Bildung nach dem Zufallsprinzip?
Ob junge Zuwander*innen Zugang zum beruflichen Bildungssystem erhalten, hängt oft vom Engagement einzelner Personen ab. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie aus dem Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Die Zuwander*innen stehen vor hohen Hürden – bürokratischen und weichen.
Amir hat geschafft, wovon viele junge Zuwanderer und Zuwanderinnen träumen: Er absolviert derzeit bei einem großen Autokonzern eine Ausbildung zum Elektroniker zur Automatisierungstechnik. Amir stammt ursprünglich aus Afghanistan. Er ist 20 Jahre alt und kam 2015 nach Chemnitz. Über die Motive seiner Flucht schweigt er – das hat asylrechtliche Gründe. Sein richtiger Name lautet anders; wir nennen ihn Amir, um seine Identität zu schützen.
Keine Angst vor Abschiebung
Der junge Afghane befindet sich seit 2019 in „Ausbildungsduldung“. Sie nimmt ihm die ständige Sorge vor einer Abschiebung. „Ich hatte wirklich Angst, weil eine Ausbildung zu machen ist kein richtiger Grund, in Deutschland zu bleiben.“ Als Azubi darf er nun – ein erfolgreicher Abschluss vorausgesetzt – die drei Jahre seiner Ausbildung plus zwei Jahre hierbleiben. Allein der Weg zur Ausbildung dauere mindestens zwei Jahre und „selbst bei einem idealtypischen Ausbildungsverlauf nehmen Sprach- und Vorbereitungskurse und die Ausbildung etwa fünf Jahre in Anspruch.“ Das ist ein Ergebnis der heute vom Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) veröffentlichten Studie „Zugang per Zufallsprinzip? Neuzugewanderte auf dem Weg in die berufliche Bildung“. Lena Rother und Simon Morris-Lange sind der Frage nachgegangen, welche Chancen auf Teilhabe am Arbeitsleben die mehr als eine Million jungen Zuwander*innen haben, die seit 2014 nach Deutschland geflüchtet oder aus einem anderen EU-Land gekommen sind. Im Fokus ihrer Analyse stehen Bayern und Sachsen. Sie analysierten Bundes- und Landesregelungen und führten mit 16 jungen Neuzugewanderten Interviews.
Bürokratische Hürden
„Der Zugang zur beruflichen Bildung ist in einem hochspezialisierten Land wie Deutschland nicht so einfach“, bilanziert Lena Rother. Junge Menschen wie Amir ständen zum einen vor „harten Hürden“ – die insbesondere auf Ungewissheiten bezüglich des Aufenthaltsstatus beruhten. Ob jemand einen Zugang zu einem Sprachkurs, einem Betriebspraktikum, einer Berufsschule erhalte, liege an Rahmenbedingungen, welche die jungen Zuwanderinnen und Zuwanderer nicht selbst beeinflussen könnten. So spielten das Bundesland, in dem sie leben, ihr Alter und insbesondere ihr Aufenthaltsstatus eine Rolle – erst mit einem genehmigten Asylantrag sei beispielsweise die Arbeitserlaubnis gegeben, welche bei einer dualen Ausbildung wichtig ist.
Amir hatte als minderjähriger Geflüchteter einen unschätzbaren Vorteil: Er war zumindest vorläufig gegen Abschiebung geschützt. Mit dem 18. Geburtstag und der Volljährigkeit ändert sich allerdings schlagartig vieles. Die Studie benennt es: „Dann müssen sie aus der Wohngemeinschaft ausziehen und sind für sämtliche Behördengänge selbst verantwortlich.“ Amir hatte Glück: „Ich durfte bis zum Ende der Schule in meiner Wohngruppe bleiben“, erzählt der heute 20-Jährige. Das war ungewöhnlich und für ihn entscheidend, denn dadurch profitierte er länger von einer engmaschigen Betreuung, wie sie eigentlich nur minderjährigen Zuwanderern und Zuwanderinnen zuteil wird.
Hohe Eigenmotivation
So schaffte Amir innerhalb von drei Jahren nicht nur den Haupt-, sondern auch den Realschulabschluss. Noch während der zehnten Klasse hatte er sich auf mehrere Ausbildungsplätze beworben. Eine schwierige Zeit sei das gewesen, meint er rückblickend. Denn er habe in einem Minijob gearbeitet, um etwas Geld dazuzuverdienen, gleichzeitig musste er für die Schulprüfungen lernen und zudem auch noch Vorstellungsgespräche vorbereiten. Sein Lohn: Zusagen für zwei Ausbildungsstellen.
Als Kind war Amir in den Iran geflohen, hatte dort acht Jahre lang eine Schule besucht, bis er mit 14 arbeiten und Geld verdienen musste. Als er schließlich in Deutschland ankam, stand für ihn fest: „Ich wollte die deutsche Sprache sehr schnell lernen und habe mir immer selber in der Bibliothek Bücher gesucht, gelesen und in der Schule Fragen gestellt.“ Hoch motiviert seien die jungen Zuwander*innen sehr häufig. „Sie wollen am liebsten gleich loslegen“, erzählt Lena Rother. Doch mit der Zeit würden manche auch mürbe. Rother berichtet von einem jungen Afghanen, der unbedingt Medizin studieren wollte und nun mit einer Ausbildung zum Krankenpfleger vorliebnehmen muss. Ein junger Mann aus Sierra Leone sei mittlerweile bereit, jeden erdenklichen Ausbildungsplatz anzunehmen – egal, welcher Fachrichtung.
„Harte bürokratische Hürden“ manifestierten sich laut der SVR-Analyse auch aufgrund deutlicher landes-, mitunter gar kommunalpolitischer Unterschiede. So endet in Sachsen die Schulpflicht bereits mit 18 Jahren, in München und teils auch andernorts in Bayern reiche sie aber bis zum 21., in Sonderfällen sogar bis zum 25. Lebensjahr. „Eine Einbindung in eine Regelschule hat sich sehr bewährt“, stellt Sozialwissenschaftlerin Rother fest. Auch Amir hatte es in der verschulten Struktur einfacher.
Wohnsituation bremst Lerneifer
Darüber hinaus gebe es auch viele „weiche Hürden“, bilanzieren Rother und Morris-Lange. Darunter fällt alles, was nicht in Gesetzen verankert ist, sich aber trotzdem als mühevoll entpuppt. Wie zum Beispiel die Wohnsituation in einer Sammelunterkunft, die wenig Rückzugsmöglichkeiten erlaubt. „Auf den Jugendlichen lastet ein enormer Druck. Wie sollen sie das immense Lernpensum bewältigen?“, beschreibt Lena Rother die Situation. Und wo dann in einer vollen Geflüchtetenunterkunft mit Mehrbettzimmern den Raum fürs Vokabellernen finden?
Amir zählt denn auch bei der Frage, wer ihm am meisten geholfen habe, seinen Betreuer aus der Wohngruppe, seine erste Deutschlehrerin aus einem Verein sowie eine Pädagogin der Realschule auf. Gerade für minderjährige Migrant*innen seien Sozialarbeiter*innen und Engagierte in Schulen und Behörden, aber auch Ehrenamtliche mit Abstand „die wichtigsten Menschen“, sagt Studienautorin Rother. Sie lotsten die Neuankömmlinge nicht nur durch den Paragrafendschungel; sie seien auch die Mutmacher*innen, damit diese sich nicht vorschnell mit Jobs im Niedriglohnsektor abfänden.
Vernetzung und Betreuung
Amirs Geschichte über seine berufliche Bildung endet also mit einem vorläufigen Happy End. Und wie könnte sich die Situation für alle Neuzugewanderten verbessern lassen? Lena Rother und Simon Morris-Lange haben herausgefunden, dass Gesetzesänderungen alleine nicht ausreichen, um ein Recht auf Bildung flächendeckend umzusetzen. Darüber hinaus braucht es vielfältiges Engagement. Die Studienautoren sehen hier zwei Potenziale: Ein Aspekt sei mehr Vernetzung zwischen den einzelnen Bildungsangeboten, die vor allem über die Kommunen initiiert werden solle. Daneben könne eine kontinuierlichere engmaschige Betreuung von auch über 18-jährigen Zugewanderten helfen. Hier spielten Einzelpersonen eine tragende Rolle, da sie die Neuankömmlinge immer wieder bestärken – und ihnen dabei helfen, verschlossene Türen doch zu öffnen.
Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration
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