So werden Polizist*innen demokratiestark und diversitätssensibel
Die Demokratie steht vor vielen Herausforderungen: Die Erfolge der vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuften AfD oder die NSU-Morde und die Polizeiarbeit dazu sind nur einige Beispiele. Auch in den Reihen der Sicherheitsbehörden gibt es extremistische und antidemokratische Tendenzen – dagegen engagiert sich die Polizei in Niedersachsen. Ausgebildete Demokratiepat*innen inspirieren nun Polizist*innen in anderen Bundesländern.
Rechtsextreme Chats bei der Essen-Mülheimer Polizei, das bundesweite Versagen mehrerer Polizei- und Sicherheitsbehörden während der rassistischen Mordserie des NSU: Immer wieder steht die Polizei in der Kritik. Demokratiepat*innen machen sich gegen Rassismus stark – auch in den eigenen Reihen. Es sind Mitarbeiter*innen der Polizei Niedersachsen, die sich freiwillig für Demokratieprojekte einsetzen. Das Projekt „Demokratiestarke Polizei – Strukturelle Verankerung von Demokratiearbeit in der Polizei“, soll möglichst viele Polizist*innen bundesweit inspirieren. Wie kann das funktionieren? Ein Interview mit den drei Projektverantwortlichen Dirk Götting, Leiter der Forschungsstelle für Polizei- und Demokratiegeschichte an der Polizeiakademie Niedersachsen, Michael Parak, Geschäftsführer des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ und Carsten Rose, Direktor der Polizeiakademie Niedersachsen.
AufRuhr: Wie wollen Sie Polizist*innen demokratiestark machen?
Carsten Rose: Unser Projekt „Demokratiestarke Polizei – Strukturelle Verankerung von Demokratiearbeit in der Polizei“ setzt bei denen an, die für die Demokratie und für unsere Arbeit auch nach vielen Jahren im Job brennen. Es ist ein Programm zur Stärkung unserer demokratischen Werte. Wir sind politisch neutral, aber nicht werteneutral. Das Besondere unseres Dienstverhältnisses ist, dass wir einen Eid auf die Verfassung und die zugrunde liegenden Werte geschworen haben. Und in der Verfassung steht ganz oben unter Artikel 1 Absatz 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wir haben seit 2019 bei der Polizei Niedersachsen das Projekt „Polizeischutz für die Demokratie“. Dieses Projekt war sehr erfolgreich, und wir haben uns gedacht, dass es nicht an der Landesgrenze enden muss.
Michael Parak: Der Ansatz ist stärkenorientiert statt defizitorientiert. Wir haben ein sehr hohes Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei. Menschen, die einen Eid auf die Verfassung geschworen haben und sich für deren Werte einsetzen, bringt das Projekt wieder ins Gespräch und ins Nachdenken über diese Werte. Damit erreichen wir sehr viele Polizist*innen. Und wenn diese sich ihrer Werte noch bewusster sind, sind sie stärker gegenüber denjenigen, die die Werte nicht teilen.
Carsten Rose ist Direktor der Polizeiakademie Niedersachsen und schon seit 1984 im Polizeidienst des Landes Niedersachsen, zuerst als Bereitschaftspolizist. Seit 2018 leitet Rose die Polizeiakademie und ist Vertreter Niedersachsens in diversen polizeilichen Gremien und in der Konferenz der Hochschulen und Fachbereiche der Polizei.
Dirk Götting: Und genau da setzen wir an. Durch das Projekt wollen wir also verhindern, dass es Fälle wie die rechtsextreme Chatgruppe bei der Essen-Mülheimer Polizei gibt. Damit so etwas nicht mehr passiert, braucht es eine Kulturveränderung in der Polizei.
Michael Parak ist Historiker und Geschäftsführer von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Seit 2009 ist er bei dem Berliner Verein, der 1993 gegründet wurde.
Michael Parak: Das ist die Grundidee von „Demokratiestarke Polizei.“ Wir gehen davon aus, dass es einen Glauben an die Demokratie in der Polizei gibt. Den stärken wir. So können wir auch einem Phänomen wie Rassismus in der Polizei besser begegnen. Im Projekt geht es darum, dass potenziell vorhandenes rechtes Gedankengut von Polizist*innen erkannt und bearbeitet wird. Es hat den Ansatz, Polizist*innen demokratiestark und diversitätssensibel zu machen.
Wie kann das Projekt dabei helfen, potenziell vorhandenes demokratiefeindliches Gedankengut bei Polizist*innen zu erkennen?
Dirk Götting: Wir wollen die Kolleg*innen in ihrem demokratischen Selbstverständnis selbstbewusster und sprechfähig machen. Wir haben die Empfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses sehr ernst genommen, einige dieser Punkte betreffen die Polizei direkt. Wie können wir das Phänomen von Rechtsextremismus in der Gesellschaft insgesamt verändern? Wir müssen diejenigen Menschen in der Polizei stärken und empowern, die eine demokratiestarke Botschaft vorleben, aber auch Diskussionen zulassen und führen. Dann verändern wir die Kultur innerhalb der Institution Polizei. Eine direkte Forderung aus diesem Aufgabenkatalog empfiehlt die Veränderung der Institution Polizei.
Von der Theorie in die Praxis: Wie können wir uns das Engagement der Demokratiepat*innen vorstellen?
Carsten Rose: Demokratiepat*innen sind etwas anderes als Beauftragte. Da ist also kein Auftrag, sondern eine Patenschaft. Also die freiwillige Übernahme der Verantwortlichkeit für ein Thema. Das ist prägend für unser Projekt. Wir haben im Augenblick über 120 Demokratiepat*innen in Niedersachsen, und zwar verteilt über alle Dienststellen im ganzen Bundesland. Die haben wir sukzessive qualifiziert. Sie haben keine Aufträge, was sie konkret machen sollen, sondern sie schauen in ihre Organisationen und sagen: „Was kann ich jetzt mit meinem Wissen und mit meiner Idee demokratischer Verantwortlichkeit innerhalb der Polizei bewegen?“
Demokratiepat*innen sind etwas anderes als Beauftragte. Da ist also kein Auftrag, sondern eine Patenschaft.
Was bedeutet das vor Ort?
Carsten Rose: Ich will ein konkretes Beispiel für Erinnerungsarbeit der Polizeiakademie Niedersachen nennen. Die Schrecken der Shoah sind natürlich für viele gerade junge Polizeistudierende abstrakt – sechs Millionen getötete Jüd*innen. An unserem Standort in Nienburg haben wir eine ganz eigene Geschichte zur Shoah, das haben die Demokratiepat*innen herausgefunden. Vor dem Gebäude, wo unsere Akademie heute steht, war in der 1940er-Jahren ein großer Busbahnhof. Dort sind die letzten Jüd*innen aus Nienburg in die Vernichtungslager deportiert worden. Und das haben wir zum Anlass genommen, die Geschichte aufzuarbeiten. Menschen unserer Akademie haben Verantwortung für die Stolpersteine übernommen. Aus etwas Abstraktem wurde etwas Unmittelbares: Hier ist es gewesen. Das ist ein konkretes von 140 Beispielen für das Engagement der Demokratiepat*innen.
Gab es schon Bewerber*innen aus den anderen Bundesländern?
Michael Parak: Wir haben zwei Bundesländer, die den Willen zur Zusammenarbeit bekundet haben. Der erste Weiterbildungsdurchgang für Demokratiepat*innen startet in Schleswig-Holstein. Und es gibt das Signal der Landespolizei Thüringen, auch mitzumachen.
Auch wenn natürlich jede*r eine eigene Meinung haben darf – die Polizei ist eine hierarchische Behörde. Wie wichtig ist es, dass das Projekt von oben mitgetragen wird?
Carsten Rose: Es ist wichtig, dass es von zwei Seiten mitgetragen wird. Also sowohl von oben, wenn wir jetzt mit „oben“ die Spitze der Hierarchie meinen, als auch von unten. Sonst wäre es aus meiner Sicht zum Misserfolg verurteilt. In Niedersachsen haben wir das Projekt in der Strategie der Landespolizei verankert. Zudem saßen die Berufs- und Personalvertretungen seit der ersten Idee 2019 gleichberechtigt mit am Tisch.
Michael Parak: In einer Organisation wie der Polizei ist es wichtig, dass die Polizeiführung sagt: „Dieses Thema ist uns wichtig, und Demokratiearbeit ist ein Bestandteil von Polizeiarbeit.“ Nicht im Sinne eines parteipolitischen Aktiv-Werdens, sondern als ein Verteidigen und eine Auseinandersetzung mit den Werten des Grundgesetzes. Und da geht die Polizei voran, vielleicht auch weil sie unter Druck stand. Es gibt den Aktionsplan gegen Rechtsextremismus der Bundesinnenministerin, und dort wird nicht von der Verantwortung des öffentlichen Dienstes mit fünf Millionen Beschäftigten gesprochen. Das ist die Aufgabe, die noch vor uns liegt.
Dirk Götting: Wir müssen uns in der Polizei bewusst machen, dass demokratische Bildung und demokratische Strukturen mehr sind als Wahlen und Abstimmungen. Was wir am Beispiel der rechten Chatgruppen innerhalb der Essen-Mülheimer Polizei sehen, ist, dass sich da über Jahre Polizist*innen diese E-Mails zugeschickt haben – so etwas ist in einer Dienststelle kein Geheimnis. Das heißt, dass die anderen zumindest wussten, dass da irgendwas querläuft. Aber da gab es kein Klima, keine Kultur, um das mal anzusprechen, um den Kolleg*innen auch deutlich zu machen: Das geht gar nicht und ist überhaupt nicht akzeptabel. Diese Kulturveränderung ist ganz wichtig in der Polizei.
Auch für die lebensälteren Beamt*innen, die vielleicht schon viel erlebt haben und glauben, als alter Hase die Dinge bewerten zu können?
Dirk Götting: Ich war überrascht, dass wir gerade beim ersten Kurs ein sehr heterogenes Bild hatten. Der älteste Teilnehmer war 59 Jahre alt. Es ist nicht so, dass die meisten Polizist*innen ein völlig anderes Verständnis von einer demokratiestarken Polizei haben und dann frustriert kündigen.
Dirk Götting ist wissenschaftlicher Direktor der Polizeiakademie Niedersachsen und leitet dort die Forschungsstelle für Polizei- und Demokratiegeschichte. Er ist seit 46 Jahren im Polizeidienst und hat berufsbegleitend an der Leibniz Universität Hannover Geschichte und politische Wissenschaften studiert.
Michael Parak: Die Demokratiepat*innen sind Leute, die ein gewisses Standing haben, sie werden von ihren Kolleg*innen geschätzt. Bestimmte Persönlichkeiten also, an die die anderen sich bei Fragen und Zweifeln einfach wenden können. Und das ist die Besonderheit der Institution Polizei.
Nun planen Sie Kongresse. An wen wenden sich diese?
Carsten Rose: Wir werden in diesem Jahr einen und im Jahr 2025 zwei weitere bundesweite Kongresse veranstalten. In diesem Jahr steht die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Zivilgesellschaft im Fokus. Daher werden wir auch sehr viele konkrete Kooperationen mit der Zivilgesellschaft einbeziehen. So wollen wir das Projekt weiterentwickeln.
Wie wird denn am Ende das Ergebnis gemessen? Wann war das Projekt ein Erfolg – und wann nicht?
Dirk Götting: Unser Programm in Niedersachsen wird wissenschaftlich evaluiert. Polizei ist dabei, sich zu verändern – und das ist eine Chance. Kritik kann dabei helfen, Polizei weiterzuentwickeln. Das bedarf einer kritischen Zivilgesellschaft, die ein tatsächliches Interesse hat, Veränderungen zusammen mit den Menschen in der Polizei voranzubringen. Die Gesellschaft muss grundsätzlich den Mut haben, der Polizei zu vertrauen und gemeinsam eine Vertrauensinstitution zu schaffen. Wir sind kein Dienstleister für öffentliche Sicherheit. Wir sind eine gesellschaftliche Institution, und die muss so gestaltet sein, dass alle Vertrauen haben können.
Carsten Rose: Es ist schon geglückt, weil wir über diese Welle der Ideen hinaus sind und das Projekt in den Dienststellen verorten. Wir verstetigen es. Wir haben eine Zielmarke: Wir wollen 250 bis 280 Demokratiepat*innen in mindestens zwei weiteren Bundesländern neben Niedersachsen weiterbilden – und die sind schon gefunden. Das ist jetzt der große Erfolg, auch die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, also dem Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Es wollen sich übrigens viel mehr Menschen engagieren, als wir im Augenblick qualifizieren können.
Demokratiestarke Polizei – Strukturelle Verankerung von Demokratiearbeit in der Polizei
Zentrale Aufgabe der Polizei ist es, die Demokratie zu verteidigen und alle Menschen zu schützen. Ziel des Projektes ist es, die Demokratiearbeit und den Umgang mit Diversität in der Polizei zu verbessern. Dazu werden Demokratiepat*innen ausgebildet. Das erfolgreiche Pilotmodell aus Niedersachsen wird mit dem Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ weitergeführt, langfristig verankert und auf weitere Bundesländer ausgeweitet. Das Projekt wird in enger Kooperation mit der Polizeiakademie Niedersachsen umgesetzt. Auf dem Kongress Netzwerk Demokratiestarke Polizei am 24. und 25. Oktober in Hannover stellen Demokratiepat*innen ihr Engagement vor.
www.demokratiestarkepolizei.de