Ostdeutschland zwischen Ost- und Westeuropa

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Ostdeutschland zwischen Ost- und Westeuropa
Autor: Maik Herold 28.11.2019

Die Beurteilung von Migration und Migrant*innen ist im Osten und im Westen Europas höchst verschieden. Zugewanderte stoßen in Osteuropa auf besonders starke Vorbehalte. Auch zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern gibt es Unterschiede.

Das Thema Migration spaltet Europa. Bei der Suche nach einer gemeinsamen Flüchtlings- und Asylpolitik stehen sich die unterschiedlichen Vorstellungen von Süd-, West- sowie Mittel- und Osteuropäern oft unversöhnlich gegenüber. Und auch mit Blick auf Deutschland lassen migrationspolitische Fragen deutliche Unterschiede zwischen den ost- und den westdeutschen Bundesländern erkennen. So ist aus Untersuchungen bekannt, dass etwa fremdenfeindliche und asylkritische Orientierungen in Ostdeutschland stärker verbreitet sind als in Westdeutschland. Und auch die Wahlergebnisse der AfD erreichten seit 2015 in den ostdeutschen Bundesländern regelmäßig ein deutlich höheres Niveau als im Westen.

In der öffentlichen Diskussion wird heute entsprechend davon ausgegangen, dass auch in der Bevölkerung die Unterschiede migrationspolitischer Positionen, wie sie in Deutschland die alten und die neuen Bundesländer trennen, im Großen und Ganzen dieselben sind, die auf europäischer Ebene ost- und westeuropäische Anschauungen regelmäßig kollidieren lassen.

Doch stimmt das überhaupt? Können die in den neuen Bundesländern vorliegenden Einstellungen gegenüber Migranten tatsächlich als ‚typisch osteuropäisch‘, die in den alten Bundesländern vorherrschenden Orientierungen als ‚typisch westeuropäisch‘ bezeichnet werden? Neueste Daten der European Value Study, einer europaweiten Langzeiterhebung zu den in Europa verbreiteten Einstellungen und Wertvorstellungen, zeigen, dass diese Rechnung nicht so einfach aufgeht. Im Rahmen der jüngsten Erhebungswelle wurden hier zwischen 2017 und 2019 in den unterschiedlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union rund 37.000 Interviews mit Bürger*innen geführt.

Bei der Bewertung von Migration ist Europa gespalten

Die Ergebnisse der Untersuchung sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. So werden einerseits die Folgen von Zuwanderung im Osten des Kontinents generell negativer beurteilt als im Westen. Ängste, Vorurteile und auf das eigene Sicherheitsempfinden bezogene Bedrohungswahrnehmungen gegenüber ‚Fremden‘ sind hier im Schnitt stärker ausgeprägt. Migrant*innen  sind in einem höheren Maß mit Ablehnung und etwa dem Wunsch nach einer Bevorzugung von ‚Einheimischen‘ auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert (Abb. 1).

Befürwortung der Ungleichbehandlung von Zuwanderern auf dem Arbeitsmarkt
Abb. 1 : Anteile der Befragten in den einzelnen Ländern, die bei einer angespannten Arbeitsmarktsituation der Bevorzugung von Einheimischen gegenüber ‚Ausländern‘ zustimmen
Abb. 1 : Anteile der Befragten in den einzelnen Ländern, die bei einer angespannten Arbeitsmarktsituation der Bevorzugung von Einheimischen gegenüber ‚Ausländern‘ zustimmen (Quelle: Herold/Otteni 2019 / Eigene Berechnung nach European Value Study 2019).

Jahresbericht 2019

Spätestens mit der sog. Flüchtlingskrise 2015 hat das Thema Migration in den Gesellschaften Europas zu neuen politischen Verwerfungen und Polarisierungen geführt. Im Jahresbericht 2019 zieht das Team des Mercator Forums für Migration und Demokratie (MIDEM) eine Bilanz für die einzelnen Länder und Regionen Europas. In der vergleichenden Perspektive werden die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten in Einstellungen, Diskursen und Politiken deutlich. Im Jahresbericht finden Sie eine ausführliche Fassung dieses Textes.

 

Andererseits erscheinen im konkreten Einzelfall die Unterschiede zwischen ‚westlichen‘ und ehemals sozialistischen Regionen Europas nicht immer derart eindeutig bestimmbar. So fällt etwa die Bewertung des Einflusses von Zuwanderung auf die Entwicklung des eigenen Landes in Polen und Rumänien im Schnitt positiver aus als etwa in Italien oder Österreich.

Migranten als Bedrohung des allgemeinen Sicherheitsempfindens
Abb. 2: Wahrnehmung einer Bedrohung durch Zugewanderte in einzelnen Ländern
Abb. 2: Wahrnehmung einer Bedrohung durch Zugewanderte in einzelnen Ländern (Bedrohungsindex , Quelle: Herold/Otteni 2019 / Eigene Berechnung nach European Value Study 2019)

Mit Migrant*innen assoziierte Bedrohungswahrnehmungen hingegen – wie steigende Kriminalitätsraten, überlastete Sozialkassen oder neue Konkurrenzsituationen auf dem Arbeitsmarkt – sind in typischerweise als ‚westlich‘ geltenden Staaten wie Dänemark und den Niederlanden zum Teil ausgeprägter als etwa in Kroatien oder Slowenien (Abb. 2).

Ostdeutschland ähnelt eher Westeuropa als Osteuropa

Am bemerkenswertesten aber fallen die Werte von Ost- und Westdeutschland im europäischen Vergleich aus. Hier zeigt sich, dass die Einstellungen gegenüber Migrant*innen in Ostdeutschland im Schnitt deutlich positiver sind als in anderen ehemals sozialistischen Regionen Europas. Geht es etwa konkret um die Befürwortung einer Benachteiligung von Zuwanderern am Arbeitsmarkt (Abb. 1) oder um die Ablehnung bestimmter Personengruppen in der unmittelbaren Nachbarschaft, dann entsprechen die Orientierungen der Ostdeutschen nicht etwa dem – wesentlich negativerem – osteuropäischen, sondern eher einem typisch westeuropäischen Niveau. Lediglich in ihrer ausgeprägten Ablehnung von Muslimen nähern sich die Ostdeutschen den durchschnittlich für Osteuropa ermittelten Werten an (Abb. 3).

Ablehnung bestimmter Personengruppen in der unmittelbaren Nachbarschaft

 

Statistik zu Muslimen und Menschen anderer Hautfarbe in Europa und Deutschland
Abb. 3: Anteile der Befragten nach Regionen, die eine bestimmte Personengruppe „nicht gern als Nachbarn hätten“ (Quelle: Herold/Otteni 2019 / Eigene Berechnung nach European Value Study 2019).

Das Antwortverhalten in Westdeutschland hingegen erweist sich als wesentlich positiver als in den allermeisten anderen europäischen Regionen. So wurden beispielsweise in Westeuropa im Schnitt bei elf Prozent der Befragten Vorbehalte gegenüber „Ausländern und ausländischen Arbeitskräften in der Nachbarschaft“ ermittelt. Im Westen Deutschlands traf dies gerade noch auf rund fünf Prozent zu. Betrachtet man die Verteilung der Zustimmung zu Aussagen, die Migrant*innen als Bedrohung eigener Sicherheitsgefühle interpretieren, so bietet sich ebenfalls ein eher gemischtes Bild (Abb. 2).

Ostdeutsche zeigten sich hier zwar deutlich stärker als Westdeutsche dazu geneigt, in ‚Ausländern‘ eine Bedrohung des eigenen wirtschaftlichen und sozialen Status sowie der öffentlichen Sicherheit zu sehen, das Ausmaß dieser Einschätzungen allerdings war eher mit Österreich oder Italien, als etwa mit Ungarn oder Tschechien vergleichbar.

Ostdeutschland in Vermittlerrolle

Das heißt: Ja, es gibt einen deutlichen Unterschied in den Einstellungen in Ost- und Westdeutschland. Aber dieser Unterschied ist keinesfalls die Differenz zwischen Ost- und Westeuropa im Kleinen. Anders gesagt: Die ostdeutschen Bundesländer gehören von den Einstellungen her nicht einfach zu Osteuropa.

Nach den aktuellen Daten der European Value Study liegt die Besonderheit Ostdeutschlands eher darin, dass der Region im europäischen Kontext eine gewisse ‚Vermittlerrolle‘ zwischen Ost und West zugeschrieben werden kann. Trotz der sozialistischen Vergangenheit des Landes und den entsprechend eher geringen Erfahrungen mit Zuwanderung ähneln die hier verbreiteten Einstellungen gegenüber Migrant*innen bereits heute in weiten Teilen denen Westeuropas.

Mercator Forum Migration und Demokratie

Das Mercator Forum für Migration und Demokratie (MIDEM) fragt danach, wie Migration demokratische Politiken, Institutionen und Kulturen prägt und zugleich von ihnen geprägt wird. Untersucht werden Formen, Instrumente und Prozesse politischer Verarbeitung von Migration in demokratischen Gesellschaften.

https://forum-midem.de/

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