Kommt Demut von Mut, Kübra Gümüşay?
Kübra Gümüşay ist eine deutsche Journalistin, Autorin und Netzaktivistin, die zu den wichtigsten feministischen Stimmen Deutschlands gehört. Zuletzt veröffentlichte sie ein Buch über die Begrenztheit von Sprache und die Folgen des Schubladendenkens. Wie sich ihr nähern, ohne selbst in Stereotype zu verfallen? Ein Porträt.
Wer Kübra Gümüşay eine E-Mail schreibt, erhält automatisch die Nachricht: „slow in response“ – eine Antwort dauert also ein wenig. In diesem Moment wird klar: Die Netzaktivistin, die von 2008 bis 2016 den preisgekrönten Blog „Ein Fremdwörterbuch“ über Politik, Gesellschaft, Feminismus und Islam veröffentlichte, gehört zwar zur schnelllebigen Kulturszene der digitalen Welt. Dennoch oder gerade deswegen hat sie gelernt, sich bewusst Zeit zu nehmen: „Nach all den Jahren, die ich in dieser öffentlichen Debatten- und Arbeitskultur verbracht habe, wurde mir immer klarer, wie destruktiv die Schnelllebigkeit sein kann, wenn sie nicht nur eine Phase darstellt, sondern zum Dauerzustand wird“, erklärt Kübra im Zoom-Gespräch. Die Mittdreißigerin lebt derzeit im britischen Cambridge und forscht dort als Mercator Senior Fellow am Centre for Research in the Arts, Social Sciences and Humanities (CRASSH) und am Leverhulme Centre for the Future of Intelligence (LCFI). Das rasche Tempo insbesondere in den sozialen Netzwerken sei nicht nur stressig. Es führe auch zu Lücken in der Wahrnehmung: „Denn wenn wir ständig wie mit 180 km/h auf der Autobahn unterwegs sind, schauen wir kaum nach rechts und nach links. Dadurch geht viel verloren. Es fehlen die Muße für wichtige Fragen, Umsichtigkeit und die Ruhe für eine kritische Selbstreflexion. Und ich denke, dass sich viele Missstände der Gegenwart darauf zurückführen lassen, dass wir uns nicht ausreichend verantwortlich für andere und die weiteren Folgen unseres Handelns fühlen.“
Verantwortung für sich und andere übernehmen
Zeit zu haben, um sich um andere zu kümmern, war Kübra Gümüşay schon immer wichtig. Sie wuchs als Tochter türkischer Eltern in Hamburg auf. Ihr Vater und ihre Mutter brachten ihr bei, „eine Hand unter Steine zu legen“, wo es nötig ist – so wie es ein türkisches Sprichwort besagt. Die junge Kübra Gümüşay nahm sich das zu Herzen und versuchte, sich in andere hineinzufühlen und ihnen Lasten abzunehmen. Mit 15 wurde sie Schulsprecherin und vertrat die Interessen ihrer Altersgenoss*innen, erst in der Schüler*innenkammer, dann auf europäischer Ebene. Auch war sie Chefredakteurin des Hamburger Jugendmagazins „FREIHAFEN“ und gab jungen Menschen eine Stimme.
Andauernde Diskriminierung von Muslim*innen
Neben der Erziehung prägte das Weltgeschehen ihr Verantwortungsbewusstsein. Sie war 13 Jahre alt, als am 11. September 2001 islamistische Terroristen das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington angriffen, 15, als die USA und Großbritannien in den Irak einmarschierten – weil Saddam Hussein angeblich im Besitz von biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen war und den internationalen Terrorismus unterstützte. Der Kriegsgrund stellte sich später als Lüge heraus. Als Folge beider Ereignisse erlebte Kübra Gümüşay eine bis heute andauernde Diskriminierung von Muslim*innen in der westlichen Welt: „Ich wurde oft aufgefordert, Stellung zu dem zu beziehen, was gerade im Irak, Iran oder in Afghanistan passierte“, erinnert sie sich. „Und wenn an dich als Jugendliche von Erwachsenen solche Fragen herangetragen werden, beginnst du zu glauben, du hättest darauf antworten können. So entwickelte ich entsprechendes Wissen, las mich ein.“
Sprache prägt das Denken
Kübra Gümüşay studierte Politikwissenschaften in Hamburg und an der School of Oriental and African Studies in London. Und sie entwickelte Theorien, die sie unter anderem in ihrem 2020 veröffentlichten Buch „Sprache und Sein“ darlegt. Dort geht es darum, wie Sprache das Denken prägt und Politik bestimmt. Kübra Gümüşay hat selbst erlebt, dass die türkische Herkunft ihrer Eltern und ihr muslimischer Glauben immer wieder zum Anlass genommen wurden, sie in eine Art Sprachgefängnis zu stecken – wie „die junge muslimische Frau“.
Die Verwandlung der Wut durch Demut
Zurück zur Verantwortung – dem Anfang von vielem in Kübra Gümüşays Leben. Verantwortung zu spüren, kann erfüllend und belastend zugleich sein, und Kübra Gümüşay machte sie irgendwann wütend. Wütend, weil sie sich seit ihrer Jugend mit den Ungerechtigkeiten dieser Welt abmühte, während ihre Altersgenoss*innen ins Kino gingen und Spaß hatten. „Irgendwann beklagte ich mich bei einer älteren Freundin darüber, dass mein Handeln so wenig Effekt hatte, obwohl ich doch alles gab und auf so vieles verzichtete. Meine Freundin bemitleidete mich aber nicht, sondern sagte: ‚Kübra, dir mangelt es an Demut!‘“ Die 35-Jährige lacht, als sie sich daran erinnert, wie überrascht und auch gekränkt ihr früheres Ich war.
Wenn sich Verantwortung an Demut koppelt, kann ich zwar alles tun, was in meiner Macht steht, aber eben ohne Erwartungshaltung.
Demut – ausgerechnet Demut, so ein seltsam aus der Zeit gefallenes Wort, das vermutlich im Sprachschatz der meisten Menschen nicht auftaucht, obwohl ein positiv besetzter Begriff wie Mut drinsteckt. „Ich fand es im ersten Moment einen wirklich fiesen Kommentar“, gesteht Kübra Gümüşay. „Aber meine Freundin meinte: ‚Kübra, du hast einen Kopf, zwei Hände, zwei Beine: Was glaubst du, wer du bist, dass du Wirkung haben musst? Dass sich die Welt verändern muss, nur weil du dich engagierst?‘“ Noch während sie sich ärgerte, ahnte sie, damals schon Mutter eines kleinen Sohnes, dass ihre Freundin recht hatte: „Denn ich hatte damals den Fehler gemacht, zu erwarten, dass das, was ich mache, auch entsprechend Wirkung entfalten muss. So wie es falsch ist, zu glauben, dass aus der Verantwortung für ein Kind der Anspruch resultiert, dass das Kind auf eine bestimmte Weise zu sein hat. Nein. Wenn sich Verantwortung an Demut koppelt, kann ich zwar alles tun, was in meiner Macht steht, um meiner Verantwortung gerecht zu werden. Aber eben ohne Erwartungshaltung.“
Mit dem Schreiben Zugänge und Rampen eröffnen
Erwartet hätte Kübra Gümüşay auch nicht, dass im Frühjahr 2022 ein Textauszug aus „Sprache und Sein“ zur Abiturprüfung von Deutsch-Leistungskursen in Nordrhein-Westfalen gehörte. „Für mich war es ein toller Moment.“ Sie deutet in den weiß getünchten Konferenzraum, in den sie sich für das Zoom-Interview zurückgezogen hat: „Ich war hier, als am Tag der Prüfung plötzlich meine digitalen Postfächer überquollen, weil mir die Abiturient*innen lauter Nachrichten geschickt und zum Beispiel erzählten, dass sie zum ersten Mal einen Sachtext mit Freude gelesen und verstanden haben. Oder dass sie sich ein Stück weit durch mich und meinen Namen gesehen fühlen. Für jemanden, der schreibt, ist ja eines der größten Geschenke, gelesen zu werden“, fährt Kübra Gümüşay fort. „Und ein noch viel größeres Geschenk ist es, wenn sich darüber eine Verbundenheit entwickelt. Das hat mich sehr berührt, nicht zuletzt, weil ich jüngere Brüder habe, die bis vor Kurzem im Alter der Abiturient*innen waren.“ Für Kübra Gümüşay ist das ein Grund, weiterzumachen – weiter inklusiv zu schreiben und zu denken.
Mercator Fellowship-Programm
Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideenreich einem Forschungs- oder Praxisvorhaben zu widmen.