Viel Luft nach oben
Nach dem Corona-Grounding heben Flugzeuge nun langsam wieder ab. Damit kehrt eine alte Debatte zurück an die Luft: Ist Fliegen angesichts der klimaschädlichen Emissionen des Luftverkehrs noch tragbar? Stichwort: „Flugscham“. Wie kommt eigentlich ein Pilot damit klar?
Jan ist Ende 20. Er heißt nicht wirklich so, aber wir dürfen seinen echten Namen nicht verwenden. Das war seine Bedingung dafür, sich mit uns zu treffen. Jan ist Pilot – und wir wollen wissen: Was macht die Flugscham-Debatte mit einem, der von Berufs wegen gar nicht anders kann, als täglich ins Flugzeug zu steigen?
918 Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid verursachte der globale Flugverkehr im Jahr 2018, Tendenz stark steigend. Allein innerhalb Europas stiegen die Zahlen in den letzten fünf Jahren um 26 Prozent, weltweit um 32 Prozent – und beim Billiganbieter Ryanair gar um 49 Prozent. Das sind Werte, die vom International Council on Clean Transportation (kurz ICCT) veröffentlicht wurden. Der weltweite Luftverkehr ist damit für mindestens 2,4 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Expert*innen – dazu später mehr – stufen den tatsächlichen Wert allerdings deutlich höher ein. Und Alexandre de Juniac, Chef des mächtigen Branchenverbands International Air Transportation Association (IATA), in dem sich rund 290 Fluggesellschaften aus 120 Ländern zusammengeschlossen haben, schätzte auf dem Weltklimagipfel in Madrid im Dezember 2019, dass sich die Passagierzahlen von damals 4,2 Milliarden in den nächsten 20 Jahren verdoppeln werden. Sorgt allein schon das Fliegen dafür, dass dem Klimaschutz die Luft ausgeht?
Eine Branche im Gegenwind
Jan wählt seine Worte mit Bedacht. Viel habe er über seinen ökologischen Fußabdruck nachgedacht, klar treiben auch ihn die kollektiven Anschuldigungen seiner Branche um. Vor Corona sah er die junge Generation, nur wenig jünger als er selbst, jeden Freitag auf der Straße für den Klimaschutz demonstrieren. Er liest die Zeitungen, und er kennt natürlich den Begriff der „Flugscham“. Ob er deshalb mittlerweile auch mit gemischten Gefühlen oder gar einem schlechten Gewissen ins Cockpit steige? Nein! Diesen Gedanken weist er weit von sich. „Ich fühle mich nicht persönlich angegriffen oder gar für den menschengemachten Klimawandel verantwortlich.“
Ich fühle mich nicht persönlich angegriffen oder gar für den menschengemachten Klimawandel verantwortlich.
Pilot*innen, so sagt Jan über sich und seine Kolleg*innen, seien qua Beruf fürs Thema sensibilisiert. Gerade bei Langstreckenflügen könne man mit cleverer Logistik an einigen Stellschrauben drehen: Wie viel Treibstoff nehme ich mit? Wo sind die besten (Rücken-)Winde? Welche Flughöhe steuere ich an? Zwei bis drei Prozent Einsparpotenzial an Kerosin und damit an giftigen Ausstößen könne ein guter Pilot, eine gute Pilotin rausholen. Dabei handele es sich aber auch um wirtschaftliche Faktoren, deswegen habe man das immer schon so gehandhabt.
Leere Flieger tun weh
38 Millionen Passagierflüge bewegten sich im Jahr 2018 rund um den Globus. Zwei Drittel davon waren Inlandsflüge, internationale Flüge ergaben den Rest. Die Top-3-Umweltverschmutzer in Bezug auf CO2-Flugemissionen sind die Vereinigten Staaten mit 182 Millionen Tonnen, die Europäische Union (142 Millionen) und China (95 Millionen). Vermutlich im Jahr 2037 wird das Reich der Mitte die USA als größten Luftverkehrsmarkt ablösen. Jan indes fliegt keine Passagiere und Passagierinnen, sondern Frachtgut um die Welt. Laut Statistik des ICCT sorgt die Frachtsparte für 171 Millionen Tonnen CO2 und damit für 19 Prozent der Kohlenstoffdioxid-Emissionen, also knapp ein Fünftel der gesamten Flugbranche.
Natürlich entfacht der globale Welthandel auch in der Luft einen harten Verdrängungswettbewerb. Als Frachtpilot störe ihn da besonders, wenn „ein Flieger um die halbe Welt fliegt, der komplett leer ist.“ Das, so gesteht er, „tut mir in der Seele weh.“ Oder auch wenn er Früchte wie Avocados oder Mangos aus exotischen Ländern einfliege. „Muss das wirklich sein?“, fragt er sich, genauso wie viele kritische Konsument*innen. Irgendwie sei er es deshalb auch leid, dass seine Branche den Schwarzen Peter für alle Umweltfrevel zugespielt bekomme. „Es konzentriert sich alles auf die Luftfahrt, aber jeder Einzelne könnte doch in seinem Konsumverhalten viel ändern.“ Zum Beispiel nur regionale Produkte kaufen.
In der Tat, das sieht auch der Flugpilot so, „ist nicht jeder Flug nötig.“ Aufklärung hält Jan für unabdingbar. Die Weiterentwicklung synthetischer Treibstoffe, technisch verbesserte Maschinen mit höherer Energieeffizienz oder auch ins Flugticket inkludierte CO2-Kompensationen, wie es die skandinavische Airline SAS handhabt, das seien gute Wege. „Jede größere Airline ist heutzutage angehalten, sich weiterzuentwickeln.“ Aber gesetzliche Vorschriften vonseiten der Politik? Überflüssig, findet Jan.
Lösungsansatz Luftverkehrssteuer
Das sehen nicht alle so. „Fliegen ist kein Grundbedürfnis“, hält Andrew Murphy dagegen. Er ist Experte für den Flugverkehr bei der Brüsseler Organisation Transport & Environment, die sich für emissionsfreie Mobilität einsetzt. Essen müsse schließlich jeder Mensch, deshalb könne man die Umweltsünden dieser beiden Sparten gar nicht vergleichen. Hinzu kommt: 80 Prozent – manche Expert*innen sprechen gar von 90 Prozent – der Weltbevölkerung seien noch nie in ein Flugzeug gestiegen. In Großbritannien, so Murphy, seien 15 Prozent der Einwohner*innen für 70 Prozent der Flüge verantwortlich. Deshalb votiere seine Organisation dringend für die Einführung einer Luftverkehrssteuer, die das Fliegen für Airlines und Reisende verteuere. Nur über steigende Kosten ließe sich das Passagieraufkommen spürbar senken.
Flugkapitän Jan hat für sich als Privatmensch Konsequenzen gezogen, vermutlich mehr als viele andere: Er besitzt inzwischen kein eigenes Auto mehr. Auch hat er seine Ernährung umgestellt, Fleisch kommt nicht mehr auf den Teller. Braucht er mal neue Kleidung, sucht er mit Bedacht aus, woher die Textilien stammen und wie sie hergestellt wurden. Eigentlich, findet Jan, müsste jedes T-Shirt-Etikett angeben, wie viel CO2 dafür emittiert wurde. „Die Modeindustrie ist doch der weit größere Klima-Übeltäter.“ Mit 1,2 Billionen Tonnen CO2 übertreffe sie internationale Flüge und Kreuzfahrten, so die britische Ellen-MacArthur-Stiftung. Das wollten die Menschen nur nicht so gerne hören, meint Jan.
Emissionen in hoher Höhe besonders dramatisch
Andrew Murphy ärgert sich über dieses Argument: „Die Frage ist nicht, wie viel die anderen emittieren, sondern wie viel ich selbst emittiere.“ Alles andere sei Ablenkung und werde oft auch von der Industrie je nach Bedarf schöngerechnet. Fliegen sei in Wahrheit nämlich sogar für fünf Prozent der globalen Erwärmung verantwortlich. Murphy bezieht sich dabei auf wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass die negativen Folgen des Luftverkehrs fürs Klima mindestens zwei-, wenn nicht sogar dreimal so hoch sind wie der reine CO2-Effekt. Wasserdampf, Stickoxide und andere Gifte seien gerade in hohen Flughöhen desaströs. Auch der Weltklimarat geht davon aus, dass man den CO2-Ausstoß bei längeren Flügen mit dem Faktor 2,7 multiplizieren müsse, um die tatsächlichen Klimaschäden hochzurechnen. Über den Wolken ist damit schon längst nicht mehr die Freiheit grenzenlos, sondern die Luftverschmutzung.
Auch wenn er jetzt mehr über sein Verhalten nachdenke, Flugkapitän Jan sagt: „Die Fliegerei ist immer noch mein Traumberuf.“ Angesichts der steigenden Passagierzahlen erachten wohl auch viele Reisende den Luftweg weiterhin als attraktiv oder mindestens praktisch. Denn trotz zunehmender Angst vor dem Klimawandel ändere kaum jemand freiwillig sein Reiseverhalten. Das habe eine repräsentative Umfrage in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos ergeben. Ohne Regulation, das steht auch für Andrew Murphy fest, klaffe zwischen Wollen und Tun noch auf Generationen hinaus ein himmelweiter Unterschied.
Transport & Environment
Die Vision der politisch unabhängigen Non-Profit-Organisation Transport & Environment ist die emissionsfreie Mobilität. Die Stiftung Mercator fördert den Berliner Zweig der europäischen Organisation, die dieses Ziel durch wissenschaftsbasierte Expertise erreichen will.
www.transportenvironment.org