So werden Polizist*innen demokratie­stark und diversitäts­sensibel

So werden Polizist*innen demokratie­stark und diversitäts­sensibel
Autorin: Angelika Henkel 17.10.2023

Die Demokratie steht vor vielen Heraus­forderungen: Die Erfolge der vom Verfassungs­schutz als Verdachts­fall eingestuften AfD oder die NSU-Morde und die Polizei­arbeit dazu sind nur einige Beispiele. Auch in den Reihen der Sicherheits­behörden gibt es extremistische und anti­demokratische Tendenzen – dagegen engagiert sich die Polizei in Niedersachsen. Ausgebildete Demokratie­pat*innen inspirieren nun Polizist*innen in anderen Bundes­ländern.

Rechtsextreme Chats bei der Essen-Mülheimer Polizei, das bundes­weite Versagen mehrerer Polizei- und Sicherheits­behörden während der rassistischen Mordserie des NSU: Immer wieder steht die Polizei in der Kritik. Demokratie­pat*innen machen sich gegen Rassismus stark – auch in den eigenen Reihen. Es sind Mit­arbeiter*innen der Polizei Nieder­sachsen, die sich frei­willig für Demokratie­projekte einsetzen. Das Projekt „Demokratie­starke Polizei – Strukturelle Verankerung von Demokratie­arbeit in der Polizei“, soll möglichst viele Polizist*innen bundesweit inspirieren. Wie kann das funktionieren? Ein Interview mit den drei Projekt­verantwortlichen Dirk Götting, Leiter der Forschungs­stelle für Polizei- und Demokratie­geschichte an der Polizei­akademie Nieder­sachsen, Michael Parak, Geschäfts­führer des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ und Carsten Rose, Direktor der Polizei­akademie Niedersachsen.

AufRuhr: Wie wollen Sie Polizist*innen demokratie­stark machen?

Carsten Rose: Unser Projekt „Demokratie­starke Polizei – Strukturelle Verankerung von Demokratie­arbeit in der Polizei“ setzt bei denen an, die für die Demokratie und für unsere Arbeit auch nach vielen Jahren im Job brennen. Es ist ein Programm zur Stärkung unserer demokratischen Werte. Wir sind politisch neutral, aber nicht werte­neutral. Das Besondere unseres Dienst­verhältnisses ist, dass wir einen Eid auf die Verfassung und die zugrunde liegenden Werte geschworen haben. Und in der Verfassung steht ganz oben unter Artikel 1 Absatz 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wir haben seit 2019 bei der Polizei Niedersachsen das Projekt „Polizei­schutz für die Demokratie“. Dieses Projekt war sehr erfolg­reich, und wir haben uns gedacht, dass es nicht an der Landes­grenze enden muss.

Michael Parak: Der Ansatz ist stärken­orientiert statt defizit­orientiert. Wir haben ein sehr hohes Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei. Menschen, die einen Eid auf die Verfassung geschworen haben und sich für deren Werte einsetzen, bringt das Projekt wieder ins Gespräch und ins Nachdenken über diese Werte. Damit erreichen wir sehr viele Polizist*innen. Und wenn diese sich ihrer Werte noch bewusster sind, sind sie stärker gegen­über denjenigen, die die Werte nicht teilen.

Carsten Rose
© Polizeiakademie Niedersachsen

Carsten Rose ist Direktor der Polizei­akademie Nieder­sachsen und schon seit 1984 im Polizei­dienst des Landes Nieder­sachsen, zuerst als Bereitschafts­polizist. Seit 2018 leitet Rose die Polizei­akademie und ist Vertreter Niedersachsens in diversen polizeilichen Gremien und in der Konferenz der Hochschulen und Fach­bereiche der Polizei.

Dirk Götting: Und genau da setzen wir an. Durch das Projekt wollen wir also verhindern, dass es Fälle wie die rechts­extreme Chat­gruppe bei der Essen-Mülheimer Polizei gibt. Damit so etwas nicht mehr passiert, braucht es eine Kultur­veränderung in der Polizei.

Dr. Michael Parak
© privat

Michael Parak ist Historiker und Geschäfts­führer von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Seit 2009 ist er bei dem Berliner Verein, der 1993 gegründet wurde.

Michael Parak: Das ist die Grundidee von „Demokratie­starke Polizei.“ Wir gehen davon aus, dass es einen Glauben an die Demokratie in der Polizei gibt. Den stärken wir. So können wir auch einem Phänomen wie Rassismus in der Polizei besser begegnen. Im Projekt geht es darum, dass potenziell vorhandenes rechtes Gedanken­gut von Polizist*innen erkannt und bearbeitet wird. Es hat den Ansatz, Polizist*innen demokratie­stark und diversitäts­sensibel zu machen.

Wie kann das Projekt dabei helfen, potenziell vorhandenes demokratie­feindliches Gedanken­gut bei Polizist*innen zu erkennen?

Dirk Götting: Wir wollen die Kolleg*innen in ihrem demokratischen Selbst­verständnis selbst­bewusster und sprechfähig machen. Wir haben die Empfehlung des NSU-Unter­suchungs­ausschusses sehr ernst genommen, einige dieser Punkte betreffen die Polizei direkt. Wie können wir das Phänomen von Rechtsextremismus in der Gesellschaft insgesamt verändern? Wir müssen diejenigen Menschen in der Polizei stärken und empowern, die eine demokratie­starke Botschaft vorleben, aber auch Diskussionen zulassen und führen. Dann verändern wir die Kultur innerhalb der Institution Polizei. Eine direkte Forderung aus diesem Aufgaben­katalog empfiehlt die Veränderung der Institution Polizei.

Von der Theorie in die Praxis: Wie können wir uns das Engagement der Demokratie­pat*innen vorstellen?

Carsten Rose: Demokratiepat*innen sind etwas anderes als Beauftragte. Da ist also kein Auftrag, sondern eine Patenschaft. Also die freiwillige Übernahme der Verantwortlichkeit für ein Thema. Das ist prägend für unser Projekt. Wir haben im Augenblick über 120 Demokratie­pat*innen in Nieder­sachsen, und zwar verteilt über alle Dienst­stellen im ganzen Bundes­land. Die haben wir sukzessive qualifiziert. Sie haben keine Aufträge, was sie konkret machen sollen, sondern sie schauen in ihre Organisationen und sagen: „Was kann ich jetzt mit meinem Wissen und mit meiner Idee demokratischer Verantwortlichkeit innerhalb der Polizei bewegen?“

Demokratiepat*innen sind etwas anderes als Beauftragte. Da ist also kein Auftrag, sondern eine Patenschaft.

Carsten Rose, Direktor der Polizei­akademie Nieder­sachsen

Was bedeutet das vor Ort?

Carsten Rose: Ich will ein konkretes Beispiel für Erinnerungs­arbeit der Polizei­akademie Niedersachen nennen. Die Schrecken der Shoah sind natürlich für viele gerade junge Polizei­studierende abstrakt – sechs Millionen getötete Jüd*innen. An unserem Standort in Nienburg haben wir eine ganz eigene Geschichte zur Shoah, das haben die Demokratie­pat*innen heraus­gefunden. Vor dem Gebäude, wo unsere Akademie heute steht, war in der 1940er-Jahren ein großer Busbahnhof. Dort sind die letzten Jüd*innen aus Nienburg in die Vernichtungs­lager deportiert worden. Und das haben wir zum Anlass genommen, die Geschichte auf­zu­arbeiten. Menschen unserer Akademie haben Verantwortung für die Stolper­steine über­nommen. Aus etwas Abstraktem wurde etwas Unmittelbares: Hier ist es gewesen. Das ist ein konkretes von 140 Beispielen für das Engagement der Demokratie­pat*innen.

ein Polizist spricht mit Demonstrant:innen
Bei einer Demonstration in Berlin trifft die kritische Zivil­gesellschaft auf die Polizei. Die Demonstrant*innen fordern mehr Demokratie. © picture alliance

Gab es schon Bewerber*innen aus den anderen Bundes­ländern?

Michael Parak: Wir haben zwei Bundesländer, die den Willen zur Zusammen­arbeit bekundet haben. Der erste Weiter­bildungs­durch­gang für Demokratie­pat*innen startet in Schleswig-Holstein. Und es gibt das Signal der Landespolizei Thüringen, auch mitzumachen.

Auch wenn natürlich jede*r eine eigene Meinung haben darf – die Polizei ist eine hierarchische Behörde. Wie wichtig ist es, dass das Projekt von oben mitgetragen wird?

Carsten Rose: Es ist wichtig, dass es von zwei Seiten mit­getragen wird. Also sowohl von oben, wenn wir jetzt mit „oben“ die Spitze der Hierarchie meinen, als auch von unten. Sonst wäre es aus meiner Sicht zum Miss­erfolg verurteilt. In Nieder­sachsen haben wir das Projekt in der Strategie der Landes­polizei verankert. Zudem saßen die Berufs- und Personal­vertretungen seit der ersten Idee 2019 gleich­berechtigt mit am Tisch.

Michael Parak: In einer Organisation wie der Polizei ist es wichtig, dass die Polizei­führung sagt: „Dieses Thema ist uns wichtig, und Demokratie­arbeit ist ein Bestandteil von Polizei­arbeit.“ Nicht im Sinne eines partei­politischen Aktiv-Werdens, sondern als ein Verteidigen und eine Auseinander­setzung mit den Werten des Grund­gesetzes. Und da geht die Polizei voran, vielleicht auch weil sie unter Druck stand. Es gibt den Aktionsplan gegen Rechtsextremismus der Bundes­innen­ministerin, und dort wird nicht von der Verantwortung des öffentlichen Dienstes mit fünf Millionen Beschäftigten gesprochen. Das ist die Aufgabe, die noch vor uns liegt.

Dirk Götting: Wir müssen uns in der Polizei bewusst machen, dass demokratische Bildung und demokratische Strukturen mehr sind als Wahlen und Abstimmungen. Was wir am Beispiel der rechten Chatgruppen innerhalb der Essen-Mülheimer Polizei sehen, ist, dass sich da über Jahre Polizist*innen diese E-Mails zugeschickt haben – so etwas ist in einer Dienst­stelle kein Geheimnis. Das heißt, dass die anderen zumindest wussten, dass da irgendwas quer­läuft. Aber da gab es kein Klima, keine Kultur, um das mal anzusprechen, um den Kolleg*innen auch deutlich zu machen: Das geht gar nicht und ist überhaupt nicht akzeptabel. Diese Kultur­veränderung ist ganz wichtig in der Polizei.

Auch für die lebensälteren Beamt*innen, die vielleicht schon viel erlebt haben und glauben, als alter Hase die Dinge bewerten zu können?

Dirk Götting: Ich war überrascht, dass wir gerade beim ersten Kurs ein sehr heterogenes Bild hatten. Der älteste Teilnehmer war 59 Jahre alt. Es ist nicht so, dass die meisten Polizist*innen ein völlig anderes Verständnis von einer demokratie­starken Polizei haben und dann frustriert kündigen.

Dirk Götting
© Polizeiakademie Niedersachsen

Dirk Götting ist wissen­schaftlicher Direktor der Polizei­akademie Niedersachsen und leitet dort die Forschungs­stelle für Polizei- und Demokratie­geschichte. Er ist seit 46 Jahren im Polizeidienst und hat berufs­begleitend an der Leibniz Universität Hannover Geschichte und politische Wissenschaften studiert.

Michael Parak: Die Demokratiepat*innen sind Leute, die ein gewisses Standing haben, sie werden von ihren Kolleg*innen geschätzt. Bestimmte Persönlichkeiten also, an die die anderen sich bei Fragen und Zweifeln einfach wenden können. Und das ist die Besonderheit der Institution Polizei.

Nun planen Sie Kongresse. An wen wenden sich diese?

Carsten Rose: Wir werden in diesem Jahr einen und im Jahr 2025 zwei weitere bundesweite Kongresse veranstalten. In diesem Jahr steht die Zusammen­arbeit zwischen Polizei und Zivil­gesellschaft im Fokus. Daher werden wir auch sehr viele konkrete Kooperationen mit der Zivil­gesellschaft einbeziehen. So wollen wir das Projekt weiter­entwickeln.

Wie wird denn am Ende das Ergebnis gemessen? Wann war das Projekt ein Erfolg – und wann nicht?

Dirk Götting: Unser Programm in Niedersachsen wird wissenschaftlich evaluiert. Polizei ist dabei, sich zu verändern – und das ist eine Chance. Kritik kann dabei helfen, Polizei weiter­zu­entwickeln. Das bedarf einer kritischen Zivil­gesellschaft, die ein tatsächliches Interesse hat, Veränderungen zusammen mit den Menschen in der Polizei voranzubringen. Die Gesellschaft muss grundsätzlich den Mut haben, der Polizei zu vertrauen und gemeinsam eine Vertrauens­institution zu schaffen. Wir sind kein Dienst­leister für öffentliche Sicherheit. Wir sind eine gesellschaftliche Institution, und die muss so gestaltet sein, dass alle Vertrauen haben können.

Carsten Rose: Es ist schon geglückt, weil wir über diese Welle der Ideen hinaus sind und das Projekt in den Dienststellen verorten. Wir verstetigen es. Wir haben eine Zielmarke: Wir wollen 250 bis 280 Demokratie­pat*innen in mindestens zwei weiteren Bundes­ländern neben Niedersachsen weiterbilden – und die sind schon gefunden. Das ist jetzt der große Erfolg, auch die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, also dem Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Es wollen sich übrigens viel mehr Menschen engagieren, als wir im Augenblick qualifizieren können.


Demokratiestarke Polizei – Strukturelle Verankerung von Demokratiearbeit in der Polizei

Zentrale Aufgabe der Polizei ist es, die Demokratie zu verteidigen und alle Menschen zu schützen. Ziel des Projektes ist es, die Demokratie­arbeit und den Umgang mit Diversität in der Polizei zu verbessern. Dazu werden Demokratie­pat*innen ausgebildet. Das erfolgreiche Pilot­modell aus Niedersachsen wird mit dem Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ weiter­geführt, lang­fristig verankert und auf weitere Bundes­länder ausgeweitet. Das Projekt wird in enger Kooperation mit der Polizei­akademie Niedersachsen umgesetzt. Auf dem Kongress Netzwerk Demokratie­starke Polizei am 24. und 25. Oktober in Hannover stellen Demokratie­pat*innen ihr Engagement vor.
www.demokratiestarkepolizei.de