Im richtigen Film
Ömer Alkin kennt nur eine Perspektive: die vernetzte. In seiner Doktorarbeit bringt er Film und Migration zusammen. Sie handelt auch von ihm selbst.
Auf der weißen Folie an den Fensterscheiben des kleinen Ladenlokals wimmelt es von Schlagworten, Zahlen und Pfeilen. Gedanken, die sich ausbreiten müssen; weiter, als ein Blatt Papier es erlaubt. Davor sitzt Ömer Alkin, schwarze Hornbrille, graue Strickjacke, beides Ton in Ton mit dem leicht grau melierten Haar. Hier in seinem Büro in Köln-Mülheim laufen seine weit gesponnenen Fäden zusammen. Hier bilden sie die Knoten, mit denen alles, womit er sich beschäftigt, irgendwie verknüpft ist: Film und Migration, Deutschland und die Türkei.
Diese Knoten sind stärker verwoben, als man denkt. Ein Beispiel: „Viele türkische Filme nehmen die Figur des nach Deutschland migrierten Gastarbeiters auf, der dann auf Besuch nach Hause kommt“, erzählt Alkin. Die Darstellung in diesen Filmen verflechte sich wiederum mit der Geschichte in Deutschland. Solche transkulturellen Beziehungen sind fortdauernd – und mit ihren wechselseitigen Perspektiven ganz nach Alkins Geschmack. Wenn er eines nicht kann, dann einspurig denken. Weder als Mensch noch als Wissenschaftler. „Die Diskurse unserer Zeit sind verknöchert. Immer wieder wird alles neu durchgekaut – aber auf die gleiche Art“, erläutert er seinen Wunsch nach Disziplinen, die sich viel stärker austauschen. Dass dieser Wunsch in ihm gewachsen ist, hat auch mit seiner Biografie zu tun.
Den Blick weiten
Als ältester Sohn türkischer Einwanderer kam Ömer Alkin im Alter von sieben Monaten nach Köln. Die Familie ließ sich dort nieder, wo einige Angehörige bereits begonnen hatten, ihre Wurzeln vorsichtig neu zu vergraben. Als Gastarbeiter der ersten Migrationsgeneration setzten seine Eltern alles daran, dass die eigenen Kinder es einmal besser haben sollten. Sie wussten, dass das in Deutschland nur über Bildung zu erreichen ist. Für Ömer bedeutete das „Schule, Schule, Schule“. So landete der heute 33-Jährige auf dem Gymnasium, wo ihm der Unterrichtsstoff wenig Mühe bereitete, die Sozialisation dagegen schon. Ausgrenzung stand auf der Tagesordnung: Die „Migrantenkinder“ fanden untereinander zusammen, doch nicht hinein in die Mitte des Ökosystems Schule. Separierung, das merkte er damals, sollte in seinem Leben niemals zur Denkschablone werden.
Mehr oder weniger bewusst unternahm er vieles, um seinen Blick zu weiten. Zum Beispiel Filme schauen. „Als Kind war ich ein Film-Nerd. Ich habe sogar selber Filmbewertungen geschrieben, einfach für mich“, sagt Alkin schmunzelnd. Nur logisch, dass es ihn nach der Schule in diese Branche trieb. Als Regie-Trainee wirkte er am Kinofilm „Die Fremde“ der österreichischen Regisseurin Feo Aladağ mit. Und er erkannte: Film, das ist es – aber nicht auf dem Set. „Von 70 Leuten am Dreh war nur eine Handvoll verheiratet. In diesem Business kann man keine Familie haben. Das passte nicht zu meinem Lebensplan“, fasst er zusammen. Doch sich ganz von der großen Liebe Film verabschieden?
Sich ohne anderweitige Verpflichtungen auf das eigene Thema zu konzentrieren, das ist der pure Luxus.
Auf dem akademischen Weg
Er wäre nicht Ömer Alkin, hätte er sich nicht einen anderen Weg erarbeitet. Sein Interesse fand eine neue Heimat in der akademischen Welt, in der er sich dem Film von der theoretischen Seite näherte. Im Bachelor- und Masterstudium an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf beschäftigte er sich mit Medienkultur, Kunstgeschichte und – wenn man ihm heute dabei zuhört, wie fließend er alltägliche Vorgänge soziologisch, psychologisch oder sprachwissenschaftlich auseinandernimmt – mit noch einigem mehr. Seine Eltern unterstützten ihn in dieser Zeit bedingungslos. Sie wussten, dass ihr Sohn seinen Weg gehen würde. „Anscheinend habe ich eine gewisse Sicherheit in meinem Tun gezeigt“, reflektiert Alkin bescheiden. Er führt das Vertrauen der Eltern auch auf seine Rolle in der Familie zurück. Da er nahezu komplett in Deutschland sozialisiert ist, bildete er die Brücke in die deutsche Gesellschaft. Konkret hieß das: Papierkram erledigen, Behördengänge, übersetzen, das Schulsystem erklären, sprich früh Verantwortung übernehmen. Dass das nicht einfach war, deutet Ömer Alkin nur an. Er verliert nicht viele Worte über die rauen Punkte seines Lebens. Dass sie ihn zumindest nicht zurückhalten konnten, zeigt sein Schritt an die Universität. Er wagte ihn, obwohl es in seiner Familie dafür noch keine Vorbilder gab und auch sein „Exotenfach“ ein Sprung ins Ungewisse war. Doch sein Interesse wuchs mit jedem Semester, mündete in einem Masterabschluss, spitzte sich zu: Das deutsch-türkische und das türkische Kino und die Migration kristallisierten sich als Forschungsschwerpunkte heraus – ein Feld, das noch nicht viele Früchte trug. Eine Doktorarbeit kündigte sich an. Die Wissenschaft, anfangs ein Versuch, hatte ihn überzeugt. Für Ömer Alkin war sie zur Möglichkeit geworden, an den Antworten auf die übergreifenden Fragen in der Gesellschaft mitzuformulieren.
Die Promotion brachte ihn nach Osnabrück. Hier bewarb sich ein äußerlich ruhiger, innerlich sehr nervöser Ömer Alkin um ein Stipendium des Avicenna-Studienwerks für muslimische Studierende und Promovierende. Erfahren hatte er von diesem Begabtenförderwerk für Muslime durch Zufall, als während der Arbeit als Hilfswissenschaftler das zermürbende Thema Finanzierung aufkam. Wenig später machte Alkin Saltos, zumindest im Innern: Zusage! Auf einen Schlag fand er sich in einer Situation wieder, die ihn heute noch beflügelt. „Sich ohne anderweitige Verpflichtungen auf das eigene Thema zu konzentrieren, das ist der pure Luxus“, sagt der Doktorand. Er klingt ehrfürchtig. Das Stipendium hat in ihm viel bewegt. Nicht nur konnte er unbelastet forschen, es hat ihn auch als Persönlichkeit bestätigt und wachsen lassen – durch Veranstaltungen mit den Stipendiatskollegen, Mitbestimmung im Studienwerk und einige teils sehr enge Kontakte mit ganz unterschiedlichen Menschen, die seinem Selbstbild neue Facetten hinzufügten. Während der Förderung lernte Ömer Alkin zum Beispiel Mehmet Bayrak kennen, mit dem er sich heute das Kölner Büro teilt. Und der als Architekt eine neue Disziplin in Alkins Leben brachte, die er heute in sein Denken einbezieht. „Insgesamt hat mich die Zeit stark geprägt. Ich würde jedem raten, sich zu bewerben“, resümiert Alkin. „Es gibt keinen Grund, das nicht zu tun.“
Wie soll die Welt werden?
Mitten in der Doktorarbeit über die visuelle Kultur der Migration kündigte sich eine neue Aufgabe an, größer und bedeutender als alles bislang: Ömer Alkin wurde Vater. Seine Gedanken zoomten auf und befassten sich noch direkter mit der Lebenswelt von morgen: „Wenn ich meine Tochter in die Moschee schicken will, wie soll die dann sein? Was sollen die Filme zeigen, die sie schaut und die das Zusammenleben in Deutschland thematisieren?“ Sein eigenes Tun betrachtet er seitdem nachhaltiger. Er will wirken, dem deutsch-türkisch sozialisierten Blickwinkel zu größerem gesellschaftlichem Gewicht verhelfen. Neben der Publikation seiner Dissertation engagiert er sich in der Kulturarbeit, schreibt Artikel, hält Vorträge, arbeitet an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg an der Digitalisierung der Lehre und kann nicht anders, als sich für Tausende weitere Dinge zu interessieren. „Mein größtes Manko“, meint er lachend. Und dennoch gefällt es ihm so, wie man schnell erkennt, wenn man ihn bei einem Besuch im Kölner Museum Ludwig in seiner Freizeit begleitet.
Avicenna Studienwerk
Das Avicenna-Studienwerk fördert leistungsstarke und sozial engagierte muslimische Studierende und Promovierende aller Fachrichtungen finanziell und ideell. Seit 2014 können sich Interessierte zweimal jährlich um ein Stipendium bewerben.
Die türkische Künstlerin Nil Yalter stellt hier unter dem Slogan „Exil ist harte Arbeit“ aus. Ihren Werken, die sich mit Arbeitern und Migranten auseinandersetzen, widmet sich Ömer Alkin so, wie er sich allem widmet: aufsaugend, interpretierend, hinterfragend. Dabei blüht er auf; das ist es, was ihn glücklich macht. Dieses Gefühl, das vollständige Aufgehen in den eigenen Interessen, möchte er bei anderen wachkitzeln. Sein Berufsziel: Hochschullehrer. Es gibt keinen Grund, das nicht zu werden.