Wie fördern wir Vielfalt an Schulen?

Kulturelle Vielfalt empfindet die Mehrheit heute als Bereicherung. Doch das war nicht immer so. Nicht nur im Schulalltag sind Diskriminierung und Rassismus noch präsent. Der Ungleichbehandlung muss umfassender begegnet werden, sagt Hacı-Halil Uslucan. Er ist Professor für Moderne Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen und wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung.
Professor Hacı-Halil Uslucan, in den vergangenen zehn bis 15 Jahren entwickelten viele Schulen Projektwochen zu Diskriminierung und Rassismus oder etablierten dauerhafte Arbeitsgruppen. Sehr bekannt ist das Netzwerk „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“. Wie stehen Sie zu solchen Projekten und Kooperationen: Ist das ein Anfang zu mehr Sensibilisierung?
Seit 2005 ist die Sensibilisierung deutlich gestiegen. Der Anteil von Ausländer*innen lag damals bei acht bis neun Prozent. Als jedoch 2005 die Kategorie „Migrationshintergrund“ berücksichtigt wurde, hat es eine Verdopplung gegeben. Die Heterogenität in den Klassen war deutlich größer als zuvor angenommen. Inzwischen liegt der Anteil von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte im gesamten Bundesgebiet bei etwa 25 Prozent. Das ist keine marginale Größe mehr. Da rücken Fragen nach kultureller Vielfalt, sprachlicher Vielfalt und Diskriminierung stärker in den Fokus. So müssen Schulen für sich werben und sich kulturell öffnen. Das Netzwerk „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ ist da eine Möglichkeit.

Hacı-Halil Uslucan setzt sich seit mehreren Jahrzehnten für eine bessere Integration und Migration an deutschen Schulen ein. Als Professor an der Universität Duisburg-Essen vermittelt er den zukünftigen Lehrkräften ein starkes Bewusstsein für mehr Vielfaltsförderung und gibt ihnen Möglichkeiten an die Hand, um aktiv gegen Diskriminierung und Rassismus im Schulalltag vorzugehen.
Lässt sich erkennen, dass es eine Tendenz zu weniger Diskriminierung und mehr Bewusstsein für Diversität im Schulalltag gibt?
Dazu müssen wir mehrere Punkte beachten. Unsere Gesellschaft hat sich verändert. Es sind nicht mehr Migrant*innen der ersten Generationen in den Schulen. Schon 2010 gab es Studien, die gezeigt haben, dass die Nachfolgegeneration viel sensibler geworden ist für Diskriminierung, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie sich stärker dazugehörig fühlt und besser integriert ist. Der 14-jährige Mehmet vergleicht sich mit dem 14-jährigen Sebastian aus seiner Klasse. Das heißt, dass Ungleichbehandlung in der Schule, bei der Polizei oder in der Verwaltung viel stärker wahrgenommen wird. Zum Glück gibt es mittlerweile die Generation der Lehrkräfte, die selbst schon mit Migrant*innen in die Schule gegangen ist. Junge Lehrkräfte, die beispielsweise aus dem Ruhrgebiet, Köln, Hamburg oder Berlin kommen, nehmen die Vielfalt anders wahr und begreifen sie vielmehr als etwas Natürliches.

Das deutsche Schulsystem schafft es nicht, jedes Kind gleichermaßen zu fördern, sodass das soziale Umfeld und die soziale Herkunft der Erziehungsberechtigten viel Gewicht haben. Wie kann der sozialen Ungleichheit entgegengewirkt werden?
Wenn ich es mal etwas zynisch sage, sind Schüler*innenleistungen in Deutschland vor allem auch Elternleistungen. Wie gut ein Kind in der Schule ist, hängt ein Stück weit davon ab, wie gut die Eltern sind. Was für ein kulturelles Kapital haben die Eltern? Welche Bildung bringen sie mit? Und was für ein materielles Kapital hat die Familie – können sie sich Nachhilfe leisten? Die zentrale Forderung liegt auf der Hand. Die Schüler*innenleistungen sollten von den Eltern entkoppelt werden. Ansätze dazu beobachten wir teilweise in Gesamtschulen.
Welche anderen Stressoren gibt es noch bei den Kindern? Gehen wir jetzt in die Extreme und stellen uns zwei Fragen: Kommt das Kind aus einer Ärzte- oder Anwaltsfamilie und wird nur „Luxus“ verwaltet? Oder habe ich ein Kind, das aus einem Elternhaus kommt, in dem allein die Mutter zwei Jobs hat und gar keine Kraft mehr hat, sich um das Kind zu kümmern? Das sind psychische Aspekte, die miteinbezogen werden sollten. Da braucht es Lehrkräfte, die damit umgehen und die Kinder fördern können.
Was sollten Bund und Länder verbessern?
In der Bildungspolitik selbst brauchen wir Verbesserungen. Die Universitäten sollten angehenden Lehrkräften interkulturelle Bildung und interkulturelle Pädagogik obligatorisch vermitteln. Die angehenden Lehrkräfte müssen an jeder Universität gleichermaßen sensibilisiert werden. Die Migrationsgeschichte der vergangenen 60 Jahre ist Teil der deutschen Geschichte und sollte Teil des Curriculums sein. Zudem braucht es Änderungen in der Stadtpolitik. Die Schulen in sozial prekären Quartieren sind häufig schlecht ausgestattet. Allein durch diese schlechtere Ausstattung bleibt diesen Kindern gleichwertige Bildung verwehrt.
Mercator Forum
„Teilhabe statt Diskriminierung“
14. & 15. September 2022 in Essen
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Marginalisierte Gruppen erleben jedoch weiter Benachteiligungen, zum Beispiel aufgrund ihrer kulturellen Herkunft oder ihres sozioökonomischen Hintergrunds.
Vertreter*innen aus Politik und Verwaltung, Wissenschaft, Wirtschaft sowie Zivilgesellschaft diskutieren über Diskriminierung und Teilhabe mit dem Ziel gemeinsam Handlungsstrategien zu entwickeln.

In den vergangenen Jahren wurde im öffentlichen Diskurs viel über Rassismus und Diskriminierung gesprochen. Wäre es sinnvoll für einen nachhaltigen Umgang mit Migration und Integration, diese Inhalte in Schulen altersgemäß wiederkehrend zu thematisieren?
Generell ist die Idee gut. Doch diese Inhalte müssen Personen mit pädagogischer und fachlicher Kompetenz vermitteln. Denn es gibt in diesem Bereich genügend schlechte Beispiele. Aus welchen Gründen kommen Familien nach Deutschland? Oftmals ist die Antwort: Deutschland ist ein reiches Land. Das ist falsch und reicht nicht. Teilweise fliehen Menschen aufgrund von Kriegen oder des Klimawandels. Auch können europäische Staaten durch asymmetrische Handelsbeziehungen Länder in der sogenannten Dritten Welt deutlich stärker ökonomisch einengen; sie können eigene Waren staatlich subventionieren und dadurch Preise auf dem Weltmarkt diktieren, die zum Aussterben ganzer Branchen in anderen Ländern führen. Dies bewegt ebenfalls Menschen zur Flucht aus ihren Herkunftsländern. Ein anderes Beispiel ist das Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland. Wenn viele Mediziner*innen aus Bulgarien nach Deutschland oder England gehen, kann es dazu führen, dass im Herkunftsland selbst das Gesundheitssystem immer schlechter wird. Dadurch wird wiederum der Migrationsdruck erhöht, und mehr Leute müssen ihr Heimatland verlassen.

Oftmals gelten Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede als Hindernisse, die bei Grundschulkindern eine erfolgreiche Teilhabe verhindern. Was fordern Sie vom Schulsystem beziehungsweise von den Kommunen?
Hier sollte die Sprachförderung ausgebaut werden, sowohl für die Herkunftssprache als auch für die deutsche Sprache. Es gab erfolgreiche Projekte, die die Eltern miteinbezogen haben. Schauen wir auf die türkischen Migrant*innen: In der Türkei gab es bis 1998 nur eine fünfjährige Schulpflicht. Ab 1998 wurde sie auf acht Jahre erhöht. Seit 2012 gibt es eine zwölfjährige Pflicht. So kamen die ersten Generationen mit sehr geringer Schulbildung nach Deutschland. Da kann niemand erwarten, dass die Eltern die Sprache selbst gut können. Sie können keine Bücher von Orhan Pamuk lesen. Sie können kein Hochtürkisch. Deshalb sollte hier die Herkunftssprache gestärkt werden. Zumal auch andere Fächer mit Sprache und Sprachentwicklung zusammenhängen.
Wie sehen Sie die Entwicklung hin zu mehr Chancengleichheit und sozialer Teilhabe in der Gesellschaft in den kommenden fünf Jahren?
Es hat sich in den vergangenen Jahren schon viel getan. Der islamische Religionsunterricht wurde integriert. Das Bewusstsein, dass das berechtigte Forderungen sind, ist da. Wichtig wäre dennoch, dass es in Schulen unabhängige Stellen gibt, bei denen Eltern oder Kinder rassistische Vorfälle melden können. Bildungseinrichtungen tendieren immer dazu, sich selbst oder ihre Lehrkräfte zu schützen. Da wäre es förderlich, dass unvoreingenommene Mediator*innen die Vorfälle behandeln.
Sehen Sie den wachsenden Rechtsextremismus als Gefahr für unsere Gesellschaft und die Förderung von mehr Diversität?
Manifester Rassismus sensibilisiert die Gesellschaft. Gegen starken Rassismus von Rechtsextremen greift zum Glück der gesellschaftliche Konsens, dass dieser nicht sein darf. Viel schlimmer ist der subtile Rassismus. Kleine Sticheleien sind in der Frequenz schlimm. Die klassische Frage „Wo kommst du her?“ beispielsweise oder Ansprachen in einem anderen Ton oder das Benutzen von einfacher deutscher Sprache, ohne zu wissen, wie gut das Gegenüber die deutsche Sprache beherrscht. Dafür bräuchte es ein starkes gesellschaftliches Bewusstsein, dass diese Umgangsformen auch rassistisch und verletzend sein können.
Mercator Forum „Teilhabe statt Diskriminierung“
Im Mercator Forum arbeiten unterschiedliche Stakeholder*innen und Partner*innen der Stiftung Mercator zwei Tage lang an einer übergreifenden Fragestellung, um die Themen der Stiftung voranzutreiben. Das Mercator Forum findet einmal jährlich in Essen statt.