„Ich bin nicht gläubig“
Evangelischer Kirchentag in Dortmund. 121.000 Teilnehmer*innen streifen durch die Stadt. Die fünf Tage im Juni sind ein wichtiges Event für viele Christen in Deutschland. Und dieses Jahr auch für Rosa Lyenska – dabei ist sie Jüdin. Eine etwas andere Perspektive auf den Kirchentag.
Der Gemeinderaum der Dortmunder St.-Bonifatius-Kirche ist schon früh überfüllt. Die Besucher*innen draußen nehmen daher auf Bänken oder auf dem Boden Platz und warten geduldig auf die erste Veranstaltung des Tages: Für eine jüdisch-christliche Bibelarbeit kommen der Rabbiner Avichai Apel und der evangelische Theologe Prof. Dr. Martin Leutzsch zusammen. Das Publikum – draußen wie drinnen – lauscht aufmerksam der Erzählung von Abraham und seinen beiden Söhnen Jakob und Isaak aus dem Alten Testament. Irgendwo im Hintergrund ertönen hin und wieder Polizeisirenen, doch das kann der andächtigen Stimmung nichts anhaben.
In der Bibelarbeit geht es immer wieder um die Gemeinsamkeiten des jüdischen und des christlichen Glaubens. „Die beiden Religionen sind sich geschichtlich sehr nahe – da müssen wir die Gemeinsamkeiten betonen. Statt Abgrenzung brauchen wir wieder mehr Toleranz füreinander“, sagt der Rabbiner zum Schluss. Nicht nur die christlichen Gäste pflichten ihm bei, auch Rosa Lyenska nickt. Sie ist Jüdin und genau deshalb hier. Als eine von rund 120 Menschen jüdischen oder muslimischen Glaubens erlebt die 20-Jährige den Evangelischen Kirchentag im Rahmen eines interreligiösen Stipendiums. Im Zentrum der Förderung steht der Trialog zwischen den drei Religionen.
Und dafür hält der Kirchentag, der alle zwei Jahre in einer anderen deutschen Großstadt stattfindet, dieses Jahr unter dem Motto „Was für ein Vertrauen“ rund 2.500 Veranstaltungen bereit. Die Kirchengemeinden der Stadt sowie jüdische und muslimische Gemeinden öffnen aus diesem Anlass ihre Pforten für die Besucher*innen aus aller Welt. So erlebt Lyenska an diesem Kirchentag einen Gospel-Chor, nimmt an einem Workshop zu „christlichem Yoga“ und an Bibelarbeiten teil: „Die christliche Interpretation der Bibel finde ich total spannend, weil ich ja nur die jüdische Auslegung der Geschichte kenne.“
Vorurteile abbauen, Toleranz stärken
„Shalom“, begrüßt Lyenska schüchtern den Rabbi nach der Veranstaltung. Sie sprechen über das Thema Toleranz, und der Rabbi merkt an, dass in heutigen Zeiten von allen Seiten so viele Vorurteile aufgebaut würden, dass Missverständnisse vorprogrammiert seien. Vielerorts komme es zu Konflikten, daher sei es nötig, wieder aufeinander zuzugehen. Lyenska weiß nur zu gut, wovon der Rabbi spricht. In Berlin arbeitet sie für den Zentralrat der Juden und organisiert Projekte mit jüdischen und muslimischen Jugendlichen und Student*innen. In Zeiten, in denen Juden mit Kippa auf offener Straße angefeindet werden, sogar Gewalt erfahren und rechtes Gedankengut in der Öffentlichkeit schleichend immer präsenter wird, seien interreligiöse Projekte besonders wertvoll, findet Lyenska. Sie selbst habe noch keine Diskriminierung aufgrund ihrer Konfession erlebt, berichtet sie, „aber ich kenne fürchterliche Geschichten aus meinem Bekanntenkreis“. Gerade von jungen, durch den Nahostkonflikt radikalisierten Muslimen gehe eine hohe Aggressivität gegenüber Juden aus – oft verbal, aber in jüngster Zeit immer öfter auch physisch. Berührungsängste hat Lyenska trotzdem nicht. In ihrem Handy sucht sie nach der nächsten Veranstaltung: das Freitagsgebet in einer Moschee.
Aus dem ruhigen bürgerlichen Dortmunder Stadtteil Ruhrallee-Ost geht es nun in die Innenstadt-Nord. Dönerläden und Friseursalons säumen die engen Straßen, arabische Schriftzüge prangen an den Schaufenstern. Immer wieder röhren tiefergelegte Autos vorbei. Klischees, die den Stadtteil in einem nicht immer guten Licht dastehen lassen. Als „radikales“ oder „islamistisches Zentrum“ wurde er schon betitelt. Fest steht: Seitdem sich hier die vorwiegend türkischen Gastarbeiter in den 1960er- und 1970er-Jahren angesiedelt haben, ist die muslimische Community groß und bestimmt das Straßenbild. Angekommen in der Neuen Moschee Dortmund, ist die Begrüßung offen und herzlich. Als Vertreter der muslimischen Moschee-Gemeinde empfängt Yunus Özgül die Besucher*innen am Eingang des unscheinbaren Hauses mit einem breiten Lächeln: „Willkommen. Einfach nach oben durchgehen. Schuhe bitte hier unten ausziehen. Vielen Dank!“
Nachhilfeunterricht in der Moschee
Ahmad Aweimer, der Vorsitzende des Rats der muslimischen Gemeinden in Dortmund, bringt den Anwesenden die Moschee und die religiösen Praktiken näher. „Wer von Ihnen war schon mal in einer Moschee?“, fragt er in die Runde. Zögerlich heben einige ihren Arm. Rosa Lyenska hebt ihren nicht. „Das sind so in etwa 20 Prozent. Nicht schlecht“, stellt Aweimer fest. Bevor das Freitagsgebet beginnt, bespricht er den rituellen Ablauf: „Was glauben Sie: Warum mussten Sie unten die Schuhe ausziehen?“ – „Weil der Boden heilig ist?“, vermutet jemand. – „Das wäre schön, aber der Grund ist viel einfacher: Hygiene. Beim Gebet beugen wir uns vor und berühren mit der Stirn und der Nase den Boden. Ich möchte ja nicht riechen, wo jemand vor mir reingetreten ist“, erklärt er. Ein Lachen geht durch den Raum. Lockerer Nachhilfeunterricht in Religion. Hier ein Selfie, dort eine Nachfrage. Bis sich immer mehr muslimische Männer zum Gebet im Saal einfinden. Für den traditionellen Gebetsgesang knien sich die Männer vor den Imam.
„Es ist wichtig, dass wir Offenheit zeigen. Gerade bei Anhängern anderer Religionen bestimmt das Bild vom radikalen Islam ihre Sicht auf uns. Heute sehen wir, dass unsere Religionen gar nicht so verschieden sind“, sagt Yunus Özgül nach dem Gebet. Viele Muslime stehen noch zusammen und unterhalten sich – manche auf deutsch, andere auf türkisch. Einige christliche Besucher*innen und Muslime wünschen einander an der Tür ein schönes Wochenende.
„Ich liebe einfach diesen Gebetsgesang!“, schwärmt Rosa Lyenska anschließend. Durch ihre Arbeit in interreligiösen Projekten wisse sie zwar viel über den Islam, doch der Besuch der Moschee habe ihn ihr noch einmal nähergebracht. „Ich finde es schön, dass hier so viele Menschen zusammenkommen und die Unterschiede gar nicht mehr zählen“, sagt sie. Ob in der Moschee, bei der jüdisch-christlichen Bibelarbeit oder in der Kirche – auf dem Kirchentag bestimmt eine übergreifende Gemeinsamkeit das Zusammensein: der Glaube.
Religion als Teil der Identität
Einen entscheidenden Unterschied zwischen Lyenska und all den anderen Menschen an diesem Tag gibt es allerdings doch: Sie ist nicht gläubig. Zumindest nicht auf die Art und Weise, wie man das Wort für gewöhnlich versteht. Und wie kommt es dann, dass sie den Evangelischen Kirchentag besucht? Ihre Eltern stammen aus der Sowjetunion, wo die Religion für die meisten Menschen im Alltag keine Rolle spielte. So geriet das Bewusstsein der jüdischen Abstammung in den Hintergrund. In den 1990er-Jahren kam die Familie nach Deutschland, und erst hier entdeckte Rosa Lyenska das Judentum wieder für sich – in einem jüdischen Ferienlager. „Ich empfinde meine Familiengeschichte und damit auch meine Konfession als Verpflichtung gegenüber den nächsten Generationen. Das ist einfach ein Teil meiner Identität – obwohl ich mich mit dem theologischen Teil nicht identifiziere“, erklärt sie.
Im Religionsunterricht in der Schule habe sie zudem gemerkt, wie sehr das in den Schulbüchern vom Judentum übermittelte Bild und ihre eigene Vorstellung davon voneinander abweichen. „Seitdem beschäftige ich mich intensiv mit Religion und dem interreligiösen Austausch“, so Lyenska. Und in Zukunft? „Ich möchte gern Regie studieren. Mein Traum wäre dann ein Kurzfilm über ein Projekt, das ich mir ausgedacht habe: ein Chor, in dem palästinensische und israelische Jugendliche gemeinsam singen.“
Religion in der Gesellschaft – der 37. Deutsche Evangelische Kirchentag 2019 in Dortmund
Das Interreligiöse Stipendium der Stiftung Mercator richtet sich an Menschen muslimischen oder jüdischen Glaubens, die Interesse am Dialog zwischen den Religionen haben. Die Stiftung übernimmt die Kosten für den gesamten Besuch der Stipendiat*innen auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag.
www.kirchentag.de