Auf legalen Wegen nach Europa

Sieben Monate war der Eritreer Merhawi Fsehaye auf der Flucht, bis er in Hamburg ein Zuhause fand. Expert*innen plädieren für neue legale Wege nach Europa. Eine Idee: die ökonomische Logik des Schlepperwesens anders zu nutzen.
„Ich liebe meine Familie sehr, aber ich musste weg.“ So beginnt die Geschichte von Merhawi Fsehaye, die er sich später in einem Buch von der Seele schreiben wird: „Mein Weg in die Freiheit“. Merhawi stammt aus Eritrea, er hat fünf Geschwister. „Finanziell fehlte es uns an nichts“, erzählt er rückblickend. „Wir waren nicht wohlhabend, aber hatten alles, was man zum Leben braucht.“ Warum dann der Heimat den Rücken kehren? „Mein Herz wollte bleiben, mein Kopf nur noch weg“, schildert der junge Mann, damals 15 Jahre alt, sein Dilemma.
Eritrea, an der Ostküste gelegen, ist seit der Unabhängigkeit von Äthiopien ein Kontrollstaat. Der autoritäre Regierungschef Isayas Afewerki herrscht seit 30 Jahren mit harter Hand. Die Folge: Jede*r fünfte Eritreer*in lebt im Ausland. „Es gibt keine Meinungsfreiheit“, erzählt Merhawi aufgebracht und in gutem Deutsch. „Man hat mir meine Kindheit gestohlen“ – in der Schule würden die Kinder geschlagen, und nach der Schulzeit drohe der berüchtigte „National Service“, ein Militärdienst, der junge Männer willkürlich und lebenslang in seinen Fängen halten könne.
„Migration lässt sich eingeschränkt steuern“
„Ich habe meiner Familie nichts gesagt. Sie hätten es mir nicht erlaubt, weil es viel zu gefährlich ist.“ Ohne Abschied und ohne Gepäck hat sich Merhawi heimlich davongemacht. Kein konkretes Ziel vor Augen, bloß weg. Zunächst nur über die Grenze ins Nachbarland Sudan. Allein das gestaltete sich schon schwierig genug: zu Fuß mit der Angst im Nacken vor Entführer*innen, Kriminellen und insbesondere vor den sudanesischen Grenzsoldat*innen, die Flüchtlinge zurückschicken, um Europa zu zeigen, dass sie die illegalen Routen dichtmachen.


Einer von vielen wunden Punkten in der bisherigen Migrationspolitik der EU, findet Petra Bendel. Die Professorin für Politische Wissenschaft ist Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), der sich in seinem Jahresgutachten Afrika und dessen Wanderungsbewegungen angenommen hat. Sie kritisiert die bisherige EU-Politik, die sich lediglich auf die Bekämpfung des Schlepperwesens konzentriert habe, ohne gleichzeitig andere Wege zu eröffnen. Damit würden afrikanische Länder wie in diesem Fall der Sudan zu „Türstehern“ degradiert, die Migrant*innen auf der Suche nach einem anderen Leben ausbremsen. Der Sachverständigenrat hält Migration, zumindest eingeschränkt, für steuerbar. Doch das geht nur, indem man Alternativen findet: „Reguläre Routen und einen regulären Zugang für Migrant*innen nach Europa, zum Beispiel über den Arbeitsmarkt.“
Tatsächlich ist Afrika ein Kontinent in Bewegung. Viele der 1,2 Milliarden Afrikaner*innen sind unterwegs, alleine südlich der Sahara suchen 5,1 Millionen Menschen Zuflucht. Unter den weltweit zehn größten Aufnahmeländern von Migrant*innen sind drei afrikanische Staaten. Afrikaner*innen bewegen sich in der Regel selten weit, 80 Prozent zieht es in einen Nachbarstaat. So auch Merhawis Schwester Asmir, die im Sudan lebt und für ihren Bruder bei seiner Flucht zur ersten Anlaufstelle wurde. Asmir schickte via Handy sofort Geld ins Flüchtlingslager hinter der Grenze, vermittelte den ersten von vielen Schlepper*innen und gewährte ihrem Bruder in Khartum Unterschlupf. Drei Monate versteckte er sich dort in diversen Wohnungen, doch er fühlte sich unwohl als Christ unter Muslim*innen: „Ich war wegen meiner Religion, die mir viel bedeutet, in Gefahr.“
Der Weg nach Europa ist teuer – und gefährlich
Merhawi ist einer von insgesamt wenigen Migrant*innen, die nach Europa auswandern. 540.000 Menschen afrikanischer Herkunft leben derzeit nach Informationen des SVR in Deutschland. Der Weg nach Europa ist für viele gar nicht zu bezahlen. Merhawis Familie hat insgesamt 4.000 US-Dollar an Schlepper*innen gezahlt. Für das Geld hätte er in Eritrea einen eigenen Laden aufbauen können. Wann immer er in Flüchtlingslager gesteckt oder in ein Gefängnis geworfen wurde, besorgten sich Schlepper*innen die Handynummer seiner Familie, trieben direkt vor Ort in Eritrea das verlangte Transit-Geld ein. Erst dann durfte er weiter auf seiner Route durch den Sudan und Libyen, nach Tripolis bis ans Mittelmeer. Merhawi ist in Pick-ups durch die Wüste transportiert worden, mit mehr als hundert anderen Personen unter Planen und Gütern versteckt. Der Lastwagen so voll, dass sich keiner mehr nur einen Zentimeter bewegen konnte. Unendlich viele Stunden lang, ohne einen Tropfen Wasser, geschweige denn etwas zu essen. Die etwas robusteren Männer, die weniger Gefahr liefen, herauszustürzen, standen in der äußersten Reihe, die schwächeren in der Mitte, Frauen und Kinder saßen. „Wie eine Ware fühlte ich mich“, von einem Lastwagen zum nächsten gehoben und verschoben. „Hätte ich gewusst, was mich erwartet, ich wäre vermutlich nicht losgegangen.“
Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration
Unsere Partnergesellschaft Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) ist ein unabhängiges, interdisziplinär besetztes Gremium von Expert*innen, das die Politik handlungsorientiert berät und der Öffentlichkeit sachliche Informationen zur Verfügung stellt.

Internationale Zusammenarbeit gegen das Schlepperwesen
„Wenn Menschen nur die Wahl haben zwischen irregulärer Ausreise und gar nicht zu emigrieren, werden einige es trotzdem versuchen“, sagt Matthias Lücke, wissenschaftlicher Co-Direktor des Mercator Dialogue on Asylum and Migration. MEDAM hat wie der SVR zu den Wanderungsströmen in und aus Afrika geforscht und die Erkenntnisse kürzlich in einem „Assessment Report“ veröffentlicht. „Es gibt noch erheblich Raum nach oben, was ein partnerschaftliches Zusammenarbeiten der EU-Mitgliedsstaaten mit afrikanischen Regierungen angeht“, konstatiert Lücke, der Beziehungen auf Augenhöhe und einen „atmosphärischen Wandel“ für unabdingbar hält. „Als Europäer*in kann man die andere Seite oft an die Wand drücken. Afrikanische Politiker*innen unterschreiben ein Papier, aber das wird nicht immer dazu führen, dass etwas konstruktiv Besseres passiert.“ Zu komplex seien die Situationen, zu unterschiedlich die Bedürfnisse. Oft stellten schon formale Anforderungen unüberwindbare Hürden dar, berichtet Matthias Lücke. „Vor allem nicht akademisch ausgebildete Menschen haben kaum eine Chance“, sagt der MEDAM-Experte. „Sie können keinen Beruf vorweisen, der eins zu eins in ein deutsches Berufssystem passt.“ Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz müsse deshalb um pragmatische Lösungen ergänzt werden.


Arbeitsvisum auf Zeit
„Unser großes Ziel ist es“, sagt SVR-Vorsitzende Petra Bendel, „Schlepper*innen arbeitslos zu machen, aber die ökonomische Logik zu nutzen.“ Ein zentraler SVR-Vorschlag umfasst deshalb ein temporäres Arbeitsvisum mit Kaution. Die Idee dahinter: Anstatt dass Migrant*innen in Schlepper*innen investieren, hinterlegen sie eine Kaution und erhalten ein Arbeitsvisum in Europa auf Zeit. Grundvoraussetzung dafür: Rückkehrbereitschaft der Migrant*innen und Rücknahmebereitschaft des Herkunftslandes. „Wir wollen kein neues Gastarbeitermodell“, stellt Petra Bendel klar. Bei fristgerechter Ausreise würde die Kaution zurückgezahlt. Denkbar sei auch, dass europäische Unternehmen Teile der Kaution übernehmen oder Lösungen zur Reintegration im Herkunftsland begleiten, beispielsweise durch die Unterstützung beim Aufbau eines Geschäfts. Im Idealfall führe dies zu einer zirkulären Wanderungsbewegung: Migrant*innen könnten auf diese Weise ein- und wieder auswandern. Vorteil: Der gefürchtete „Braindrain“, der entsteht, wenn Gutqualifizierte ein Land verlassen, werde verhindert. Wissen, Ausbildung, Kontakte und sogar soziale Normen könnten transferiert werden und positive Entwicklungseffekte auslösen.
Warum so etwas klappen könnte? „Die große Masse der Migrant*innen aus Afrika will auf regulärem Weg einreisen“, sagt Matthias Lücke. Gäbe es mehr Möglichkeiten dafür, würden weniger Menschen Leib und Leben riskieren.
Merhawi hat vier Monate in libyschen Lagern verbracht. Es war die schlimmste Zeit seines Lebens. Prügel, Folter, Durst, Hunger, Hitze sowie Angst vor Krankheiten und dem Tod. „Ich habe Menschen gesehen, die waren nur noch Haut und Knochen.“ Manche vegetierten bereits zwei Jahre lang in Lagern. Sie saßen fest. „Weil ihre Familien nicht genügend Geld zusammenbekommen haben, durften sie nicht weiterreisen.“ Er selbst hat in diesen vier Monaten keine Dusche gesehen, im Schmutz auf bloßer Erde oder verdreckten Matratzen gehaust. Krätze hat er von den unmenschlichen hygienischen Bedingungen bekommen.
Rücküberweisungen als Entwicklungshilfe etabliert
In Tripolis ist Merhawi in eines der berüchtigten überfüllten und klapprigen Holzboote eingestiegen. Nicht weil er es zu diesem Zeitpunkt wollte, es gab schlicht keinen Weg mehr zurück. Er hat die Überfahrt nach Italien überlebt. „Ich bin meiner Familie dankbar.“ Ohne deren finanzielle Unterstützung würde er immer noch in einem Lager festhängen. Mit Bus und Zug fuhr Merhawi von Italien über München nach Hamburg. Als Minderjähriger genoss er in Deutschland einen Sonderstatus. Und doch wurde ihm zunächst nur ein subsidiärer Schutz gewährt. Er reichte Klage ein, und mittlerweile ist er als Flüchtling anerkannt. Zurück nach Eritrea kann er nicht mehr. Mit der Familie telefoniert er alle zwei Wochen, Geld kann er noch nicht nach Hause schicken. Dabei ist das auch ein wesentlicher Gesichtspunkt der Migration.

Mehr als 50 Milliarden US-Dollar überweisen Migrant*innen auf der ganzen Welt zurück an ihre Familien. Diese „Remittances“ stärken das jeweilige Bruttoinlandsprodukt und übersteigen oft das Budget der Entwicklungshilfe. Sie führen dazu, dass Herkunftsländer nicht unbedingt eine Rückkehr befürworten. MEDAM schlägt deshalb Kompensationszahlungen vonseiten der EU vor, wenn wegen der Rückkehr von Migrant*innen Zahlungen in die Heimat ausblieben. Die Rückführung, erklärt Matthias Lücke, sei für die gesellschaftliche Akzeptanz der Migrationspolitik in Europa von enormer Bedeutung: „Wir müssen auch Nein sagen können, wenn jemand nach Europa einwandern möchte.“
In Zeiten der Pandemie
Den Wissenschaftler*innen ist durchaus bewusst, dass es durch die coronabedingte Rezession schwer werden könnte, die Bedingungen für afrikanische Arbeitskräfte in Europa zu verbessern. Jedoch zeigt sich gerade jetzt besonders gut, dass globale Probleme nicht von einzelnen Staaten allein bewältigt werden können. Migration ist per Definition transnational, zwischenstaatliche Zusammenarbeit ist nötig. Matthias Lücke empfiehlt, nicht auf die eine große Lösung zu warten, sondern die Diskussion in viele kleine pragmatische Schritte umzusetzen und „das (zu) tun, was vernünftig ist“.
Merhawi hatte vor dem Ausbruch der Pandemie seinen ersten allgemeinen Schulabschluss bestanden und einen Vollzeitjob. Aktuell ist er wieder auf der Suche. Am liebsten würde er Kfz-Mechatroniker werden. „Ich fühle mich hier wohl“, sagt der junge Mann, 5.000 Kilometer von seinem Zuhause entfernt. „Freiheit ist doch das Wichtigste.“
Mercator Dialogue on Asylum and Migration
Der Mercator Dialogue on Asylum and Migration (MEDAM) ist ein Forschungs- und Beratungsprojekt mit dem Ziel, Forschungslücken zur Asyl- und Migrationspolitik zu schließen und Handlungsstrategien aus primär wissenschaftlicher Sicht zu erarbeiten.
https://www.medam-migration.eu