie haben früher an Austauschprogrammen wie dem Mercator Kolleg teilgenommen und später selbst, vor allem in der Ostukraine, Austauschprojekte organisiert. Was können persönliche Beziehungen in diesen Zeiten leisten?
Mitchnik: Ich denke, vor allem in Kriegszeiten ist der Kontakt zwischen unterschiedlichen Zivilgesellschaften das A und O. Eine meiner nachhaltigen persönlichen Überzeugungen ist, dass der Austausch mit europäischen Akteur*innen jungen Menschen, sowohl in Russland wie auch in der Ukraine, eine ganz neue Welt eröffnet hat – und weiter eröffnen muss. In der Ukraine wuchs im ganzen Land eine neue Generation heran, für die ihre persönliche Freiheit, Selbstbestimmungsrecht und Unabhängigkeit wichtig ist. Für sie steht die Zugehörigkeit ihrer Heimat zur europäischen Staatengemeinschaft außer Frage. Genau das ist es, was Putin so große Angst macht.
Deswegen ist es wichtig, dass die europäische Solidarität mit den Menschen in der Ukraine anhält, dass die Brücke zwischen den Menschen nicht von diesem durch nichts zu rechtfertigenden Angriffskrieg zerstört werden kann und dass wir auch die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen in Russland, die sich gegen die Regierung und diesen schrecklichen Krieg aussprechen, nicht vergessen. Das ist das Mindeste, was wir als europäische Gesellschaften und Europäische Union bieten können.
Mercator Kolleg
Das Mercator Kolleg für internationale Aufgaben fördert jährlich 25 engagierte deutschsprachige Hochschulabsolvent*innen und junge Berufstätige aller Fachrichtungen, die für unsere Welt von morgen Verantwortung übernehmen.
www.mercator-kolleg.de