Was kostet die Welt?
Schon lange bezeichnen Fachleute das globale Artensterben gemeinsam mit der Klimakrise als größte Bedrohung der Menschheit. Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung kann jetzt mit konkreten Zahlen helfen, das Ausmaß verständlich zu machen.
Bereits im Jahr 1941 soll Albert Einstein in einem Brief gewarnt haben: „Wenn die Biene von der Erde verschwindet, hat der Mensch noch vier Jahre zu leben.“ Ob diese Worte wirklich von dem großen Physiker stammen, ist nicht belegt. Aber auch falls ein anderer kluger Kopf dahinterstecken sollte, steht fest: Das kleine Insekt liefert der Menschheit weit mehr als Honig. Auf der Suche nach Nahrung transportieren Bienen Pollen von Blüte zu Blüte und sorgen so für die Befruchtung von Pflanzen. 70 Prozent der wichtigsten Nutzpflanzen weltweit sind auf diese sogenannte Ökosystemdienstleistung angewiesen. So gut wie alle Obstbäume, Nüsse, Nutzpflanzen wie Raps und auch Kaffee brauchen tierische Besucher*innen, um sich zu vermehren. Für den Kakao etwa ist die Kakaomücke zuständig. Da die Pollen der Tomaten sehr fest in den Pollensäcken sitzen, müssen sie durch Vibrationen herausgeschüttelt werden. Das können Hummeln am besten. Aber nicht nur Insekten, sondern jedes Tier und jede Pflanze tragen dazu bei, das Netz des Lebens auf der Erde aufrechtzuerhalten. Diese Vielfalt der Arten und gleichzeitig die Vielfalt der Ökosysteme wird als Biodiversität bezeichnet.
Und diese ist akut in Gefahr. Aktuell erlebt die Erde dem World Wildlife Fund (WWF) zufolge das sechste Massenaussterben ihrer Geschichte. Nach dem aktuellen vom WWF und dem Weltüberwachungszentrum für Naturschutz der Vereinten Nationen entwickelten Living Planet Index lag der Rückgang der biologischen Vielfalt zwischen 1970 und 2016 bei 68 Prozent. Allein in Deutschland ist rund ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Wir Menschen nehmen immer mehr Platz in Anspruch, der Tieren und Pflanzen fehlt. Und wir verursachen den Klimawandel, der das Überleben vieler Arten unmöglich macht.
Wir Menschen nehmen immer mehr Platz in Anspruch, der Tieren und Pflanzen fehlt. Und wir verursachen den Klimawandel, der das Überleben vieler Arten unmöglich macht.
Finanzielle Folgen sichtbar machen
Der massive Rückgang der Biodiversität ist nicht nur für Naturliebhaber*innen traurig. „Er hat auch gravierende Auswirkungen auf unsere Wirtschaft“, erklärt Kerstin Lopatta, Professorin für externe Rechnungslegung, Prüfung und Nachhaltigkeit an der Universität Hamburg. Sie ist Mitglied der Wissenschaftsplattform Sustainable Finance (WPSF), einem Kooperationsnetzwerk aus fünf deutschen Forschungseinrichtungen, die gemeinsam zum Thema nachhaltige Finanzen forschen.
Schließlich bietet die Natur eine Vielzahl an Ökosystemdienstleistungen an. Wirtschaftszweige wie die Landwirtschaft brauchen saubere Böden und Wasser. Das Bauwesen verschlingt Unmengen an Holz. Aber das ist nur der Anfang. „Mehr als die Hälfte des globalen Bruttoinlandsproduktes hängt von der Natur oder den durch die Natur erbrachten Dienstleistungen ab. Wir kennen mittlerweile diverse Studien aus China zum Zusammenhang von Luftverschmutzung und wirtschaftlicher Produktivität: Hohe Verschmutzung lässt die Produktivität vor Ort sinken – mit massiven Effekten auf die Wertschöpfung“, berichtet Lopatta. Die WPSF zitiert dabei auch den sogenannten Dasgupta-Report, benannt nach dem in Cambridge forschenden Wirtschaftswissenschaftler Partha Dasgupta. Er kommt zu dem Schluss, dass die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen uns alle bis zu sechs Billionen US-Dollar pro Jahr kostet. Dem Naturschutzbund NABU zufolge liegt der ökonomische Wert der von allen Honigbienen dieser Welt kostenlos erbrachten Dienstleistungen bei 153 Milliarden Euro jährlich.
Komplexität als Hindernis
Lopattas Kollege Alexander Bassen, Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung sowie im wissenschaftlichen Beirat „Globale Umweltveränderungen“ der Bundesregierung, ist ebenfalls Mitglied der WPSF: „Während das Thema Klimaschutz bereits merklich Eingang in die Investitionsentscheidungen gefunden hat, ist das beim Thema Biodiversität bislang noch nicht der Fall.“ Der Grund dafür: Beim Klimathema gibt es eine konkrete Messgröße. Die Kosten, die durch eine Tonne ausgestoßenes CO₂ entstehen, lassen sich mittlerweile berechnen. „Das hat dazu geführt, dass wir hier einen konkreten Marktpreis haben. Das Thema Biodiversität ist weniger erforscht und außerdem deutlich komplexer, sodass sich hier nicht so einfach ein Preisschild für Naturkapital entwickeln lässt. Wir haben aktuell nicht mal einen vollständigen Überblick über die Artenvielfalt auf diesem Planeten. Wie sollen wir da berechnen können, was uns mit dem Schwund konkret verloren geht?“, führt Bassen aus.
Vor Kurzem hat die WPSF deshalb einen Policy Brief zum Thema Sustainable Finance und Biodiversität veröffentlicht. Die Ausgabe 6/2021 dreht sich um die Bedeutung der Biodiversitätsrisiken für Unternehmen und den Kapitalmarkt. Die Wissenschaftler*innen fordern darin nicht nur, die Forschung darüber, welche Auswirkungen unternehmerische Tätigkeiten auf Biodiversität haben, auszuweiten. Sie suchen auch nach Modellen, die aufzeigen, was der Verlust der Ökosystemdienstleistungen für Unternehmen wirtschaftlich bedeuten kann, sodass diese frühzeitig verstehen, welches Risiko für sie konkret besteht. Damit das klappen kann, müssen sich Unternehmen im Rahmen ihrer Berichterstattung eingehend damit beschäftigten, so die WPSF. „Dass wir auf dem Weg dahin sind, unterstreicht die Analyse des Weltwirtschaftsforums in Davos 2021, in der Biodiversitätsverlust als einer der größten globalen Risikofaktoren bewertet wird“, erklärt Lopatta.
Hoffnung auf Einsicht
Schließlich drängt die Zeit: Die Jahre 2011 bis 2020 sind von den Vereinten Nationen zur „Dekade der Biodiversität“ proklamiert worden. Geplant war unter anderem, in diesem Zeitraum den Verlust an natürlichen Lebensräumen zu halbieren, die Überfischung der Weltmeere zu stoppen und 17 Prozent der Landfläche respektive zehn Prozent der Meere unter Schutz zu stellen. Allerdings haben die Staaten der Welt keines der zehn gemeinsam beschlossenen Biodiversitätsziele erreicht. Alexander Bassen ist dennoch optimistisch. „Im August 2021 wurde der erste gemeinsame wissenschaftliche Bericht ‚Artenvielfalt, Ökosysteme und Klimawandel‘ von Expert*innen des Weltbiodiversitätsrats IPBES und des Weltklimarats IPCC veröffentlicht. Er untersucht die komplexen und vielfältigen Zusammenhänge zwischen Klimawandel, Biodiversität und sozialer Gerechtigkeit und berücksichtigt gleichrangig ihre Wechselwirkungen.“ Es bleibt spannend: Nachdem die 15. Weltnaturschutzkonferenz aufgrund der Coronakrise mehrmals verschoben werden musste, findet das internationale Treffen voraussichtlich Mitte Oktober 2021 im chinesischen Kunming statt.
Wenn die Politik schon so lang braucht, sollten die Konsument*innen selbst aktiv werden, findet Alexander Bassen. „Langfristig orientieren sich Unternehmen daran, was ihre Kundinnen und Kunden nachfragen. Wer bestimmte Produktionsweisen missbilligt und das in seinem Kaufverhalten abbildet, kann viel bewirken“, meint der Experte.
Wissenschaftsplattform Sustainable Finance (WPSF)
Die Wissenschaftsplattform Sustainable Finance vereint fünf deutsche Forschungseinrichtungen, die seit vielen Jahren intensiv zum Thema Sustainable Finance forschen. Ziel der Plattform ist es, mit wissenschaftlich fundierten Methoden dazu beizutragen, dass der Finanzmarkt seine notwendige unterstützende Rolle in der Transformation hin zu einer nachhaltigen und klimafreundlichen Gesellschaft übernimmt. Die Stiftung Mercator fördert das Projekt.