Wie China und Deutschland durch Stiftungen voneinander lernen – Ein Reisebericht
Interkultureller Austausch zwischen China und Deutschland ist vor dem Hintergrund aktueller globaler Krisen wichtiger denn je. In diesem Geiste besuchte eine Gruppe von Generalsekretär*innen chinesischer Stiftungen 2023 Deutschland. Diese Delegation traf Vertreter*innen aus der Zivilgesellschaft, insbesondere aus Stiftungen und Verbänden, der Wissenschaft und der Landespolitik in Berlin, Halle (Saale) und Essen. Die Delegationsleiterin Prof. Dr. Jia Xijin von der renommierten Tsinghua-Universität in Peking beschreibt in ihrem Gastbeitrag für das AufRuhr-Magazin, wie sie den Besuch in Deutschland wahrgenommen hat.
Nachhaltigkeit scheint im Zentrum der Arbeit deutscher Stiftungen zu stehen. Der Bundesverband Deutscher Stiftungen gab im Gespräch mit unserer Reisegruppe folgende Merkmale einer Stiftung an: Sie soll einen Zweck besitzen, den die Stifter*innen vorgegeben haben; ihr Vermögen soll diesem Zweck gewidmet sein und durch eine entsprechende Struktur verwaltet werden. Und sie soll nachhaltig sein. Daher kann der Zweck einer Stiftung, so er einmal festgelegt wurde, nicht mehr geändert werden.
Nachhaltigkeit als Basis
Dass Stiftungen in Deutschland mit einem bestimmten Zweck und dem Willen der Stifter*innen auf ewig verbunden bleiben, wirkt sich auf deren Tätigkeit aus. Gleichzeitig schränkt diese strenge Regulierung die Flexibilität von Stiftungen ein. Entsprechend hat der Gesetzgeber in den vergangenen Jahren damit begonnen, das Stiftungsrecht im bürgerlichen Gesetzbuch zu überarbeiten.
In China erfordert die Gründung einer Stiftung zunächst ein Grundkapital und die Zustimmung der zuständigen Behörden. Ihrer Arbeit werden Grenzen gesetzt, so z.B. durch die Höhe der jährlichen Verwaltungskosten und Gehälter der Mitarbeiter*innen oder dem Ausgabenanteil für gemeinnützige Zwecke. Spender*innen in China ziehen es daher vor, mit geringerem Grundkapital zu gründen und anschließend über Drittmittel gemeinnützige Projekte umzusetzen.
Prof. Jia Xijin ist Dozentin an der School of Public Policy and Management der Tsinghua-Universität in Peking. Sie ist Vizepräsidentin des dort ansässigen Instituts für Philanthropie. Ihre Forschungsinteressen sind Ethik im öffentlichen Raum, Zivilgesellschaft und Regierungsführung. Prof. JIA wurde an der Juristischen Fakultät der Peking-Universität in Soziologie promoviert. Sie war Gastwissenschaftlerin an der Harvard University, der London School of Economics und der Chinese University of Hong Kong.
Außerdem erleichtern in China technische Innovationen die gesellschaftliche Teilhabe. Chinesische Stiftungen wussten diese zu nutzen: von Crowdfunding über Tage der Wohltätigkeitsaktionen bis zu immer komfortableren Möglichkeiten zu spenden. Aber worauf zielt unser Handeln für den wohltätigen Zweck? Beim Streben der Stiftungen nach mehr Gemeinwohl und nachhaltigen Zielen sollten wir mehr von der Werteebene aus denken.
Solidarität in der Praxis
Im Austausch wurde uns auf chinesischer Seite schnell klar, wie zentral der Begriff der Solidarität in der deutschen Gesellschaft ist. Schon die Deutsche Botschaft gab uns vor dem Abflug drei Worte mit auf den Weg, um Deutschlands Grundwerte greifbar zu machen: Freiheit, Offenheit und Solidarität. Wir lernten, dass es der deutschen Seite bei Solidarität um die Brüderlichkeit gegenüber den Mitmenschen geht. Sie scheint fester Bestandteil des deutschen Selbstbildes zu sein.
Während der gesamten Reise konnte unsere Gruppe immer wieder erfahren, dass für die deutschen Gesprächspartner*innen Solidarität die Verbundenheit von Menschen bedeutet. Diese Verbundenheit unterscheidet sich sowohl von einer stark individualisierten Gesellschaft wie in den Vereinigten Staaten als auch von einer, in der das Individuum bedeutungslos ist. Sie stellte sich uns als die Kombination dar der negativen Freiheit, die Rechte eines anderen nicht zu verletzten, und der positiven Freiheit, mit Rechten gegenseitig ausgestattet zu sein.
Der deutsche Solidaritätsbegriff weist aus meiner Sicht zwei wichtige Merkmale auf: 1. den Pluralismus und 2. eine Debattenkultur. Es müssen also unterschiedliche Subjekte mit unterschiedlichen Werten vorhanden sein, die die Möglichkeit haben, durch Debatten und Kompromisse einen gesellschaftlichen Konsens zu erwirken. Die Diskussionen zu einer Vielzahl öffentlicher Themen sind in Deutschland besonders ausführlich. Gesellschaftliche Entwicklung wird verstanden als ein Prozess zur Herstellung gesellschaftlicher Verträge auf der Grundlage eines Wertekonsenses.
Auch China ist eine Gesellschaft, in der Beziehungen betont werden. Allerdings basiert die chinesische Traditionsgesellschaft auf Beziehungen von Bekannten. Sie geht auf Verwandtschafts- und Ortsbeziehungen zurück, die lediglich Schicht für Schicht erweitert werden. In einer solchen Gesellschaft ist es schwierig, Vertrauen unter Fremden als gleichberechtigten Personen, ja konkret „eine Öffentlichkeit“ aufzubauen. Eine soziale Ordnung zu ermöglichen, die verschiedene Werte umfasst, und daraus eine soziale Gemeinschaft zu entwickeln, die auf der Würde der Einzelnen basiert, ist eine wichtige fortdauernde Aufgabe für Chinas Gesellschaft.
Von Rationalität und Reflexion
Die von den Reiseteilnehmer*innen am häufigsten genannten Stichworte am Ende der Reise durch Deutschland waren Rationalität und Reflexion. Rationalität bedeutet einerseits der Wahrheit ins Auge zu sehen und die Dinge zu studieren, um Erkenntnis zu gewinnen. Sie spiegelt sich insbesondere im Ringen um öffentliche Fragen. Andererseits steht diese Rationalität für die rational-deduktive Denkweise der deutschen Philosophie, im radikalen Unterschied zur britischen und US-amerikanischen Tradition. Übertragen auf die Praxis zeigt sie sich in der Geplantheit der Gesellschaft.
Die Reflexionsfähigkeit der deutschen Gesellschaft bietet ihr anscheinend die Möglichkeit, die sozialen Gefahren eines rationalen Gesellschaftsplans zu korrigieren. Vernunft mit Blick auf die eigene Geschichte bedeutet hier nicht, ihre Narben zu vertuschen, sondern sie zu konfrontieren. Sie bedeutet, Verbrechen zuzugeben. Die Reflexion Deutschlands über seine Geschichte ist in jedem Winkel seiner Städte angekommen: das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, die Gedenkparks für verschiedene Opfergruppen, die Stolpersteine auf den Straßen, die Überreste der Berliner Mauer und die ehemaligen Kontrollpunkte zwischen Ost und West.
Der Pandemie folgten Verschiebungen in der internationalen Ordnung. Der Austausch zwischen chinesischen und deutschen Stiftungen, der erstmals nach der Pandemie wieder stattfinden konnte, ermöglichte Vertreter*innen beider Seiten, sich persönlich zu begegnen. Und trägt hoffentlich auch nachhaltig dazu bei, das Verständnis zwischen Menschen zu verbessern, die durch Raum, Zeit und Kultur voneinander getrennt leben.
Delegationsreise
Die Stiftung Mercator fördert seit 2015 den zivilgesellschaftlichen Austausch zwischen Europa und China durch die Begegnung von Führungskräften aus dem Stiftungssektor. Derzeit arbeitet sie dazu mit dem chinesischen Ministerium für zivile Angelegenheiten und dem China Foundation Forum zusammen. Die Kooperation ermöglicht jährlich zwei Delegationsreisen von Beamt*innen und Stiftungsvertreter*innen. Während des Aufenthalts in Europa lernen die Delegationsteilnehmer*innen die Strukturen und Arbeitsweisen zivilgesellschaftlicher Organisationen in Deutschland und Europa kennen. Auf der anderen Seite bietet der Austausch Stiftungsvertreter*innen in Deutschland und Europa die Möglichkeit, etwas über den gemeinnützigen Sektor und die gesellschaftlichen Entwicklungen in China zu lernen.