Was kostet die Welt?

Was kostet die Welt?
Autorin: Kristina Kara Illustrationen: Leandro Alzate 16.11.2021

Schon lange bezeichnen Fachleute das globale Arten­sterben gemeinsam mit der Klima­krise als größte Bedrohung der Menschheit. Die wirtschafts­wissenschaftliche Forschung kann jetzt mit konkreten Zahlen helfen, das Ausmaß verständlich zu machen.

Bereits im Jahr 1941 soll Albert Einstein in einem Brief gewarnt haben: „Wenn die Biene von der Erde verschwindet, hat der Mensch noch vier Jahre zu leben.“ Ob diese Worte wirklich von dem großen Physiker stammen, ist nicht belegt. Aber auch falls ein anderer kluger Kopf dahinter­stecken sollte, steht fest: Das kleine Insekt liefert der Menschheit weit mehr als Honig. Auf der Suche nach Nahrung transportieren Bienen Pollen von Blüte zu Blüte und sorgen so für die Befruchtung von Pflanzen. 70 Prozent der wichtigsten Nutz­pflanzen weltweit sind auf diese sogenannte Öko­system­dienst­leistung angewiesen. So gut wie alle Obstbäume, Nüsse, Nutzpflanzen wie Raps und auch Kaffee brauchen tierische Besucher*innen, um sich zu vermehren. Für den Kakao etwa ist die Kakao­mücke zuständig. Da die Pollen der Tomaten sehr fest in den Pollensäcken sitzen, müssen sie durch Vibrationen heraus­geschüttelt werden. Das können Hummeln am besten. Aber nicht nur Insekten, sondern jedes Tier und jede Pflanze tragen dazu bei, das Netz des Lebens auf der Erde auf­recht­zu­erhalten. Diese Vielfalt der Arten und gleichzeitig die Vielfalt der Ökosysteme wird als Biodiversität bezeichnet.

Und diese ist akut in Gefahr. Aktuell erlebt die Erde dem World Wildlife Fund (WWF) zufolge das sechste Massen­aus­sterben ihrer Geschichte. Nach dem aktuellen vom WWF und dem Welt­über­wachungs­zentrum für Natur­schutz der Vereinten Nationen entwickelten Living Planet Index lag der Rückgang der biologischen Vielfalt zwischen 1970 und 2016 bei 68 Prozent. Allein in Deutschland ist rund ein Drittel aller Tier- und Pflanzen­arten vom Aus­sterben bedroht. Wir Menschen nehmen immer mehr Platz in Anspruch, der Tieren und Pflanzen fehlt. Und wir verursachen den Klimawandel, der das Überleben vieler Arten unmöglich macht.

Wir Menschen nehmen immer mehr Platz in Anspruch, der Tieren und Pflanzen fehlt. Und wir verursachen den Klima­wandel, der das Über­leben vieler Arten unmöglich macht.

Finanzielle Folgen sichtbar machen

Der massive Rückgang der Biodiversität ist nicht nur für Natur­lieb­haber*innen traurig. „Er hat auch gravierende Auswirkungen auf unsere Wirtschaft“, erklärt Kerstin Lopatta, Professorin für externe Rechnungs­legung, Prüfung und Nach­haltig­keit an der Universität Hamburg. Sie ist Mitglied der Wissen­schafts­plattform Sustainable Finance (WPSF), einem Kooperations­netz­werk aus fünf deutschen Forschungs­einrichtungen, die gemeinsam zum Thema nachhaltige Finanzen forschen.

Schließlich bietet die Natur eine Vielzahl an Öko­system­dienst­leistungen an. Wirtschafts­zweige wie die Land­wirtschaft brauchen saubere Böden und Wasser. Das Bauwesen verschlingt Unmengen an Holz. Aber das ist nur der Anfang. „Mehr als die Hälfte des globalen Brutto­inlands­produktes hängt von der Natur oder den durch die Natur erbrachten Dienst­leistungen ab. Wir kennen mittlerweile diverse Studien aus China zum Zusammenhang von Luft­verschmutzung und wirtschaftlicher Produktivität: Hohe Verschmutzung lässt die Produktivität vor Ort sinken – mit massiven Effekten auf die Wertschöpfung“, berichtet Lopatta. Die WPSF zitiert dabei auch den sogenannten Dasgupta-Report, benannt nach dem in Cambridge forschenden Wirtschafts­wissen­schaftler Partha Dasgupta. Er kommt zu dem Schluss, dass die Zerstörung der natürlichen Lebens­grundlagen uns alle bis zu sechs Billionen US-Dollar pro Jahr kostet. Dem Natur­schutz­bund NABU zufolge liegt der ökonomische Wert der von allen Honig­bienen dieser Welt kostenlos erbrachten Dienst­leistungen bei 153 Milliarden Euro jährlich.

Wirtschafts­wissenschaftliche Forschung kann mit konkreten Zahlen helfen, das Ausmaß des globalen Artensterbens verständlich zu machen © Illustration: Leandro Alzate

Komplexität als Hindernis

Lopattas Kollege Alexander Bassen, Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung sowie im wissen­schaftlichen Beirat „Globale Umwelt­veränderungen“ der Bundes­regierung, ist eben­falls Mitglied der WPSF: „Während das Thema Klimaschutz bereits merklich Eingang in die Investitions­entscheidungen gefunden hat, ist das beim Thema Biodiversität bislang noch nicht der Fall.“ Der Grund dafür: Beim Klimathema gibt es eine konkrete Messgröße. Die Kosten, die durch eine Tonne ausgestoßenes CO₂ entstehen, lassen sich mittler­weile berechnen. „Das hat dazu geführt, dass wir hier einen konkreten Marktpreis haben. Das Thema Biodiversität ist weniger erforscht und außerdem deutlich komplexer, sodass sich hier nicht so einfach ein Preisschild für Naturkapital entwickeln lässt. Wir haben aktuell nicht mal einen vollständigen Überblick über die Artenvielfalt auf diesem Planeten. Wie sollen wir da berechnen können, was uns mit dem Schwund konkret verloren geht?“, führt Bassen aus.

Vor Kurzem hat die WPSF deshalb einen Policy Brief zum Thema Sustainable Finance und Biodiversität veröffentlicht. Die Ausgabe 6/2021 dreht sich um die Bedeutung der Bio­diversitäts­risiken für Unternehmen und den Kapitalmarkt. Die Wissenschaftler*innen fordern darin nicht nur, die Forschung darüber, welche Auswirkungen unternehmerische Tätigkeiten auf Biodiversität haben, auszuweiten. Sie suchen auch nach Modellen, die aufzeigen, was der Verlust der Öko­system­dienst­leistungen für Unternehmen wirtschaftlich bedeuten kann, sodass diese frühzeitig verstehen, welches Risiko für sie konkret besteht. Damit das klappen kann, müssen sich Unternehmen im Rahmen ihrer Bericht­erstattung eingehend damit beschäftigten, so die WPSF. „Dass wir auf dem Weg dahin sind, unterstreicht die Analyse des Welt­wirtschafts­forums in Davos 2021, in der Biodiversitäts­verlust als einer der größten globalen Risiko­faktoren bewertet wird“, erklärt Lopatta.

Der Reichtum der Natur ist zählbar. Allein der ökonomische Wert der von allen Honig­bienen dieser Welt kostenlos erbrachten Dienst­leistungen liegt bei 153 Milliarden Euro jährlich. © Illustration: Leandro Alzate

Hoffnung auf Einsicht

Schließlich drängt die Zeit: Die Jahre 2011 bis 2020 sind von den Vereinten Nationen zur „Dekade der Biodiversität“ proklamiert worden. Geplant war unter anderem, in diesem Zeit­raum den Verlust an natürlichen Lebens­räumen zu halbieren, die Über­fischung der Weltmeere zu stoppen und 17 Prozent der Landfläche respektive zehn Prozent der Meere unter Schutz zu stellen. Allerdings haben die Staaten der Welt keines der zehn gemeinsam beschlossenen Biodiversitäts­ziele erreicht. Alexander Bassen ist dennoch optimistisch. „Im August 2021 wurde der erste gemeinsame wissenschaftliche Bericht ‚Arten­vielfalt, Ökosysteme und Klimawandel‘ von Expert*innen des Welt­biodiversitäts­rats IPBES und des Welt­klima­rats IPCC veröffentlicht. Er untersucht die komplexen und vielfältigen Zusammenhänge zwischen Klimawandel, Biodiversität und sozialer Gerechtigkeit und berücksichtigt gleichrangig ihre Wechselwirkungen.“ Es bleibt spannend: Nachdem die 15. Welt­natur­schutz­konferenz aufgrund der Corona­krise mehrmals verschoben werden musste, findet das inter­nationale Treffen voraus­sichtlich Mitte Oktober 2021 im chinesischen Kunming statt.

Wenn die Politik schon so lang braucht, sollten die Konsument*innen selbst aktiv werden, findet Alexander Bassen. „Langfristig orientieren sich Unternehmen daran, was ihre Kundinnen und Kunden nach­fragen. Wer bestimmte Produktions­weisen missbilligt und das in seinem Kauf­verhalten abbildet, kann viel bewirken“, meint der Experte.

Wissenschaftsplattform Sustainable Finance (WPSF)

Die Wissenschaftsplattform Sustainable Finance vereint fünf deutsche Forschungs­einrichtungen, die seit vielen Jahren intensiv zum Thema Sustainable Finance forschen. Ziel der Plattform ist es, mit wissenschaftlich fundierten Methoden dazu beizutragen, dass der Finanzmarkt seine notwendige unter­stützende Rolle in der Transformation hin zu einer nachhaltigen und klima­freundlichen Gesellschaft übernimmt. Die Stiftung Mercator fördert das Projekt.

wpsf.de