„Spaltung der Gesellschaft wird sichtbar“
Bei der Bundestagswahl wurde die AfD mit 12,6 Prozent drittstärkste Kraft hinter der Union und der SPD. Die AfD sei ein Sammelbecken der Unzufriedenen, sagt der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer, Leiter des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM), im Interview. Ihr Wahlergebnis sei auch Ausdruck der Krise der vermittelnden Institutionen, die vor Ort dem Frust der Menschen nichts entgegenzusetzen hätten.
Herr Vorländer, die AfD ist bei der Bundestagwahl die drittstärkste Kraft geworden. Was bedeutet das für die rechtspopulistischen Bewegungen in Deutschland?
Vorländer: Dass zum ersten Mal eine rechtspopulistische Partei im Bundestag sitzt, verändert die politische Landschaft in Deutschland fundamental. Die Spaltung der Gesellschaft wird jetzt auch im Parlament sichtbar. Wir erleben einen Wandel der Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen kosmopolitische Menschen, die mit kultureller Verschiedenheit umzugehen wissen und denen das keine Angst macht. Auf der anderen Seite stehen Traditionalisten, die das Gefühl haben, dass sie bei all den Veränderungen nicht mitkommen. Sie suchen ihre Vergewisserung in der Heimat und in vermeintlich traditionellen Werten. Die Wähler der AfD unterscheiden sich von denen der etablierten Parteien: Sie haben ein geringeres Vertrauen in politische Institutionen und Gerichte, sind weniger zufrieden mit dem politischen System und haben größere Angst, dass die Politik die Zukunftsfragen nicht in den Griff bekommt.
Prof. Dr. Hans Vorländer
Prof. Dr. Hans Vorländer ist Direktor des Mercator Forums für Migration und Demokratie (MIDEM). Er ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden.
Sind diese Wähler demnach klassische Protestwähler?
Vorländer: Die AfD ist ein Sammelbecken für die Unzufriedenen. Einige sind mit ihrer ökonomischen Situation unzufrieden, sie sehen sich als Opfer der Entwicklungen im Zuge der Globalisierung. Andere haben kulturelle Befürchtungen, sie haben Angst, dass ihre Identität, die regional und national gespeist ist, verloren geht. In der Migration von Menschen verkörpert sich die Angst der Unzufriedenen vor der Zukunft. Die Migranten sind Projektionsfiguren. Die Flüchtlingsbewegungen im Herbst 2015 nach Deutschland wirkten wie ein Signalereignis für die Unzufriedenen. Sie erlebten die Ereignisse als Kontrollverlust der Politik. Hinzu kam die Willkommenskultur im Land: Die Flüchtlinge wurden positiv aufgenommen. Damit verglichen sich die Unzufriedenen und sagten: Wir werden nicht positiv aufgenommen, für unsere Probleme interessiert sich niemand. Sie fühlten sich zurückgesetzt. Diese Opferrolle schlug und schlägt sich in harter Aggression gegen Flüchtlinge nieder. Aufgestaute Aggressionen werden nun sichtbar. Die AfD ist zwar keine rechtsextreme Bewegung. Aber sie hat die Grenzen zwischen harter Auseinandersetzung und Hetze gegen Flüchtlinge brüchig gemacht.
In Ostdeutschland bekam die AfD besonders viele Stimmen – warum?
Vorländer: In Sachsen ist die AfD die stärkste Partei – das ist ein politisches Erdbeben. Es gibt einen spezifisch ostdeutschen Effekt. Das, was im Zuge der Globalisierung passiert, ist in Ostdeutschland in den vergangenen 25 Jahren wie im Zeitraffer abgelaufen. Bei vielen Menschen haben diese Veränderungen große Ängste ausgelöst, die nun in einer Eruption nach oben kommen. Die AfD profitiert von diesen Verwerfungen in der Gesellschaft.
Demokratien stehen momentan generell unter Stress. Sie haben Schwierigkeiten, die Probleme so zu verarbeiten, dass sich die Menschen bei den etablierten Parteien gut aufgehoben fühlen.
Spielt auch eine Rolle, dass die Menschen immer weniger gemeinsame Werte teilen? Es wird ja häufig eine sinkende Bindekraft der etablierten Institutionen beklagt.
Vorländer: Diese Entwicklung ist enorm wichtig. Von den vermittelnden Institutionen wie Parteien und Gewerkschaften, aber auch Kirchen und Vereinen kommt nichts, was den Frust und die Ängste der Menschen auffängt. In den westdeutschen Bundesländern sind diese Institutionen auch in der Krise, aber in den ostdeutschen Ländern ist es besonders krass. In der DDR sollte es keine starken zivilgesellschaftlichen Institutionen geben, und nach der Wende wurden sie in den neuen Bundesländern auch nicht systematisch und stabil aufgebaut. Das fehlt nun. Es gibt keine gemeinsam geteilten Werte, die die Institutionen vermitteln. Hier müssen die politischen Institutionen, vor allem auch die Schulen und Bildungsträger sowie die Zivilgesellschaft ansetzen, um die Wähler zurückzugewinnen.
Im europäischen Vergleich wird sichtbar, dass rechtspopulistische Parteien in nationalen Parlamenten keine Seltenheit sind.
Vorländer: Man kann in diesem Sinne davon reden, dass wir in Deutschland eine nachholende Entwicklung erleben. Aber das darf keine Normalisierung sein. Unsere Geschichte warnt uns davor. Demokratien stehen momentan generell unter Stress. Sie haben Schwierigkeiten, die Probleme so zu verarbeiten, dass sich die Menschen bei den etablierten Parteien gut aufgehoben fühlen. Rechtspopulistische Bewegungen verstärken solche Gefühle. Das ist in allen westlichen Ländern zu beobachten.
Wie sollten die etablierten Parteien aus Ihrer Sicht nun auf die AfD im Bundestag reagieren?
Vorländer: Sie sollten der Partei die Grenzen aufzeigen, aber nicht die AfD-Wähler verteufeln. Die meisten Wähler können sie zurückgewinnen. Gefragt ist nun eine gute Sachpolitik vor Ort. Dabei wird die Kommunalpolitik unterschätzt, obwohl der Nahbereich für die Menschen besonders wichtig ist. Sie müssen beispielsweise erleben, dass die regionale Infrastruktur funktioniert, also dass ein Bus fährt und ein Krankenhaus gut erreichbar ist. Außerdem müssen wieder gemeinsame Werte vermittelt werden, in der Schule, aber auch in Jugendzentren und Vereinen. Parteien und Zivilgesellschaft müssen sich gerade in Ostdeutschland zu den Menschen hinwenden – und ihre Probleme aufgreifen und lösen. Das ist das Pfund der etablierten Parteien, denn in der Sache haben Populisten nichts zu bieten.
Mercator Forum Migration und Demokratie
Das Mercator Forum für Migration und Demokratie (MIDEM) fragt danach, wie Migration demokratische Politiken, Institutionen und Kulturen prägt und zugleich von ihnen geprägt wird. Untersucht werden Formen, Instrumente und Prozesse politischer Verarbeitung von Migration in demokratischen Gesellschaften.