Sprache verwandelt Menschen
Sprachliche Bildung an Schulen und Kitas muss sich verbessern – dafür macht sich das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache schon seit zehn Jahren stark. Die Einrichtung gilt bis heute bundesweit als einziges Institut einer Hochschule, das von einer Stiftung initiiert und gefördert wurde. Zeit für eine Bilanz.
Herr Professor Becker-Mrotzek, wie hat sich das Thema Mehrsprachigkeit in den vergangenen zehn Jahren entwickelt?
Mehrsprachigkeit von Kindern und Jugendlichen wird zunehmend als Chance begriffen, nicht als Problem oder Risikofaktor. Die öffentliche Wahrnehmung hat sich verändert und dadurch die Begrifflichkeiten. So reden wir in Deutschland nicht mehr von „Zweitsprache“, sondern positiver besetzt von Mehrsprachigkeit.
Würde das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache heute gegründet, hieße es dann Mercator-Institut für Sprachförderung und Mehrsprachigkeit?
Vielleicht. Es ist ja normal, dass sich Sprache verändert. Der öffentliche Diskurs wirkt auf Sprache ein, und umgekehrt kann eine veränderte Sprache den öffentlichen Diskurs verändern.
Wie beim Gendern.
Genau. Hier wandelt sich derzeit Sprache im Zeitraffer. Denn mit dem Gendern erprobt die Sprachgemeinschaft verschiedene Formen des Abschieds vom generischen Maskulinum und der sprachlichen Inklusion von Menschen, die sich weder als Frau noch als Mann verstehen. Beim Gendern kommen bekanntlich Doppelnennung, Genderstern oder andere neutrale Varianten zum Einsatz. Und auch der Begriff der Zweitsprache findet heute nur noch wenig Verwendung, nicht zuletzt, weil er nicht mehr so treffend ist. Während der Grundschulzeit werden alle Kinder mehrsprachig, weil bei ihnen Englisch auf dem Stundenplan steht – und das sieht eine Mehrheit positiv. Aber Mehrsprachigkeit bedarf oftmals auch einer besonderen Förderung, insbesondere bei Deutsch als Fremd- oder eben Zweitsprache in der Schule. Als sehr hilfreich – etwa in der Bewältigung der Situation von 2015 – hat sich ein Konzept herausgestellt, an dem auch unser Institut arbeitet: der sprachsensible Unterricht.
Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek ist Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. Seit 1999 ist er Professor für Deutsche Sprache und ihre Didaktik mit den Schwerpunkten Schreibforschung und Schreibdidaktik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. Von 2013 bis 2020 war er zudem Sprecher des Trägerkonsortiums der Bund-Länder-Initiative Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS). Seit 2020 ist er Sprecher des Nachfolgeprojektes, des Trägerkonsortiums der Initiative zum Transfer von Sprachbildung, Lese- und Schreibförderung (BiSS-Transfer).
Wie sieht ein solcher Unterricht konkret aus?
Sprachsensibler Unterricht ist vor allem im Fachunterricht und in Mathematik wichtig, also da, wo es nicht primär um Sprache geht, sie aber Voraussetzung dafür ist, dass Schüler*innen in diesen Fächern leistungsstark sind. Denn ein Kind kann eine mathematische Textaufgabe nur dann lösen, wenn es die Frage versteht. Wichtig beim sprachsensiblen Unterricht ist beispielsweise, die Fachbegriffe zu erklären. Lehrkräfte sollten Texte, mit denen die Schüler*innen arbeiten, kritisch auf möglicherweise unbekannte Fachbegriffe hin untersuchen und die Definitionen über Karten bereitstellen. Vielleicht können sie je nach Hintergrund und Fähigkeiten manche Ausdrücke auch zunächst in der Familiensprache des Kindes besprechen. Kurz: Die Pädagog*innen müssen für Sprache und ihre Hürden sensibilisiert werden, dann können sie Fallstricke vermeiden. Davon profitieren alle Schüler*innen, insbesondere diejenigen, die beim Erwerb der deutschen Sprache noch nicht so weit vorangeschritten sind.
Wie erreichen Ihre Erkenntnisse zum sprachsensiblen Unterricht die Lehrkräfte?
Wir untersuchen an unserem Institut auch die Frage nach dem Transfer und überlegen, wie sich Konzepte zur sprachlichen Bildung an den Schulen und Kitas einsetzen lassen. Dafür bilden wir bundesweit Pädagog*innen fort und haben zum sprachsensiblen Unterricht entsprechende Fortbildungen im Angebot.
Das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen – von sieben Mitarbeiter*innen auf mehr als 100. Worauf lässt sich dieser Erfolg zurückführen?
Es gab zwei Entwicklungen, die ganz wesentlich zur Expansion des Instituts beigetragen haben. Zum einen haben Bund und Länder 2013 die Initiative Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS) beschlossen, für die verschiedene Einrichtungen – darunter auch wir – untersucht haben, welche sprachlichen Kompetenzen Kinder und Jugendliche benötigen, um ihren Alltag erfolgreich und gut eingebunden bestreiten zu können. 2015/16 erreichte dann die sogenannte europäische Flüchtlingskrise ihren Höhepunkt. Damals suchten mehr als eine Million Menschen Zuflucht in Deutschland, vor allem vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Kitas, Schulen und Einrichtungen zur Erwachsenenbildung standen plötzlich vor der Aufgabe, sehr vielen Menschen die deutsche Sprache vermitteln zu müssen. Diese Herausforderung hat ebenfalls dazu beigetragen, dass unser Institut immer gefragter wurde.
Heute geht es um die sprachliche Integration von Ukrainer*innen.
Ja. Und tatsächlich sind die Pädagog*innen besser vorbereitet. Sie können auf unsere damaligen Konzepte und ihre eigenen Erfahrungen zurückgreifen. Das ist ein großer Vorteil.
Mit welchen Themen wird sich Ihr Institut in den kommenden Jahren vorrangig beschäftigen?
Das Bildungssystem steht vor drei großen Herausforderungen, mit denen wir uns beschäftigen werden, um die Situation zu verbessern: Das eine ist – was wir auch bei den aktuellen Bildungstrends des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) gesehen haben –, dass die Zahl der Schüler*innen wächst, die die Mindeststandards in Lesen, Schreiben und Rechnen nicht erreichen. Das IQB untersucht ja im Auftrag der Kultusministerkonferenz, inwieweit Viertklässler*innen die bundesweit geltenden Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz in den Fächern Deutsch und Mathematik für den Primarbereich erreichen. Wir müssen also an den basalen Kompetenzen arbeiten. Das Zweite sind die Herausforderungen, die sich mit der Inklusion ergeben. Wie können wir in heterogenen Klassen allen Kindern mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen gerecht werden und alle beteiligten Pädagog*innen in diesen Prozess einbeziehen? Das dritte große Thema ist die Digitalisierung: Was bedeutet sie im Hinblick auf die Lernziele, die es zu vermitteln gilt? Und wie können wir digitale Medien nutzen, um sprachliche Bildung zu vermitteln? Auch in den kommenden Jahren gibt es sehr viel zu tun.
Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache
Das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache ist ein von der Stiftung Mercator initiiertes und gefördertes Institut der Universität zu Köln. Es will die sprachliche Bildung verbessern und zu mehr Chancengleichheit im Bildungssystem beitragen.
www.mercator-institut-sprachfoerderung.de