Eine Aktivistin für Frauenrechte in der Türkei
Die Gender-Expertin Rümeysa Çamdereli setzt sich in der Türkei entschieden für Frauenrechte ein. Dabei sucht die gläubige Muslima und Hijab-Trägerin den Dialog sowohl in feministischen als auch in traditionellen muslimischen Kreisen – und überwindet veraltete Sichtweisen auf allen Seiten.
Rümeysa Çamdereli ist Muslima und Feministin. Einen Widerspruch zwischen ihrem Glauben und ihrem Aktivismus sieht die türkische Gender-Expertin keinesfalls – auch wenn sie sehr oft darauf angesprochen wird, als müsste es einer sein. „Zuallererst bin ich Aktivistin“, sagt sie, „eine feministische Aktivistin, eine muslimisch-feministische Aktivistin.“ Ihre Waffe ist der Dialog.
Initiative(n) ergreifen
Ihr Lebenslauf ist randvoll mit dem, was ihr wichtig ist. Seit 2020 ist die 32-jährige Gender-Expertin Forschungsdirektorin der YADA Foundation, einer NGO in Istanbul, die der türkischen Zivilgesellschaft Gehör verschaffen will. Sie hat zudem mehrere Organisationen mitgegründet: die Kadınlar Camilerde („Frauen in Moscheen“), den Reçel-Blog („Marmelade-Blog“), in dem viele Unterstützer*innen von ihren Herausforderungen und Erlebnissen berichten, und den ersten türkischen islamisch-feministischen Frauenverband Havle. Sie war Teil verschiedener Initiativen wie der Emek ve Adalet Platformu („Arbeits- und Justiz-Plattform“) und Kadına Şiddete Karşı Müslümanlar İnisiyatifi („Muslime gegen Gewalt gegen Frauen“).
Und die Fellow des Zukunftsforums Türkei Europa ist noch lange nicht am Ziel. „Muslimischer Feminismus ist ein neues Konzept, das viele nicht verstehen“, sagt sie im Video-Interview aus ihrem Büro in Kadıköy, dem aufstrebenden asiatischen Teil Istanbuls. Das Headset trägt sie über ihrem locker gebundenen grauen Kopftuch. Der konservative Flügel in der Türkei kenne den Feminismus noch nicht, das ändere sich jetzt erst langsam mit der neuen Generation, die mit dem Thema aufwächst. Dieses aufkeimende Verständnis will Rümeysa Çamdereli in der Gesellschaft verstärken, mit Austausch und Kommunikation. Der Dialog, das Argumentieren, das Für-sich-Einstehen lernte sie schon in jungen Jahren. Mit zwölf entschied sie sich dafür, den Hijab zu tragen. „Natürlich kann man eine Diskussion darüber führen, inwiefern sich eine Zwölfjährige für den Hijab entscheiden kann. Ich kann für mich zumindest behaupten, dass es meine Entscheidung war.“
Gegen den Glauben
Sie wuchs in einer traditionellen muslimischen Akademiker*innen-Familie auf, ihre große Leidenschaft ist das Gitarrespielen. In ihrer Jugend in den 90er-Jahren begann sie, zu hinterfragen. Die Türkei legte damals viel Wert auf Säkularisierung: Bevor sie die Schule betrat, musste sie das Kopftuch ablegen – entgegen ihrem Glauben. Sie empfand das als Ungerechtigkeit. Aus diesem Zwiespalt heraus erwuchs in ihrer Schulzeit so auch ihr politisches Ich. Als eine der Klassenbesten erhielt sie einen Platz an der renommierten Boğaziçi-Universität in Istanbul. Sie studierte IT-Ingenieurswesen. Unpolitischer konnte ein Fach kaum sein. Doch auch hier verstärkte sich ihr innerer Konflikt, denn selbst auf dem Campus musste sie ihren Hijab abnehmen.
An der Uni kam die junge Studentin in Kontakt mit dem Feminismus. Rümeysa Çamdereli fing an, sich feministisch zu organisieren. Sie erkannte Diskriminierungen, die sie aufgrund ihrer Identität als Frau erlebte, und definierte die Kopftuchfrage fortan als Frauenfrage: Jede Frau soll das Recht haben, das zu tragen, was sie will. Sie engagierte und vernetzte sich, nahm an den großen Frauenprotesten teil: am 8. März zum internationalen Frauentag und am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen.
Kopftuch und Feminismus: Unvereinbar?
Gleichzeitig vertiefte sie ihr Studium des Islams, fand Freund*innen sowohl in feministischen als auch in traditionellen muslimischen Kreisen. „Ich bin immer im Dialog geblieben, habe versucht, so ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten“, erklärt sie. Das heißt für sie, zum Beispiel feministische Anliegen wie etwa das Recht auf Abtreibung zu verstehen und zu verteidigen – auch wenn sie es für sich persönlich ausschließt. Diese Offenheit zu allen Seiten scheint nötig, denn „die Angriffe kommen von allen Seiten“. Bei den Feminist*innen heiße es oftmals, das Kopftuch sei ein Werkzeug der Oppression, das Frauen nicht freiwillig trügen. In traditionellen muslimischen Kreisen gab es die Debatte darüber, wie Frauen Gleichberechtigung und Teilhabe erreichen könnten, zu dem Zeitpunkt wiederum nicht wirklich.
Neben dem Dialog überzeugte Rümeysa Çamdereli mit Präsenz: Die passionierte E-Gitarristin trat immer wieder auf Konzerten auf – natürlich mit Hijab. „So sichtbar auf der Bühne zu sein passt nicht zur Erwartungshaltung, was eine Frau mit Kopftuch zu tun und zu lassen hat“, sagt sie. Rümeysa Çamdereli erkannte: Das Private ist politisch. „Mein Vater war Professor und hat seinen Glauben zeitweise verschwiegen. Als ich 2008 in der Zeitung als E-Gitarristin mit Kopftuch abgebildet wurde, hatte ich Angst, dass er dafür seinen Job verliert“, erinnert sie sich. „Keiner wusste, dass er eine Hijabi-Tochter hat“, fügt Çamdereli hinzu und meint damit eine gläubige Tochter, die Kopftuch trägt. Nach der Aufhebung des Kopftuchverbots 2011 wurden die feministischen Themen vielfältiger. Sie rief den Reçel-Blog ins Leben, dort schilderten Unterstützer*innen ihre Erlebnisse. „So konnten sich muslimische Frauen wiederfinden“, sagt die Aktivistin. Aus den Erfahrungen wurden Treffen mit Frauen, die merkten: „Wir sind doch nicht allein.“
Verschiedene Standpunkte, mehr Diskurs
Den Zusammenhalt durch Diskurs kultiviert die Forschungsdirektorin auch innerhalb der YADA Foundation: „Wir haben etwas namens Meydan eingeführt“, erklärt sie. „Meydan“ bedeutet „Marktplatz“, und wie im physischen Zentrum einer Stadt sollen hier verschiedene Standpunkte von unterschiedlichen Menschen beleuchtet werden. Auch wissenschaftlich will sie mit der YADA Foundation Zeichen setzen. „Aktuell erforschen wir die Einstellung der Zivilgesellschaft zur Ehe von Minderjährigen.“ In der Diskussion, sagt die Aktivistin, sei oft das Argument vorgetragen worden, die Mehrheit der Gesellschaft habe nichts dagegen. „Das haben wir widerlegt.“ Zudem hätten viele bislang den Islam benutzt, um Hochzeiten von Minderjährigen zu rechtfertigen. „Dafür haben wir einen intensiven Dialog mit Religionsprofessor*innen unterschiedlicher Richtungen geführt und erarbeiten gerade unsere Findings.“ Ein wichtiger Schritt, sagt sie, denn: „Die Ehe von Minderjährigen ist ein Thema für viele Feminist*innen. Wir wollen die religiöse Komponente erklären.“
Ihr Aktivismus erfordert aktuell Mut. Dabei sind Hass und Anfeindungen im Netz noch das geringere Leid, denn „zwei befreundete Aktivistinnen sind im Gefängnis, zwei weitere mussten ins Ausland fliehen“, erklärt sie. Çamdereli aber will sich vor Ort einsetzen, in ihrer Sprache und der ihrer Mitkämpfer*innen für den muslimischen Feminismus einstehen, „damit er ein wichtiger Bestandteil der feministischen Debatte in der Türkei wird“.
Zukunftsforum Türkei Europa
Das Zukunftsforum Türkei Europa ist ein Projekt der Stiftung Mercator. Seit 2015 bringt es jährlich engagierte türkische und europäische Nachwuchsführungskräfte zu einem intensiven Dialog zusammen.
www.turkey-europe-future-forum.com