Die EU als nachnationale Demokratie

Europakarte mit EU-Flagge
Die EU als nachnationale Demokratie
Autor: Matthias Klein 27.10.2017

Für seinen Roman „Die Hauptstadt“, in dem er eine Geschichte rund um die EU erzählt, bekam er kürzlich den Deutschen Buchpreis. Mit einem Mercator Senior Fellowship arbeitete Robert Menasse an der Entwicklung eines europäischen Demokratiemodells. Im Interview kritisiert er, die EU habe in der jetzigen Verfasstheit ein eklatantes Demokratiedefizit – und fordert eine „nachnationale Demokratie“.

Bürokratiemonster, abgehobene Beamte, weltfremde Entscheidungen, fehlende demokratische Legitimation: Wenn man an die Europäische Union denkt, fallen einem viele oft gehörte Kritikpunkte und Klischees ein. Sie haben sich lange mit der EU befasst und sie von innen kennengelernt – was trifft davon eigentlich wirklich zu, Herr Menasse?

Robert Menasse: Der wichtigste Kritikpunkt ist das demokratiepolitische Defizit – und das ist kein Klischee, das ist eindeutig gegeben. Die EU ist ein politischer Zwitter. Die in Verantwortung stehenden Menschen sind zwar demokratisch legitimiert, denn die Staats- und Regierungschefs, die letztlich im Rat die Entscheidungen treffen, sind in ihren Heimatländern gewählt worden. Gleichzeitig blockieren sie aber eine gesamteuropäische Entwicklung, weil sie ja nur national legitimiert sind und für ihre Wähler die Chimäre aufrecht erhalten, dass sie nationale Interessen verteidigen. An diesem Widerspruch, dass in einer supranationalen Institution nationale Interessenspolitik gemacht wird, scheitert alles – eine europäische Demokratie, europäische Öffentlichkeit, Transparenz, Partizipation der Bürger. Alle Krisen, die wir momentan nicht lösen können, gehen auf diesen Widerspruch zurück.

Sprechen Sie damit beispielsweise an, dass es keine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik gibt?

Menasse: Ja. Seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre macht die EU-Kommission immer wieder Vorschläge für eine gemeinsame europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik. Die Fakten liegen ja seit langem auf dem Tisch, man kennt seit langem Länder und Ursachen für große Flucht- und Migrationsbewegungen. Aber im Europäischen Rat wurden und werden alle Papiere zerrissen. Warum? Die Staats- und Regierungschefs trauen sich nicht, ihren nationalen Wählern die Notwendigkeit einer gemeinsamen Lösung zu erklären. Alle wollten sich abschotten, Griechenland und Italien mit diesem Problem alleine lassen.

Als dann im Spätsommer 2015 der massenhafte Durchmarsch der Flüchtlinge stattfand, gab es keine europäische Rechtsgrundlage, auf deren Basis darauf reagiert werden konnte. Die Staaten haben individuell gehandelt – manche haben Flüchtlinge aufgenommen, andere nicht. Die einen waren bald überfordert, die anderen unsolidarisch und aggressiv, forcierten Ressentiments, Xenophobie und Rassismus. Sie haben nicht auf die Ängste der Bürger gehört, sie haben sie geschürt. Sie machten das, wogegen die EU gegründet wurde. Ich verstehe alle Bürger, die sagen, die EU ist in der jetzigen Verfasstheit ein System, das nicht wirklich funktioniert.

Robert Menasse

Robert Menasse lebt als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien.

Parallel werden separatistische Bewegungen in mehreren Ländern lauter – was bedeutet das für Europa?

Menasse: Wer die Nationalstaaten verteidigt, der verhindert, die EU demokratischer zu machen. Auf die Abspaltungsbewegungen in mehreren Ländern reagiert die EU-Kommission meiner Meinung nach vollkommen falsch. Viele Menschen wollen zwar den Nationalstaat verlassen, aber sie wollen in einer autonomen Region Teil der EU sein. Wenn Regionen aus ihrem Staat ausbrechen wollen, heißt das, dass der Nationalstaat nicht mehr funktioniert. Die EU müsste das akzeptieren. Aber die EU-Kommission geht vor dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs in die Knie. Diese lehnen Abspaltungen natürlich ab. Die Vertreter der Nationalstaaten haben in der EU zu viel Macht – und das, obwohl die Grundidee Europas ja ist, die Nationalstaaten zu überwinden.

In Ihrem Mercator Senior Fellowship haben Sie sich mit der Entwicklung eines europäischen Demokratiemodells beschäftigt. Sie kritisieren das jetzige System – wie könnte es besser werden? 

Menasse: Ich kann die Erkenntnisse meiner Recherchen in einem Kalenderspruch zusammenfassen: Verteidige die europäische Idee, entwickele eine wünschenswerte Vision und kritisiere den Status quo gnadenlos. Ich stelle meine Überlegungen unter den Arbeitstitel der nachnationalen Demokratie. Dazu gehören einige Aspekte. Ein wesentlicher ist, dass die Regionen die Verwaltungseinheiten werden sollten, nicht mehr die Nationalstaaten. Die Regionen sind einigermaßen ähnlich groß, das würde das Problem des unterschiedlichen Gewichts auflösen. Bislang macht es ja einen großen Unterschied, ob man ein großes Land wie Deutschland oder ein sehr kleines wie Zypern vertritt.

Und: Die EU ist zwar ein Friedensprojekt, aber das ergibt nur Sinn, wenn man sozialen Frieden mitdenkt. Ich schlage vor, mit einer europäischen Arbeitslosenversicherung zu beginnen. Jeder Arbeitslose würde zu Beginn beispielsweise 50 Euro aus Brüssel bekommen. Dieses Geld würde dann zwar mit dem jeweiligen nationalen Arbeitslosengeld verrechnet, aber es wäre ein sehr wichtiges Signal. So etwas kann wachsen und zu einem Netz für alle Bürger werden. Nach und nach könnte man so die riesigen Unterschiede im sozialen Netz zwischen den Staaten abbauen. Noch weiß keiner, wie genau dann letztlich eine nachnationale Demokratie aussehen könnte. Es gibt gute Gründe für Phantasielosigkeit, aber es gibt keine guten Gründe, nicht trotzdem zu phantasieren. Während meines Fellowships bin ich mit vielen Menschen in Kontakt gekommen, von deren Arbeit ich vorher nichts wusste und zu denen ich bis heute Kontakt habe. Viele Menschen arbeiten an interessanten Ideen und Projekten – aber in den Medien spiegelt sich das bislang nicht wider.

Sie haben unter anderem in Brüssel recherchiert – welchen Eindruck haben Sie von den europäischen Beamten bekommen, die dem Klischee nach so weltfremd sein sollen?

Menasse: Wenn man mit den Beamten der Kommission spricht, bekommt man ein Gefühl, wie wunderbar eigentlich alles sein könnte. Das Klischee von den weltfremden Beamten ist schlichtweg dumm. Die Beamten sind hochqualifiziert und machen tolle Arbeit. Aber sie können auch nur das machen, wofür sie die Kompetenz und Legitimation aus den Mitgliedstaaten bekommen. Alles andere wird dort abgeschmettert. Deshalb müssen die Beamten eine bewundernswerte Frustrationstoleranz mitbringen.

Das Schwein ist in der EU-Kommission ein Querschnittsthema, je nachdem, ob es im Stall steht, im Schlachthaus ist oder exportiert werden soll, sind unterschiedliche Direktionen zuständig.

In Ihrem preisgekrönten Roman erzählen Sie eine Geschichte rund um den Schweinefleischexport. Was lässt sich daran so für die EU Typisches verdeutlichen? 

Menasse: Das Schwein ist in der EU-Kommission ein Querschnittsthema, je nachdem, ob es im Stall steht, im Schlachthaus ist oder exportiert werden soll, sind unterschiedliche Direktionen zuständig. Diese Direktionen haben unterschiedliche Interessen, komplizierte Einigungsprozesse sind nötig. Das Schwein ist deswegen exemplarisch – und noch dazu metaphorisch aufgeladen. Auf Vermittlung der Stiftung Mercator habe ich eine Schweinemast in China besucht. Als ich dafür anfragte, schrieben mir die Chinesen zunächst, es handele sich wohl um einen Übersetzungsfehler, dass ich einen „Schweinemastbetrieb“ sehen wolle. Aber nein, ich wollte mir das ansehen. Es war sehr beeindruckend. Der Betrieb war unfassbar riesig. Und trotz dieser Dimensionen kann China die Nachfrage auf dem Binnenmarkt nicht bedienen, weil dieser so riesig ist.

Hier kommt die EU ins Spiel, die widersprüchlichen Interessen: Die einen wollen die Schweineproduktion reduzieren, um den Preisverfall auf dem europäischen Binnenmarkt zu stoppen, die anderen, die eine große Schweineproduktionsindustrie haben, wollen mit europäischer Förderung die Produktion steigern, wegen der Aussicht auf den chinesischen Markt. So konnte die Kommission keinen gemeinsamen Vertrag mit China verhandeln, die einzelnen Staaten sind in brutale Konkurrenz gegeneinander getreten, und das fand ich so typisch für die inneren Widersprüche europäischer Politik, das mir klar war: Das ist eine Struktur, an der entlang ich meinen Roman aufbauen kann.

Bisweilen ist die Rede davon, Europa brauche ein neues Narrativ, um die Menschen zu begeistern. Wie stehen Sie dazu?

Menasse: Ich halte das einfach für Quatsch. Es gibt ja ein Narrativ, und es könnte schöner nicht sein. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalismus ein geeintes, nachnationales Europa aufzubauen, in dem wir auf der Basis der Menschenrechte in Frieden und Würde leben können. Wer bitte will ernsthaft sagen, das wolle er nicht? Und im Lauf der Entwicklung der EU ist etwas Interessantes dazu gekommen: die Herausforderungen durch die Globalisierung. Globalisierung bedeutet ja im Grunde nichts anderes als Sprengung aller nationaler Grenzen. Das muss man gestalten, sonst muss man es erleiden. Und wer bitte hätte in Hinblick auf diesen Anspruch eine bessere Expertise als die EU? Denn die EU entwickelt seit Jahrzehnten ein System transnationaler und nachnationaler Politik, Europa hat supranationale Institutionen und auch den Anspruch der Verflechtung von Nationalstaaten. Die EU ist nicht nur die logische und vernünftige Lehre aus der Geschichte, sie könnte, wenn sie wollte, auch die Avantgarde in diesen Zeiten der Globalisierung sein.

Mercator Fellowship-Programm

Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideenreich einem Forschungs- oder Praxisvorhaben zu widmen.

www.stiftung-mercator.de