Lernen selbst regulieren
Mathe, Deutsch und Englisch im Selbststudium: An der Matthias-Claudius-Gesamtschule in Bochum lernen die Schüler*innen, sich den Stoff eigenständig zu erschließen. In der Corona-Pandemie ist das ein Vorteil.
Die Nacht vorher nicht schlafen können, schwitzige Hände oder auch der totale Blackout: Klausuren in der Schule sind für viele der pure Stress. Wie würde Schule aussehen, wenn Klassenarbeiten nicht auf bestimmte Termine festgelegt wären? Wenn man dann schreiben könnte, wenn man wirklich etwas verstanden hat? Barbara Rochholz und Torsten Kolodzie unterrichten an der Matthias-Claudius-Gesamtschule in Bochum. Klassischen lehrerzentrierten Unterricht findet man hier in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch nur noch wenig – im Wesentlichen planen, arbeiten und reflektieren die Kinder und Jugendlichen hier selbstständig. Ihre Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt.
„Bei uns werden Klassenarbeiten individuell nach dem jeweiligen Lernfortschritt terminiert. Einer Klausur wird so der Stressfaktor genommen“, erzählt Barbara Rochholz. Die Arbeiten schreiben die Kinder nach der Methode der Lernbüros, dabei organisieren sie ihr Lernen selbst. Mit „Bausteinen“, die Materialien gesamter Unterrichtsreihen beinhalten, bearbeiten sie hier selbstständig und in ihrem individuellen Lerntempo den Lehrstoff. So kann es vorkommen, dass ein Kind eine Klassenarbeit erst zwei Wochen später als ein anderes schreibt.
Unterschiede zulassen
Noten bekommen die Schüler*innen aber natürlich schon. Sie kommen morgens normal zur Schule und haben auch Unterricht in ihrem Klassenverband. Aber zehn Stunden in der Woche erarbeiten sie sich Inhalte der Fächer Mathe, Deutsch und Englisch selbst. Selbstreguliertes Lernen, so heißt das Konzept. Die Schüler*innen eignen sich mit den Material-Bausteinen Wissen an, folgen den von den Lehrer*innen vorgegebenen Lernpfaden, kontrollieren ihre Arbeit mit Lösungsordnern selbst und machen schließlich ihre Hausaufgaben selbstständig. Arbeitsergebnisse präsentieren sie vor der Klasse. Und sie besprechen sie mit den Lehrkräften.
Die Klassenleitung übernehmen eine Lehrkraft und ein*e Sonderpädagog*in. Der Grund für die Einführung des Konzeptes an der Schule war das Vorhaben, alle Kinder, ob mit oder ohne körperliche, emotionale oder geistige Beeinträchtigung, gleichermaßen zu fördern. „Alle Schüler*innen sollen in ihrem eigenen Lerntempo arbeiten können“, berichtet Lehrer Torsten Kolodzie. Ziel dieser Methode sei es, direkt auf sie eingehen zu können und Heterogenität stärker zuzulassen. Und vor allem ihre Eigenverantwortung solle gefördert werden.
Dies sei ein zukunftsweisendes Schulkonzept, sagt Doreen Barzel, die bei der Bildungsinitiative RuhrFutur das Handlungsfeld Schule leitet. „Die Schüler*innen sollen dabei, von den Lehrkräften angeleitet, eigene Lernstrategien entwickeln und lernen, sich selbst zu motivieren. Es werden fächerunabhängige und alltagstaugliche Kompetenzen vermittelt. Die Lehrer*innen halten nicht mehr nur Frontalunterricht, sondern sind für die Schüler*innen Lernbegleiter*innen.“
Wandel der Rolle
Dieses Unterrichtsmodell zeigt: Die Rolle der Lehrer*innen hat sich stark verändert – von puren Informationsvermittler*innen hin zu Beobachter*innen und Helfer*innen. Barbara Rochholz erinnert sich, dass sie zu Beginn Bedenken hatte und sich die Frage stellte: „Bin ich überhaupt noch Lehrerin, wenn ich jetzt keinen Frontalunterricht mehr gebe, so, wie ich es im Referendariat gelernt habe?“ Doch Zweifel wie dieser hätten sich verflüchtigt, betont die Pädagogin. „Man merkt schnell, dass das Konzept für mehr Zufriedenheit bei Lehrer*innen und Schüler*innen gleichermaßen sorgt. Man muss als Lehrkraft lernen, die Verantwortung auch an die Schüler*innen abzugeben und Vertrauen in ihre Entwicklungspotenziale zu haben.“
Auch ihr Kollege Kolodzie ist von dem Konzept überzeugt. Ein Kernpunkt für ihn ist, dass die Lehrer*innenrolle auch von den Schüler*innen anders wahrgenommen wird. „Wir sind jetzt mehr diejenigen, die als Hilfe, als Ressource wahrgenommen werden. Die dabei helfen, den Lernstoff im Baustein zu bearbeiten und zu verstehen.“ Im Alltag äußere sich dies sehr oft in einem „Danke“, das Schüler*innen den Lehrer*innen gegenüber aussprechen. „Das ist etwas, das ich im lehrerzentrierten Unterricht noch nie erlebt habe“, freut sich Torsten Kolodzie. „Und deshalb sind doch viele von uns Lehrer*in geworden: Wir wollen Schüler*innen unterstützen und beim Lernen helfen – im lehrerzentrierten Unterricht sind wir aber häufig eher Antreiber und Kontrolleure.“
Das Modell des selbstregulierten Lernens bedeutet indes nicht, dass die Lehrkräfte überflüssig werden. Sie müssen nur eine andere Art der Didaktik anwenden. „Der gesamte Unterricht muss vorstrukturiert und für die Schüler*innen aufbereitet werden“, erläutert Expertin Barzel. „Dabei planen die Lehrer*innen im Team, angelehnt an den Lehrplan, zum Beispiel ein ganzes Jahr im Voraus mit Materialien durch.“ Dabei können unterschiedliche Schwierigkeitsstufen berücksichtigt werden. Das ist der Schlüssel zum Erfolg.
Bei der Schulschließung waren wir eindeutig im Vorteil.
Ein Vorteil in der Coronakrise
Durch diese langfristige Vorbereitung des Unterrichts in Kombination mit dem Einüben von Eigenverantwortlichkeit konnte die Schule während des Homeschoolings schnell reagieren. Torsten Kolodzie hält fest: „Durch das selbstregulierte Lernen im Lernbüro waren die Schüler*innen in der Corona-Zeit gut auf das eigenverantwortliche Lernen zu Hause vorbereitet. Bei der Schulschließung waren wir eindeutig im Vorteil.“
Doreen Barzel von RuhrFutur sieht diesen Vorteil ebenfalls. Schulen, die mit langfristigen Plänen arbeiten und selbstständiges Lernen fördern, könnten einfacher zwischen Präsenzunterricht und Homeschooling hin und her wechseln. „Denn selbstständiges Lernen ist etwas, was man selbst erst einmal als Kompetenz erlernen muss, bevor man es dann allein umsetzen kann.“ Dafür müssten Schüler*innen die richtigen Strategien vermittelt bekommen. Doch die Mehrzahl der Schulen mache dies noch nicht intensiv genug.
Schub durch Corona
Noch unterrichteten zu wenige Schulen nach diesem Konzept, sagt Barzel. „Aber einzelne Lehrer*innen setzen diese Methoden vielerorts schon um und versuchen sich vom klassischen Unterricht wegzubewegen.“ Sie betont, dass es jedoch der Abstimmung im gesamten Kollegium bedarf, um die Methode verbindlich an einer Schule einzuführen. Das sei in der Praxis oft schwierig umzusetzen, da der Schulbetrieb weiterlaufen muss: „Das ist als ob man bei einem rollenden Zug bei voller Fahrt die Räder erneuern will.“
Die Pandemie habe nun viele Potenziale in diesem Bereich aufgezeigt. Aktuell tue sich in dem Feld auch schon sehr viel, berichtet Barzel. „Schulen und Lehrkräfte suchen aktiv nach neuen Ansätzen.“ Allen sei klar geworden, dass mit den bisherigen Standard-Lehrmethoden die Kinder nicht mehr erreicht werden können. „Corona hat da für einen großen Schub gesorgt. Viel mehr Lehrer*innen haben Lust darauf bekommen, sich mit neuen Methoden auseinanderzusetzen. Das macht Mut für die Zukunft.“
RuhrFutur
Unsere Partnergesellschaft RuhrFutur will das Bildungssystem der Metropole Ruhr leistungsfähiger und gerechter gestalten. Ihr Ziel: Allen Kindern und Jugendlichen sollen Bildungszugang, -teilhabe und -erfolg in gleichem Maß ermöglicht werden.