Von wegen ganz weit weg

EU Parlament in Brüssel
Von wegen ganz weit weg
Autorin: Sophie Pornschlegel 13.08.2019

In den kommenden Monaten stehen in Brüssel viele wichtige Entscheidungen an. Auch dabei wird deutlich: Brüssel ist im Grunde wie jede andere politische Hauptstadt, berichtet Sophie Pornschlegel. Es passiert kaum etwas, was man nicht mitbekommen kann.

Der Juli war alles andere als ruhig in Brüssel. In der ersten Woche fanden die Verhandlungen für die “Top Jobs” in den EU-Institutionen statt, knapp eine Woche später hielt Ursula von der Leyen ihre Rede vor dem europäischen Parlament in Straßburg, um als Kommissionspräsidentin gewählt zu werden. Durch die Wahl von der Leyens und der Debatten rund um den Spitzenkandidaten-Prozess gingen die anderen Personalien etwas unter. Doch diese wurden in der EU-Hauptstadt ebenso diskutiert: Wird der belgische Premierminister Charles Michel als Präsident des europäischen Rates sich durchsetzen können trotz seines – im politischen Kontext – jungen Alters? Welche Zinspolitik wird man von Christine Lagarde als neue EZB-Präsidentin erwarten können? Und wie wird sich die Direktheit und Ehrlichkeit des neuen Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell auf die europäische Diplomatie auswirken?

Einige Tage später waren es die Neuigkeiten aus London, die in aller Munde waren: Boris Johnson wurde zum neuen Premierminister gewählt. Als früherer EU-Korrespondent für die britische Tageszeitung “Daily Telegraph” hat sich Johnson alles andere als beliebt gemacht in Brüsseler Kreisen. Denn: Mit Johnson ist die Wahrscheinlichkeit eines No-Deal-Brexits – die schlechteste aller Optionen für alle Parteien – größer geworden. Und die Chance, einen geordneten und friedlichen Brexit – und gute zukünftige Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien zu entwickeln – schlechter geworden.

Leerer Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Brüssel.
Plenarsaal des Europäischen Parlaments. © Getty Images

Hektischer Herbst

So ereignisreich der Juli war, so ruhig wurde der August in Brüssel. Während der Sommerpause leert sich die Stadt, das europäische Parlament tagt nicht mehr und alle fahren mindestens drei Wochen nach Hause oder in den Urlaub. Die einzigen, die noch bleiben, sind die Belgier selbst, wenn diese nicht auch im Urlaub sind. Im August wird einem wieder klar, dass Brüssel auch die Hauptstadt Belgiens ist und nicht nur die der EU und der NATO. Diese längere Pause hat einen guten Grund, denn die Herbstmonate in Brüssel sind stets hektisch – und in diesem Jahr ganz besonders.

Inhaltlich wird die Europäische Union im Herbst die Ärmel hochkrempeln müssen.

Im September und Oktober stehen die Anhörungen im Europäischen Parlament der verschiedenen Kommissare an, und Ende Oktober dann die Wahl des neuen “Collège”, der neuen Kommission. Ursula von der Leyen hat sich als Ziel gesetzt, eine Gender-Balance in der Kommission zu schaffen. Hier wird man sehen, ob die Mitgliedstaaten mitspielen werden. Am 1. November nimmt die neue Kommission ihre Arbeit auf.

Inhaltlich wird die EU im Herbst die Ärmel hochkrempeln müssen: Neben den dauerhaften Krisenthemen wie der nächsten Brexit-Deadline am 31. Oktober oder der Migrationspolitik steht – dank des wachsenden gesellschaftlichen Drucks – auch Klimapolitik weit oben auf der Agenda. Zwar gibt es schon einige Anhaltspunkte wie die “strategische Agenda” des europäischen Rates, die Agenda-Punkte der finnischen Ratspräsidentschaft oder die “politischen Leitlinien” von der Leyens, doch die Ausarbeitung der Prioritäten für die nächsten fünf Jahre steht noch bevor. Schließlich werden einige nationale Wahlen im Herbst die politischen Kräfte im europäischen Rat beeinflussen: Im September stehen vorgezogene Wahlen in Österreich an, im November wählen Polen und Rumänien und eventuell wieder Spanien, da der jetzige Premierminister Pedro Sánchez es nicht geschafft hat, eine Koalition zu bilden.

Innenpolitik zweitrangig

Als neu Zugezogene wird einem schnell bewusst: Brüssel ist im Grunde wie jede andere politische Hauptstadt. Es gibt die politischen Institutionen und Prozesse, die bekannten Polit-Figuren und die Trend-Themen. Die nationalen Präferenzen spielen zwar in allen Entscheidungen eine wichtige Rolle, denn ohne gemeinsame Positionen zwischen den Mitgliedstaaten kann im europäischen Rat kein Konsens gefunden werden. Und doch spielt die nationale Ebene im Brüsseler Alltag eine zweitrangige Rolle. Es ist und bleibt unmöglich, den innenpolitischen Debatten in 27 Ländern zu folgen – insbesondere, wenn man die Sprachen nicht spricht.

Aussicht auf Brüssel während der Morgendämmerung
© Getty Images

In Berlin „schwappt“ ab und zu ein EU-Thema in die nationale Debatte, zuletzt um die Wahl von der Leyens, manchmal auch zu einer kontroversen EU-Gesetzgebung, Stichwort „Glyphosat“ oder „Upload-Filter“. Diese auf nationaler Ebene oft zweitrangigen Themen sind hier Alltagsgeschäft und werden in aller Länge und Breite (aus)diskutiert. Auch thematisch merkt man schnell, in welchen Bereichen die EU mehr Kompetenzen und Spielraum hat: Debatten rund um die Industrie- und Wettbewerbspolitik, die Digitalisierung oder Handelspolitik spielen eine wichtigere Rolle als Rentenpakete.

Tweets im Minutentakt

Auch gibt es – ganz ähnlich wie in Berlin oder Paris – die eigenen Polit-Stars und Skandale. Die neue Stelle des ehemaligen Generalsekretärs der Kommission, Martin Selmayr, wurde zuletzt viel kommentiert: Auf welche Top-Position schielt er von seinem neuen Wiener Büro aus? Was es in Brüssel allerdings nicht gibt: öffentliche Debatten zur Zukunft von Parteien und Kommentare zu Lokalnachrichten. Zwar werden nach der Europawahl die neu zusammengestellten Fraktionen sowie die neu gewählten Ausschüsse im europäischen Parlament wichtige Gesprächsthemen – aber die Zukunft der Sozialdemokratie ist beispielsweise kein Thema.

Populist*innen möchten, dass die EU möglichst konspirativ wirkt – „die da oben in Brüssel entscheiden über unsere Köpfe hinweg‘‘. Aufgrund ihrer einzigartigen Struktur funktioniert die EU nicht so wie eine nationale Demokratie – und muss mit viel diverseren Konfliktlinien umgehen können. Das macht das EU-Gefüge von Natur aus etwas komplex. Und doch gibt es in Wirklichkeit wenig, was man nicht mitbekommen könnte: Die Brüsseler Korrespondenten tweeten im Minutentakt bei wichtigen Verhandlungen im europäischen Rat und Zeitungen wie „Politico Europe“ sind am Puls der EU-Politik. Brüssel ist in diesem Sinne eine Hauptstadt wie jede andere – nur viel internationaler.

Connecting Europe

Das Projekt Connecting Europe will die Kluft zwischen der EU und ihren Bürger*innen über­brücken und aktives Engagement von Zivil­gesellschaft, Aktivist*innen, Bürger*innen, Think Tanks und der akademischen Welt in Entscheidungs­prozessen der EU ermöglichen. Connecting Europe ist eine Initiative vom European Policy Center (EPC) und von uns.

https://www.epc.eu


 

Logo connecting europe