„Die Flüchtlingspolitik hatte ein doppeltes Legitimationsdefizit“
Im September 2015 öffnete Bundeskanzlerin Angela Merkel die Grenze nach Österreich für Flüchtlinge. In seinem Buch „Die Getriebenen“ beschreibt Robin Alexander, Hauptstadtkorrespondent der „Welt“, die Politik der Bundesregierung minutiös. Die Flüchtlingspolitik habe ein Legitimationsdefizit gehabt, sagt Alexander im Interview.
Herr Alexander, in Ihrem Buch beschreiben Sie die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin. Bei der Bundestagswahl im September ist die AfD nun die drittstärkste Kraft geworden. Gibt es aus Ihrer Sicht einen direkten Zusammenhang?
Alexander: Es gab in Deutschland immer Menschen mit rechtsradikalen Einstellungen. Das Besondere im Vergleich mit den Nachbarländern war, dass sie auf Bundesebene keine parlamentarische Vertretung hatten. Der Diskurs war hierzulande wegen der Geschichte anders. Ich bin zwar für eine maximal breite Debatte, aber ich fand es immer gut, dass keine Rechtsradikalen im Bundestag vertreten waren. Wer völkische Positionen vertritt, mit dem kann man keine produktive Debatte führen.
Robin Alexander
Robin Alexander ist Hauptstadtkorrespondent der Zeitung „Die Welt“.
Ursächlich für den Erfolg der AfD sind die Flüchtlingskrise und dass die Union in der Wahrnehmung vieler Menschen sehr weit nach links gerückt ist. Das Diktum von Franz-Josef Strauß, dass es rechts der Union keine demokratisch legitimierte Partei geben darf, gilt nicht mehr. Die AfD ist eine Anti-Merkel-Partei – die Bundeskanzlerin ist unfreiwillig zur Geburtshelferin einer neuen Rechten geworden. In der Wählerschaft der AfD sammeln sich nun Menschen, die klassische konservative Positionen vertreten, Rechtspopulisten und einzelne Rechtsradikale. Das ist fatal.
Sie charakterisieren das Handeln der Bundesregierung als eine Politik des Lavierens, Jonglierens und Taktierens. Trug dies aus Ihrer Sicht zum Erfolg der AfD bei?
Alexander: Ja, denn die Flüchtlingspolitik hatte ein doppeltes Legitimationsdefizit. Erstens hätten die Abgeordneten des Bundestags über die Öffnung der Grenze im Herbst 2015 abstimmen müssen. Ganz sicher hätte eine Mehrheit für eine Öffnung der Grenze gestimmt. Aber Angela Merkel hatte Angst, dass Kritik aus den eigenen Reihen deutlich werden könnte. Bei einer namentlichen Abstimmung wäre sichtbar geworden, dass manche Unionsabgeordnete den Kurs nicht teilten – sie hätten gegen Merkels Politik gestimmt. Und zweitens war die rechtliche Legitimität der Flüchtlingspolitik zweifelhaft. Die Flüchtlinge kamen aus sicheren Drittstaaten, Deutschland wäre eigentlich nicht für die Asylverfahren zuständig gewesen. Die Bundesregierung argumentierte mit dem Selbsteintrittsrecht, wonach Staaten dennoch Asylverfahren selbst durchführen können. Es gab aber Gutachten namhafter Verfassungsrechtler, die das Handeln der Bundesregierung in Frage stellten. Ich hätte eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht befürwortet.
Warum?
Das Bundesverfassungsgericht hätte vermutlich geurteilt, dass die Praxis Deutschlands nicht haltbar sei – aber die Exekutive zuständig sei, dieses zu heilen. Allein das Urteil hätte dem verbreiteten Gefühl entgegengewirkt, die Spitzpolitiker hielten sich einfach nicht an Recht und Gesetz. Das hätte viel Gift aus der Debatte genommen.
Welche Rolle spielte aus Ihrer Sicht, dass im Bundestag nur Grüne und Linke die Opposition stellten?
Alexander: Das war fatal. Die Opposition hat die Aufgabe, die Politik der Bundesregierung zu kontrollieren. Grüne und Linke haben diese Aufgabe nicht wahrgenommen. Sie bejubelten die Flüchtlingspolitik. Sie hätten ja keine Fundamentalopposition machen müssen, aber sie hätten Aspekte viel kritischer hinterfragen müssen. Die Gesellschaft war in der Flüchtlingspolitik gespalten, das Parlament erschien einig.
In der Union gab es hingegen große Differenzen, die in der Auseinandersetzung zwischen Merkel und Horst Seehofer auch öffentlich permanent sichtbar waren.
Alexander: In der Flüchtlingspolitik geht es um eine zentrale Frage: Es gibt das Individualrecht auf Asyl, aber die Mittel jedes Landes sind beschränkt. Das ist der Grundwiderspruch in der Debatte. Als wesentliche Frage folgt daraus, ob es eine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlinge geben muss. Merkel und Seehofer vertraten die beiden entgegengesetzten Positionen in dieser Debatte. Aber bei der Bundestagswahl konnte kein Wähler darüber abstimmen, weil ja beide Politiker der Union angehören. Das hat der AfD genutzt – dabei hätte man diese Frage auch in der Mitte der Gesellschaft diskutieren können.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Grenze zwischen Bayern und Österreich nicht geschlossen worden sei, weil niemand die Verantwortung übernehmen wollte. Schreiben Sie damit auch über fehlenden Mut?
Alexander: Auch etwas nicht zu tun, kann großen Mut erfordern. Aber weder Merkel noch der zuständige Innenminister Thomas de Maizière sagen in den entscheidenden Stunden, wir schließen die Grenze ganz bewusst nicht, weil wir das aus diesen und jenen Gründen für richtig halten. Stattdessen stellen sie Fragen und äußern Bedenken. Am Ende wollte keiner die Verantwortung übernehmen. Die Schließung ist einfach unterblieben, obwohl alles vorbereitet war.