Im Dialog zur menschlichen Sicherheit

Annalena Baerbock
Im Dialog zur menschlichen Sicherheit
Autorin: Anna-Lena Limpert 10.11.2022

Auf dem Weg zu einer Nationalen Sicherheitsstrategie hat Außen­ministerin Annalena Baerbock Bürger*innen zum Dialog eingeladen. AufRuhr hat mit drei Teil­nehmer*innen gesprochen: Wie haben sie den Austausch erlebt?

Im ersten Regierungsjahr der Ampelkoalition soll das Außen­ministerium unter Annalena Baerbock eine Nationale Sicherheits­strategie erarbeiten. An ihr wirken neben Ministerien, Bundestag und Expert*innen auch Bürger*innen mit – zuerst im Rahmen von sieben Bürger*innen­dialogen, die im Juli 2022 in verschiedenen Städten Deutschlands statt­gefunden haben. Bei diesem Diskussions­format kamen je 50 Bürger*innen zusammen, die vorher zufällig und repräsentativ für die Gesamt­bevölkerung ausgewählt wurden. Sie sprachen über aktuelle politische Heraus­forderungen der Außen­politik, meist mit einem Schwer­punkt­thema. Einige konnten ihre Ergebnisse vor Ort direkt mit Außen­ministerin Baerbock teilen. Nach Abschluss dieser Dialoge ging es für manche der Teilnehmer*innen dann in die nächste Runde: Aus jeder Stadt wurden einzelne Bürger*innen nach Berlin eingeladen, zu einem Open Situation Room – kurz OSR – im Auswärtigen Amt. Bei einem OSR sollen Gruppen unter Zeitdruck Lösungs­ideen für eine komplexe fiktive Situation finden. In diesem Fall: Wie sollte Deutschland außen­politisch reagieren, wenn ein benachbartes NATO-Land angegriffen wird?

Ende September haben die ausgewählten Bürger*innen die gesammelten Ergebnisse ihrer Dialoge der Außenministerin überreicht. Das Außen­ministerium sei zurzeit dabei, die Nationale Sicherheits­strategie zu formulieren, die „vielen wertvollen Gedanken und Ideen, die die Bürgerinnen und Bürger beigesteuert haben, spielen dabei eine wichtige Rolle“, heißt es. Annalena Baerbock sagt dazu: „Für mich ist das ein partizipativer Prozess für unsere Strategie, aber auch der Kern dessen, was Außen­politik für mich und unser Haus gemeinsam bedeutet. Eben nicht nur, dass wir einen Austausch zwischen Haupt­städten, zwischen Ministern und Ministerinnen haben, sondern zwischen Menschen. Denn es geht um menschliche Sicherheit. Es geht um die Freiheit jedes einzelnen Menschen – bei uns und weltweit.“ Die ausgearbeitete Strategie soll im Frühjahr 2023 veröffentlicht werden.

AufRuhr hat mit drei Teilnehmer*innen gesprochen, die beim Bürger*innen­dialog und dem OSR dabei waren. Welche politischen Fragen beschäftigen sie im Alltag, worüber machen sie sich Sorgen? Wie empfanden sie den Dialog­prozess, und was nehmen sie daraus mit?

Patrizia, 32, aus Karlsruhe: „Eine Gelegenheit, die eigene Meinung kundzutun“

Die Tochter eines Italieners und einer Deutschen wuchs in einer Kleinstadt im Schwarzwald auf und zog vor elf Jahren fürs Studium nach Karlsruhe. Heute unterrichtet die Gymnasial­lehrerin die Fächer Musik und Deutsch. Als die Einladung zum Bürger*innen­dialog in ihrem Brief­kasten lag, war sie zuerst überrascht, dann sehr aufgeregt – vor allem wegen des Treffens mit Außen­ministerin Baerbock, die beim Dialog in Karlsruhe auch ihre Fragen beantwortet hat. „Ich hatte das Gefühl, dass sie die Fragen ernst nimmt“, sagt Patrizia, „das fand ich einen wertvollen Punkt.“

Die Teilnahme am Bürger*innen­dialog war aber nicht das erste Mal, dass Patrizia sich politisch eingebracht hat: Während der Eurokrise wirkte sie an einem deutsch-griechischen Theater­projekt mit, bei Gemeinde­rats- oder Land­tags­wahlen fiebert sie im Rathaus den Ergebnissen entgegen. Besonders am Herzen liegt ihr die Kunst-, Kultur- und Bildungs­politik. Deren Auswirkungen erlebe sie als Lehrerin schließlich tagtäglich. Beim Bürger*innen­dialog in Karlsruhe stand die Debatte über die Wehrhaftigkeit der Bundeswehr im Vorder­grund. „Ich bin ganz unvoreingenommen hinein­gegangen, weil ich mich mit dem Thema bislang nicht so viel beschäftigt hatte“, erklärt die 32-Jährige. Den Dialog habe sie genutzt, um die Ansichten anderer zu hören und sich daraus eine eigene Meinung zu bilden, die sie wiederum geteilt habe. Denn: Gemeinsam nach Lösungen für Sachverhalte zu suchen, sich zu einigen, auch wenn man nicht immer der gleichen Ansicht ist, sich aktiv einzubringen, „das ist für mich Demokratie“, erzählt Patrizia. Deswegen sei auch die Einladung nach Berlin zum OSR für sie eine große Freude gewesen.

Patrizia beschäftigen wegen ihrer Tätigkeit als Musiklehrerin vor allem bildungs- und kulturpolitische Fragen.
Patrizia beschäftigen wegen ihrer Tätigkeit als Musiklehrerin vor allem bildungs- und kulturpolitische Fragen. © Stefanie Loos

Diskutiert wurde an ihrem Tisch im Rahmen des Szenarios auch über Falsch­nachrichten. „Das erleben wir ja aktuell mit der Ukraine und Russland ganz aktiv, insofern kann sich wahrscheinlich jede und jeder damit identifizieren.“ Die Karlsruherin hofft, dass solche Dialog­formate in Zukunft noch häufiger umgesetzt werden, „weil man dadurch die Gelegenheit bekommt, die eigene Meinung kundzutun und ernst genommen zu werden“. Gerade deswegen hätte sie sich bei beiden Formaten auch noch mehr Zeit zum Diskutieren gewünscht. Sie selbst werde ihre Erfahrungen auf jeden Fall weitertragen: Ihren Schüler*innen wolle sie politische Bildung und Teilhabe ermöglichen, dazu habe sie der Dialog inspiriert.

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Brian, 32, aus Görlitz: „Die Politik sollte die Ansichten der Bürger*innen nicht aus den Augen verlieren“

Brian wünscht sich mehr Einsatz im Kampf gegen Cyberattacken – sowohl von der Politik als auch von den Bürger*innen selbst.
Brian wünscht sich mehr Einsatz im Kampf gegen Cyberattacken – sowohl von der Politik als auch von den Bürger*innen selbst. © Stefanie Loos

Brian nimmt häufig an Sitzungen des Ortschaftsrates in Görlitz teil, stellt Fragen, informiert sich über lokale Vorhaben, ist politisch interessiert. Als die Einladung zum Bürger*innen­dialog kam, war für ihn deswegen schnell klar, dass er mitmacht: „Zuerst war ich etwas irritiert, es war komisch, Post vom Auswärtigen Amt zu bekommen. Aber wenn man so eine Chance bekommt, dann sollte man auch teilnehmen, finde ich.“ Der Schwerpunkt des Dialoges in Görlitz war Cyber­security, ein Thema, das den gelernten Bank­kauf­mann und Wirtschafts­informatiker auch sonst beschäftigt. „Ich bin der Meinung, dass wir in Deutschland bislang zu wenig machen – nicht nur die Politik, sondern auch die Bürger*innen“, sagt Brian. Jede*r Einzelne könne sich selbst mehr gegen Cyber­angriffe schützen, erklärt er weiter.

Am OSR habe ihn auch interessiert, Expert*innen kennen­zu­lernen und deren fachkundige Meinung zu verschiedenen Themen zu hören. Das Szenario eines Angriffes auf ein NATO-Land fand Brian sehr passend: „Man hat immer gehofft, dass so was nie passieren wird. Im letzten halben Jahr hat sich mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine gezeigt, dass es passieren kann. Und deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns damit befassen.“

Zwar hätte es im Laufe der Diskussion viele unterschiedliche Ansichten gegeben, die Gruppe habe aber immer wieder zu einem Konsens zusammen­finden können, erzählt Brian. Ihm ist besonders wichtig, dass dieser Konsens nun auch Einfluss auf politische Entscheidungen hat: „Die Politik sollte die Ansichten der Bürger*innen nicht aus den Augen verlieren“, nur weil sie manchmal vielleicht etwas anderer Meinung sind, findet Brian. Er fahre mit einem guten Gefühl zurück nach Görlitz, berichtet er weiter. Und sei gespannt auf die Ergebnisse.

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Xandra, 55, aus Hof: „Solche Formate stärken das, was Demokratie ausmacht“

Xandra ist gelernte Bankkauffrau und arbeitet heute im Bereich Bau­finanzierung. In der Region rund um Hof, wo sie am Bürger*innen­dialog teil­genommen hat, ist sie seit ihrer Kindheit stark verwurzelt. Das Thema, das sie am meisten beschäftige, sei der Umwelt­schutz. „Ich habe schon vor Jahr­zehnten dafür gekämpft, und ich glaube, das ist auch heute Krise und Thema Nummer eins.“ Auch für die Außen­politik. Die Einladung zum Dialog und zum OSR in Berlin hat sie gefreut, weil sie „in der Politik der letzten Jahr­zehnte vermisst habe, dass Politiker*innen auf Augen­höhe mit Bürger*innen kommunizieren“. Oft habe sie sich von oben herab behandelt gefühlt, mittler­weile sei das anders: „Jetzt soll stärker eine Politik gelebt werden, die die Bürger*innen einbindet“, findet Xandra.

Sie wünsche sich dabei eine besonders transparente Kommunikation: „Was macht die Politik, und warum macht sie das?“ In ihrer Gruppe habe es zum fiktiven Szenario des OSR viele verschiedene Meinungen gegeben. Während Xandra von militärischer Abschreckung nichts hält, hätten das viele anders gesehen. Das müsse man in einer solchen Runde aber akzeptieren, sagt Xandra, „es gibt da kein Richtig oder Falsch, das ist eine Einstellungssache“. Xandra hofft, dass auch andere Ministerien die Idee der Bürger*innen­dialoge in Zukunft umsetzen. „Könnten wir doch auch mal mit Herrn Lindner machen“, scherzt sie, kommt aber schnell auf den ernsten Kern der Sache zurück: „Die aktuellen Krisen betreffen alle Lebens­bereiche – Corona, Energie, Klima, Inflation“, da sei es wichtig, entsprechend zu handeln. Sie habe bei den Dialogen den Eindruck gewonnen, dass sich etwas tue. „Zaubern kann keiner. Aber ich fühle mich gut aufgehoben in der aktuellen Regierung“, sagt sie. Denn: „Solche Formate stärken das, was Demokratie ausmacht.“

Für Xandra ist die Klimakrise seit vielen Jahren das drängendste Problem, das es zu lösen gilt.
Für Xandra ist die Klimakrise seit vielen Jahren das drängendste Problem, das es zu lösen gilt. © Stefanie Loos

Die Ergebnisse der Bürger*innendialoge und des OSR wurden der Außen­ministerin von den Bürger*innen im Rahmen einer Veranstaltung Ende September übergeben und vorgestellt – mit der großen Hoffnung, dass sie den Kurs der Außen­politik der nächsten Jahre mitprägen.


Open Situation Room

Die Stiftung Mercator hat dazu beigetragen, dass Beteiligungsformat Open Situation Room in Deutschland zu etablieren. Als moderne Weiterentwicklung des klassischen, im Weißen Haus unter Präsident John F. Kennedy entstandenen Situation Room-Konzepts bietet der Open Situation Room Teilnehmer*innen die Möglichkeit, Antworten auf komplexe Probleme und Fragen gemeinsam mit externen Expert*innen und Praktiker*innen aus verschiedenen Sektoren zu entwickeln. Der Bürger*innendialog zur Nationalen Sicherheitsstrategie ist Teil einer Veranstaltungsreihe, mit der das Auswärtige Amt bis Ende Juli an verschiedenen Orten in Deutschland zur Diskussion über Fragen der nationalen Sicherheit eingeladen hat. An jedem dieser Orte nahmen jeweils 50 zufällig aus dem Melderegister der Stadt ausgewählte Bürger*innen teil, die in ihrer Gesamtheit ein repräsentatives Abbild der Stadtgesellschaft darstellen. Einige von ihnen kamen dann zu einem Open Situation Room in Berlin zusammen.