„Ernüchterung bei digitaler Bildung“

Kind sitzt Zuhause mit Lernmaterialien und Laptop am Tisch
„Ernüchterung bei digitaler Bildung“
Autor: Matthias Klein 06.04.2020

Nach den Schulschließungen habe es zunächst eine Euphorie rund um digitale Angebote gegeben, sagt Bildungsforscherin Birgit Eickelmann im Interview. Dann seien nach und nach Probleme deutlich geworden. Nun bräuchten Lehrkräfte vor allem klare Regelungen und Unterstützung.

Die Schulen waren nun drei Wochen geschlossen. Wie ist es aus Ihrer Sicht gelaufen, Frau Eickelmann?

Birgit Eickelmann: Zunächst gab es eine gewisse Euphorie, dass das Digitale für die Neuorganisation von Schule in der Zeit der Schulschließung die Lösung schlechthin ist. Wir haben gesehen, dass um die vielen Ideen fast schon ein Hype entstanden ist. In den sozialen Medien waren die Lehrkräfte geradezu elektrisiert. Nun ist etwas Ernüchterung eingetreten. Es treten einfach Dinge zu Tage, die uns deutlich machen, dass wir nicht alle Lernenden gleichermaßen erreichen. Hinzu kommt, dass nicht alle Lehrkräfte über Konzepte, Rahmenbedingungen und manchmal auch nicht über die nötigen Vorerfahrungen verfügen. Eine Ursache ist, dass wir zum einen bei der Digitalisierung in Deutschland noch nicht so weit waren, wie das jetzt vielleicht nötig gewesen wäre. Zum anderen müssen wir uns auch deutlich vor Augen führen, dass digital gestützter Unterricht etwas anderes ist als die nun erprobten Fernlernkonzepte. Wir haben in den letzten Tagen auch nochmal festgestellt, dass gar nicht alle Schüler*innen über digitale Endgeräte verfügen, um Aufgaben überhaupt bearbeiten zu können.

Porträt von Birgit Eickelmann, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn

Birgit Eickelmann

Birgit Eickelmann ist Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn. Sie ist unter anderem Leiterin des Nationalen Forschungszentrums der Studie ICILS 2018 (Internationale Computer and Information Literacy Study).

Wie hat das digitale Lernen jenseits der Infrastruktur geklappt?

Eickelmann: Ganz unterschiedlich. Ich bin Mutter einer schulpflichtigen Tochter, die ganz wunderbare Erfahrungen gemacht hat. Das Kollegium ihrer Schule hat die Aufgaben strukturiert und abgesprochen. Die Schule nutzt eine Lernplattform, mit der alle arbeiten können. Ich sehe aber, dass solche Konzepte längst nicht in allen Schulen vorhanden sind. Und nicht alle Bundesländer haben solche Konzepte unterstützt.  Es ist zudem nicht allen Ländern gelungen, tragfähige Regelungen und Konzepte zur Verfügung zu stellen. Im Moment verlässt man sich darauf, dass die Lehrkräfte einzeln oder im Kollegium ein gutes Konzept entwickeln. Das kann nur für einen kurzen Moment eine Lösung sein. Material- und Linklisten alleine übrigens helfen nicht.

Was wir natürlich ebenfalls beobachten können: Es gibt auch positive Effekte und sehr motivierende Ideen und Beispiele, die wir auch für die Zeit „nach Corona“ nutzen können. Aber Vorsicht: In diesem nun praktizierten Fernlernszenarien kommen besonders die Schüler*innen gut zurecht, die ohnehin gute Lernkompetenzen haben und die beispielsweise ihre Aufgaben gut strukturieren können, die selbstverantwortlich arbeiten.

Wir müssen endlich schauen, wie wir Bildungserfolg und die soziale Lage entkoppeln können.

Was bedeutet das?

Eickelmann: Im Grunde kommt es in vielen Fällen gar nicht so sehr auf das Digitale an, sondern darauf, wie Schüler*innen Lernprozesse organisiert können. Oder eben dabei unterstützt werden, wenn sie über diese Kompetenzen nicht verfügen. Und da gibt es riesige Unterschiede. Im normalen Unterricht bekommen sie hier vielleicht Unterstützung, die nun fehlt. Uns wird nochmal deutlich, dass die Motivation und das Lernen nicht vom digitalen Medium ausgeht und ausgehen sollte.

Kann diese Erfahrung einen nachhaltigen Effekt haben?

Eickelmann: Ich hoffe sehr darauf, dass die Dinge, die uns jetzt auffallen, gebündelt werden. In der Zeit der Schulschließung wurde beispielsweise sehr deutlich, in welch unterschiedlichen Verhältnissen die Schüler*innen leben und was das für ihr Lernen bedeutet. Wir dürfen nicht unberücksichtigt lassen, dass viele Kinder nicht über digitale Endgeräte verfügen, die sie zum Lernen nutzen können. Ein Handy und dann oft noch mit begrenztem Datenvolumen reicht nicht. Auch beengte Wohnverhältnisse sind ein Problem. Nicht überall können Eltern mal eben um Rat gefragt werden. In Deutschland hängt der Bildungserfolg ganz besonders von der familiären Situation ab. Ich hoffe, dass wir als Gesellschaft aus dieser Erfahrung lernen werden. Andere Länder sind da schon viel weiter.  Wir müssen endlich schauen, wie wir Bildungserfolg und die soziale Lage entkoppeln können. Das wird auch für den Bereich der digitalen Bildung und damit der gesellschaftlichen Entwicklungen entscheidend für die nächsten Jahre sein. Dass der Handlungsbedarf hier im Bereich der digitalen Bildung besonders groß ist, hat die ICILS-2018-Studie nochmal sehr deutlich gezeigt.

Auch die Lehrkräfte waren ja ganz besonders gefordert – wie haben Sie das erlebt?

Eickelmann: Es ist zu beobachten, dass viele Lehrkräfte, die sich vorher noch nicht mit den verschiedenen digitalen Möglichkeiten und Werkzeugen auseinandergesetzt haben, nun gesehen haben, was alles möglich ist. Sie haben sich einfach an Neues herangetraut. Quasi ein „Learning by doing“ mit dem Vorteil, dass es in der Krise auch mal nicht alles ganz perfekt sein muss.

Lehrer sitzt mit Laptop in einem leeren Klassenzimmer
© Getty Images

Das wird hoffentlich einen positiven Effekt haben, wenn die Schulen wieder geöffnet werden. In dem Sinne, dass einfach mehr Lehrkräfte die Potenziale des digital gestützten Lernens erlebt haben und die Erfahrungen und Kompetenzen für den Unterricht nutzen. Wenn man sich so umhört, sieht man, dass sich Lehrkräfte ganz unterschiedlich intensiv engagiert haben. Viele haben natürlich auch direkt erkannt, dass es nicht nur gilt, Aufgaben zur Verfügung zu stellen, sondern Kontakt zu halten, indem sie beispielsweise mit ihren Schüler*innen telefoniert haben. Hinter vorgehaltener Hand hört man aber auch, dass manche regelrecht abgetaucht sind.

Es ist noch nicht gesagt, wie es nach Ostern weitergeht. Wenn die Schulen länger geschlossen bleiben oder irgendwann wegen des Virus erneut geschlossen werden: Was muss aus Ihrer Sicht dann zusätzlich anders gemacht werden?

Eickelmann: Die Familien müssen unterstützt werden. Mir liegt besonders am Herzen, dass es bisher nur für die systemrelevante Berufe eine Notbetreuung der Kinder in den Schulen gibt. Das war richtig. Aber wir haben vergessen: Es hätte auch ein Angebot geben müssen für Kinder in besonders prekären Lebensumständen. Wir haben zuletzt viel gehört von häuslicher Gewalt. Darüber wurde zunächst nicht nachgedacht, das müssen wir nachholen.

Und wenn die Schulen wieder öffnen, wie kann es dann weitergehen?

Eickelmann: Man wird froh sein, wenn die Schule wieder anfängt. Denn es ist ein Zeichen, dass wieder Normalität einkehrt. Aber wir werden nicht erleben, dass wir einfach da weitermachen können, wo wir aufgehört haben. Zahlreiche Kinder werden von krisenhaften Erlebnissen beeinträchtigt in die Schule zurückkehren. Die Schulschließung war für einige vielleicht das kleinste Problem. Wir sehen, wie viele Menschen bereits in Kurzarbeit sind oder gar ihre Arbeit verloren haben. Kinder erleben, dass ihre Eltern Existenzängste haben. Manche werden Krankheitsfälle oder sogar Todesfälle erlebt haben. Kinder haben erfahren, dass das Familienleben von jetzt auf gleich auf den Kopf gestellt wurde. Das werden sie in die Schule mitbringen. Mir macht es Sorge, dass darüber viel zu wenig nachgedacht wird. Ich befürchte, dass das alleine zu Lasten der Schulen und der Lehrkräfte gehen könnte.

Eine große Herausforderung für Lehrkräfte war und ist, dass stellenweise klare Regelungen fehlten und fehlen. Was ist meine Aufgabe? Welche Tools kann ich nutzen? Wie kann und soll es weitergehen, wenn die Schulen wieder geöffnet werden? Positiv hervorzuheben sind hier die Bundesländer, die diese Informationen und Regelungen schon zur Verfügung gestellt haben und in denen die Lehrkräfte trotz aller Unwägbarkeiten im Moment wissen, woran sie sind.

Was kann helfen?

Eickelmann: Wir müssen die Expertise im Bildungsbereich jetzt bündeln. Zunächst braucht es für die Zeit bis zu den Sommerferien gute Konzepte. Für die Wirtschaft werden gerade große Hilfspakete auf den Weg gebracht – der Bildungsbereich bräuchte auch Hilfspakete. Und wir müssen mit der vorhandenen Expertise klar festlegen und mutig entscheiden: Was sind nun die eigentlich wichtigen Dinge? Das bedarf neben Finanzierungsmodellen auch einer bundesländerübergreifenden Steuerung.

Forum Bildung Digitalisierung

Das Forum Bildung Digitalisierung gestaltet den digitalen Kulturwandel im Bildungsbereich. Im Zentrum der Arbeit stehen die Chancen digitaler Medien für die Schul- und Unterrichtsentwicklung. Im Forum Bildung Digitalisierung engagieren sich acht deutsche Stiftungen.

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