„Die Angst nimmt zu“
Am Samstag ist der Internationale Tag gegen Rassismus. Durch das Coronavirus sei die Debatte nach dem Hanau-Attentat eher kurz gewesen, sagt Ferda Ataman, Sprecherin der neuen deutschen organisationen. Rassismus mache sich auch in der Corona-Debatte bemerkbar.
Das rassistische Attentat von Hanau liegt nun einige Wochen zurück und das Coronavirus dominiert die Debatten. Wie erleben Sie das, Frau Ataman?
Ferda Ataman: In Hanau hat ein Rechtsextremist an einem Abend zehn Menschen erschossen. Die Diskussion darüber war verhältnismäßig kurz. Ich verstehe natürlich, warum. Eine weltweite Pandemie ist ein völlig neues Großereignis, das hat gerade oberste Priorität. Aber Rechtsextremismus und Rassismus sind dadurch nicht weg und müssen unbedingt weiter im Blick behalten werden. Das macht sich ja auch in der Corona-Debatte bemerkbar. Es kursieren längst Verschwörungstheorien, wonach der Virus angeblich von einer ominösen Elite oder gar von Juden entwickelt wurde, um die Zahl der Menschen bzw. der „echten Deutschen“ zu verringern. Diese Erzählung soll Leute mobilisieren, sich zu bewaffnen und zu wehren. Auch das ist lebensbedrohlich. Übrigens kann auch der alltägliche Rassismus in so angespannten Zeiten zunehmen.
Ferda Ataman
Ferda Ataman ist Sprecherin des Vereins neue deutsche organisationen.
Wie meinen Sie das?
Ataman: In den letzten Monaten haben wir erlebt, dass asiatisch aussehende Menschen im Alltag vermehrt rassistisch angegangen wurden, weil das Virus zuerst in China ausgebrochen ist. Überschriften wie die Titelseite vom Spiegel „Made in China“ und andere Meldungen haben den anti-asiatischen Rassismus gefördert. Und dann gibt es noch den strukturellen Rassismus, der immer eine Frage von Zugängen bedeutet: Wer wird zuerst in den Krankenhäusern behandelt? Wem stehen mehr Ressourcen zur Verfügung, um sich gesund zu halten? Wer wird besser beschützt, falls Panik ausbricht? Das alles hat mit sozialen Fragen zu tun, aber eben auch mit Rassismus. Rassismus im Gesundheitssystem ist wenig erforscht, aber es gibt stichhaltige Hinweise darauf, dass das ein großes Problem ist.
Menschen mit migrantischer Geschichte hatten nach Hanau berichtet, dass sie Angst haben. Wie erleben Sie das?
Ataman: Ja, die Angst nimmt zu, vor allem bei People of Color, bei Muslimen und Juden, weil die Bedrohungslage durch gewaltbereite Rechtsextreme zunimmt. Das ist nicht nur ein Gefühl, das belegen auch die Zahlen von Sicherheitsbehörden. Erinnern Sie sich noch daran, dass das Jahr 2019 damit begann, dass ein Mann an Silvester in sein Auto stieg und Ausländer tot fahren wollte? Er wurde für verrückt erklärt, aber er wollte nicht irgendwelche Leute umbringen, sondern Migranten. Im Sommer 2019 wurde im hessischen Wächtersbach ein Schwarzer Mann aus einem Auto heraus angeschossen. Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde ermordet. Dann kam der bewaffnete Attentäter in Halle, der eine Synagoge stürmen wollte. Und erst vor wenigen Wochen wurde auf Karamba Diabys Abgeordnetenbüro geschossen. Das sind nur einige Beispiele. Menschen, die von Rassismus betroffen sind, bekommen diese Fälle alle mit und fühlen sich zunehmend unsicher.
Nach dem Anschlag in Hanau waren zum ersten Mal alle bereit, über Rassismus in der Gesellschaft – und nicht nur am rechten Rand – zu reden.
Wie hat sich aus Ihrer Sicht die Debatte über Rassismus seit Hanau verändert?
Ataman: Einen Paradigmenwechsel gab es schon nach dem Mord an Lübcke und dem antisemitischen Terroranschlag in Halle: Seitdem ist es politisch weitgehend Konsens, dass Rechtsextremismus unterschätzt wurde und politisch mehr Priorität haben muss. Doch nach dem Anschlag in Hanau waren zum ersten Mal alle bereit, über Rassismus in der Gesellschaft – und nicht nur am rechten Rand – zu reden. Also Rassismus als ernstes, gesellschaftliches Problem anzuerkennen. Naja, fast alle, außer der AfD.
Welche Rolle haben Spitzenpolitiker*innen gespielt?
Ataman: Eine wichtige. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nach dem Anschlag beim Integrationsgipfel einen Kabinettsausschuss zu Rechtsextremismus und Rassismus angekündigt, allerdings auf Druck der Migrantenorganisationen. Und Bundesinnenminister Horst Seehofer hat ebenfalls einen persönlichen Kurswechsel vorgenommen und Rechtsextremismus zur zentralen Herausforderung der Demokratie erklärt. Das ist gut. Aber ich habe den Eindruck, dass es den ständigen Druck aus der Zivilgesellschaft braucht, damit auf die Erkenntnisse und Betroffenheitserklärungen auch Konsequenzen folgen.
In den sozialen Medien gab es auch viele Solidaritätsbekundungen – welche Bedeutung haben diese?
Ataman: Es ist wichtig für eine Gemeinschaft, dass Betroffenheit und Mitgefühl gezeigt wird. Mich persönlich hat es gefreut, so viel Anteilnahme zu sehen. Das reicht aber nicht. Leider scheinen viele Organisationen, Parteien und Einzelpersonen zu glauben, nach einem empathischen Tweet oder Post hätten sie genug getan. Aber Rassismus ist ein Thema, dass uns alle etwas angeht.
Die Idee, dass es eine abstammungsdefinierte deutsche Nation gibt, die Vorrechte gegenüber Migranten und ihren Nachkommen hat, findet sich erstaunlich oft. Zum Beispiel auch bei allen, die von mir Dankbarkeit dafür erwarten, dass ich in Deutschland leben darf. Von meinen weißen deutschen Freunden erwartet niemand, dass sie dankbar dafür sind. Und wenn Kinder schon in der Schule schlechtere Chancen haben, weil sie „ausländisch“ klingende Namen haben, dann haben wir ernstes menschenrechtliches Problem mitten in der Gesellschaft.
Wie ist Ihr Eindruck, ist das Thema Rassismus inzwischen auch bei Menschen ohne migrantischer Geschichte präsenter?
Ataman: Ich glaube, was Rechtsextremismus angeht, ja. Und es ist leicht, jetzt auf der AfD rumzuhacken. Was aber den Rassismus im Alltag, in den Strukturen oder in den eigenen Parteien angeht, bezweifle ich das. Daran müssen wir arbeiten. Es ist wichtig, dass wir eine Allgemeinbildung zum Thema Rassismus erarbeiten – was genau heißt das eigentlich und warum betrifft es alle und nicht nur Neonazis. Wenn fast alle diese Fragen beantworten können, sind wir einen großen Schritt weiter.
Nun wird in der Gesellschaft mehr über das Thema gesprochen – was muss daraus konkret folgen?
Ataman: Beim Thema Rassismus müssen alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auf den Prüfstand gestellt werden: Arbeit, Bildung, Gesundheit, Wohnen und so weiter. Hier fehlen uns bisher ausreichend Daten über Diskriminierung und die Folgen von Rassismus. Außerdem brauchen wir eine umfassende Reform des Antidiskriminierungsgesetzes, die Verbesserung schafft. Das kostet alles Geld – allein im Bildungsbereich müssen weitreichende Reformen in der Lehrer*innenausbildung und in den Bildungsinhalten umgesetzt werden. Beim Thema Rechtsextremismus ist geplant, die Zahl der zuständigen Beamt*innen in Sicherheitsbehörden aufzustocken. Das ist gut, aber es muss auch sichergestellt werden, dass Rechtsextremisten in den eigenen Reihen konsequent ausgemustert werden. Leute mit rassistischer Ideologie dürfen keinen Zugang zu Waffen und sensiblen Informationen haben.
neue deutsche organisationen
neue deutsche organisationen e.V. sind ein bundesweites Netzwerk von rund 100 Vereinen, Organisationen und Projekten. Der Verein sieht sich als postmigrantische Bewegung gegen Rassismus und für ein inklusives Deutschland.