Eine Brücke zwischen Istanbul
und Dortmund

Eine Brücke zwischen Istanbul
und Dortmund
Autor*innen: Carola Hoffmeister, Onur Burçak Belli Fotos: Burçak Belli 25.01.2021

Verschiedene Länder, die gleiche Frage: Wie kann man geflüchtete Kinder in der Türkei und in Deutschland besser integrieren? Besonders dann, wenn es an der Sprache noch hapert? Eine Antwort: mit Musik! Einblick in ein länderübergreifendes Programm, das Grenzen vor Ort und zwischen den beiden Ländern einreißen will.

Istanbul

Enes, 11 Jahre, und Rohat, 9 Jahre, sind Spielgefährten, die davon träumen, berühmte YouTuber zu werden. „Was braucht man schon, um ein YouTuber zu sein?“, fragt Enes. „Du machst ein paar Videos und bearbeitest sie. Und dann sagst du: ‚Danke fürs Zuschauen. Bitte klickt, dass euch das Video gefällt.‘ Ganz einfach.“ Die Chancen der beiden, ihr Vorhaben zu verwirklichen, verdüstern sich, als sie wegen der Pandemie in ihren Wohnungen bleiben müssen. Enes hat eine Schwester, Rohat zwei. Mit ihnen teilen sie Computer und Internetzugang. Als sich das Virus im März in der Türkei verbreitet, wird Kindern und Senior*innen vorgeschrieben, ihre Wohnungen bis auf Weiteres nicht zu verlassen. Aufgrund ökonomischer Zwänge leben die Menschen in Großfamilien zusammen, der Platzmangel in den winzigen Apartments macht alles noch anstrengender.

Für Enes war MeloBE eine mehr als willkommene Abwechslung. © Burçak Belli
Rohan hat sich Unterstützung im Tarlabasi-Gemeinschaftszentrum geholt, um an MeloBE teilnehmen zu können. © Burçak Belli

Istanbul ist zudem nicht für kostenlose kinderfreundliche Parks und Freizeitbereiche bekannt. Als die Schulen geschlossen werden und die Kinder nicht mehr auf der Straße spielen dürfen, ist es mit den sozialen Kontakten vorbei. „Ich bin oft allein und muss leise sein. Es ist todlangweilig. Ich vermisse meine Freunde“, erzählt Enes. Er hat ständig Streit mit seiner Schwester um das einzige Tablet zu Hause. Rohats Antwort: „Ich habe zwei Schwestern. Ich habe es doppelt schwer.“ Die beiden sind vor Energie strotzende, dynamische Kinder. Auf engem Raum eingesperrt zu sein deprimiert sie und raubt ihnen die Möglichkeit, ihr Potenzial auszuschöpfen. Aber Hilfe ist bereits unterwegs!

Dortmund

Ein Freitagnachmittag im Dortmunder Flüchtlingshilfeverein Train of Hope: In dem abgedunkelten Seminarraum klatschen, stampfen und schnipsen zehn Kinder und Jugendliche mit Füßen und Händen. Sie folgen den Anweisungen in einem an die Wand projizierten Video, in dem vier Jugendliche ihre Körper als Instrument nutzen. „Das macht Spaß“, lacht Meryem nach dem Unterricht. Sie und ihre Brüder Mohammad und Humam sind ein bisschen außer Atem. Ob sie sich vorstellen können, dass nach dem Workshop ein Film entsteht, in dem auch Kinder aus der Türkei zu sehen sind? Die Elfjährige schüttelt den Kopf. „Gar nicht“, sagt sie. „Ich habe noch keine türkischen Kinder kennengelernt.“

Den Workshop, an dem Meryem teilnimmt, hat sich die deutsch-türkische Initiative „All together/Hep beraber/Alle zusammen“ ausgedacht. Die Organisation entwickelt interkulturelle Programme, die Kinder mit internationalem Hintergrund näher zusammenbringen sollen. Das Besondere: Sie sind so gestaltet, dass sie sich sowohl für Kinder in der Türkei als auch in Deutschland eignen. In einigen Fällen werden sie sogar gemeinsam durchgeführt. Wie jetzt, bei Train of Hope. Der Verein hat sich mit der türkischen Initiative BoMoVu (kurz für: Body Movements for Vulnerable Groups in Turkey) zusammengetan. Gemeinsam wollen sie mit den Kindern ein Tanzvideo auf die Beine stellen.

Dafür nutzen sie MeloBE, eine Abkürzung für: „Be the melody“ – „sei du selbst die Melodie“. Es ist ein Musikunterricht, den die Teilnehmer*innen auch dann absolvieren können, wenn sie über keine gemeinsame Sprache und keinerlei Erfahrung mit Instrumenten verfügen. Stattdessen kommen selbst gebastelte Gitarren, Trommeln und Rasseln zum Einsatz. Oder, wie bei der Body Percussion, der eigene Körper. „Musik ist eine Sprache, die alle Menschen auf der Welt sprechen und die deshalb auch Kinder aus verschiedenen Kulturen verbindet“, erklärt Jamil Alyou, Projektmanager bei Train of Hope. „Bei uns im Verein stammen die Kinder aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus verschiedenen Ländern Afrikas.“

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© Deutsch-Türkische Initiative für Zusammenarbeit in der Flüchtlingshilfe

Istanbul

Enes‘ und Rohats Familien kommen aus der südostanatolischen Provinz Mardin. In den 1990er-Jahren wurden sie von dort vertrieben und landeten als Binnenmigranten in Istanbul. Sie leben in Tarlabasi im Bezirk Beyoglu ganz nah am Taksim-Platz, dem Herzen Istanbuls. Tarlabasi besteht aus heruntergekommenen, niedrigen, schmalen Gebäuden, die sich entlang enger Gassen zusammendrängen. Das Viertel wirkt suspekt. Selbst die Taxifahrer*innen wollen nicht den Hügel hinunterfahren; sie wissen, dass hinter der neu gestalteten, schicken Fassade des Tarlabasi-Boulevards das Leben der Einwanderer*innen und Geflüchteten, der Schwachen, Armen und Benachteiligten aus dem ganzen Land, der weiteren Region und der Welt beginnt. Die Gegend ist schon lange eine Anlaufstation für Neuankömmlinge wie Enes’ und Rohats Familien. Rohat erzählt, seine Familie spare, um sich ein ordentliches Haus in einem besseren Viertel leisten zu können. Enes sagt dasselbe. Er wolle Wissenschaftler werden, daher müsse er eine bessere Schule besuchen. Die kann Tarlabasi den Kindern nicht bieten.

Doch es braucht wenig, um die beiden neu zu motivieren – wie MeloBE. Über BoMoVu finden die beiden zu diesem Programm. Es bietet ihnen genau das, wonach sie sich sehnen: trotz der physischen Distanz zusammenzufinden und sich kreativ auszutoben. In der Türkei geht das wegen der Pandemie-Regelungen ausschließlich digital. Aber genau darin liegt die Chance, das Projekt gemeinsam mit Train of Hope in Deutschland zu starten. So machen sich beide Seiten ans Werk, Bewegungen einzustudieren und alles für das Filmen der Choreografien vorzubereiten.

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© Burçak Belli

Dortmund

Jamil Alyou kam 2016 von Syrien nach Deutschland. Er studierte an der Fachhochschule Bielefeld und engagiert sich ehrenamtlich bei Train of Hope. Hier saß er im Frühling, während des ersten Lockdowns, in einem Zoom-Meeting und erzählte den Kindern und Jugendlichen von der Idee, zusammen mit türkischen Kindern einen Musikclip zu produzieren. „Ich bin dann vor der Kamera herumgesprungen und habe dabei auf meinen Körper geschlagen, um ihnen zu zeigen, was Body Percussion ist. Sie mussten sehr lachen, waren aber auch begeistert von der Idee. Einige haben direkt mitgemacht. Ganz besonders fanden sie faszinierend, dass Gleichaltrige aus einem fernen Land mitmachen.

Istanbul

„Deutschland und die Türkei teilen die Herausforderung gesellschaftlicher Integration. Sie hat sich insbesondere um das Jahr 2015 herum intensiviert. Wir wollten Programme ins Leben rufen, die sich an Kinder mit und ohne Einwanderungs- oder Flüchtlingshintergrund richten und bei denen die Förderung des sozialen Zusammenhalts und des Zusammenlebens im Fokus stehen“, erklärt Beril Sönmez von der Institution Anadolu Kültür, der Koordinatorin von „All together/Hep beraber/Alle zusammen“ in der Türkei.

MeloBE scheint diesen Zweck zu erfüllen: Die Begeisterung und das Vergnügen von Enes und Rohat, als sie beschreiben, wie sie von dem Projekt erfahren und sich zur Teilnahme entschlossen haben, sind spürbar. Während sie erzählen, beginnen beide sofort, auf ihren Körpern herumzutrommeln, und wiederholen dabei die erlernten Rhythmen. Innerhalb von Sekunden stehen sie auf den Füßen, steppen auf dem Boden und summen. Sie sind eine Melodie geworden – so als hätten sie alle Not und alle Grenzen überwunden.

Die beiden Freunde haben sich im ersten Lockdown in Istanbul sehr vermisst. © Burçak Belli

Dortmund

Im Sommer können sich die Kinder wieder im Vereinsgebäude von Train of Hope in der Dortmunder Nordstadt treffen. An vier Terminen studieren sie hier die Body Percussion ein. Einfach ist das nicht immer, erzählt Gruppenmentor Wael Alokla: „Vor allem für die jüngeren Kinder ist es schwierig, den Rhythmus mehrere Minuten lang durchzuhalten. Da müssen sich alle schon sehr konzentrieren. Aber ich bin sicher, am Ende wird alles gut klappen.“ In der dritten Trainingsstunde können Meryem und die anderen die Bewegungen fast auswendig. Wael Alokla filmt sie einzeln bei ihrer Performance, andere haben sich bereits selbst mit der Handykamera aufgenommen. Das gesammelte Material wandert zu einem Cutter, der die Aufnahmen aus Deutschland und der Türkei zu einem Videoclip zusammenschneidet.

Istanbul

Bis zu den fertigen Clips hat BoMoVu in der Türkei noch einige Hürden zu überwinden. Allen voran das mangelnde Film-Equipment: „Manche Kinder haben weder digitale Ausrüstung noch einen Internetzugang. Wir können einigen die entsprechenden Geräte zur Verfügung stellen, aber auch unsere Möglichkeiten sind begrenzt“, erzählt Dilek Üstünalan von BoMoVu. „Zudem besteht in der Türkei die Anordnung, dass Kinder drinnen bleiben sollen. Darum muss jedes Kind sich selbst aufnehmen, während die Kinder in Deutschland zu Train of Hope ins Büro kommen können.“

Doch das alles erweist sich als Motivation für die Kinder, noch kreativer zu werden. Ihr Wille, an einem derartigen Projekt teilzunehmen, ist stärker als die ihnen gesetzten Grenzen. „Eines der Mädchen hat sich das Handy der Nachbarin geliehen“, sagt Üstünalan lachend. Enes hat eine Einigung mit seiner Schwester getroffen, um den einzigen Computer im Haushalt nutzen zu können. Rohat hat sich Hilfe beim Trainer des Tarlabasi-Gemeinschaftszentrums geholt, das seit über einem Jahrzehnt im Viertel aktiv ist und Frauen, Kinder und Jugendliche sozial und mit Bildungsangeboten unterstützt.

Istanbul und Dortmund

Schließlich ist er da, der große Moment – die Premiere des ersten deutsch-türkischen MeloBE-Videos. Ein Zweiminüter, in dem jedes Kind in einem bunten Rahmen seinen eigenen Auftritt bekommt und auf den alle mächtig stolz sind.

Meryem, die mit ihrer Familie von Damaskus nach Deutschland geflüchtet ist, erinnert sich daran, wie glücklich sie war, nach vielen Monaten Fußmarsch endlich anzukommen. Gleichzeitig war es am Anfang schwierig, sich mit niemandem richtig austauschen zu können: „In meiner ersten Schule wurde ich deshalb gehänselt. Weil mein Deutsch so schlecht war“, sagt sie.

Enes und Rohat haben eine Vielzahl neuer Bewegungen gelernt und fühlen sich frisch inspiriert für ihre YouTube-Projekte. Ihre Motivation ist gestärkt. Geholfen hat ihnen, dass mit MeloBE eine Möglichkeit vor ihnen auftauchte, wo es sonst nicht viel gibt.

Deutsch-türkische Initiative für Zusammenarbeit in der Flüchtlingshilfe (All together)

Durch Austausch und Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei will das von der Stiftung Mercator geförderte Projekt „All together/Hep beraber/Alle zusammen“ bessere, diversitätssensible und diskriminierungskritische Ansätze für die schulische und gesellschaftliche Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung erarbeiten und umsetzen.

hwww.germanturkishinitiative.org/