Wie Corona den Blick auf Migration verändert

Wie Corona den Blick auf Migration verändert
Autor: Matthias Klein 18.12.2020

In der Coronakrise waren Migrant*innen besonders verwundbar. Gleichzeitig sei deutlich geworden, wie sehr die Wirtschaft Migration benötige, sagt Oliviero Angeli vom Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) im Interview zum Tag der Migranten. Er erwarte eine stärkere Problematisierung des Themas.

Oliviero Angeli
© André Wirsig

Die Coronakrise beherrscht seit Monaten die Welt. Wie hat sich diese auf Migration ausgewirkt, Herr Angeli?

Oliviero Angeli: Die Coronakrise hat sich in zweierlei Hinsicht auf die Situation der Migrant*innen ausgewirkt. Zum einen hat sich gezeigt, wie verwundbar Migrant*innen in Krisenzeiten sind. Sie arbeiten oft in Berufen, in denen die Ansteckungsgefahr sehr hoch ist, zum Beispiel in der Pflege oder in Schlachthöfen. Außerdem arbeiten sie häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen, die sie während der Pandemie besonders anfällig für Arbeitsplatzverlust machen. Zum anderen sehen wie in der Krise auch etwas Positives: Es ist deutlich sichtbar geworden, wie wichtig und unverzichtbar Migration für die Wirtschaft ist. Selbst die AfD hat sich zu Beginn der Coronakrise dafür ausgesprochen, Saisonarbeiter ins Land zu holen. Und auch in systemrelevanten Berufsgruppen wie etwa im Gesundheitswesen oder in der Pflege sind Migrant*innen und ihre Nachkommen überproportional vertreten.

Wird sich der Blick auf Migration dadurch dauerhaft verändern?

Angeli: Wir haben Migration in den vergangenen Jahrzehnten vor allem unter den Aspekten der Kosten und der Sicherheit diskutiert. Jetzt kommt die Dimension der Gesundheitsgefährdung hinzu, weil Mobilität als Hauptursache für die rasche Verbreitung des Virus betrachtet wurde. Die Coronakrise hat damit zu einer weiteren Problematisierung der Migration geführt.

Wird das rechtspopulistischen Parteien Auftrieb geben?

Angeli: Der Erfolg der rechtspopulistischen Bewegungen in Europa ist stark abhängig von der Salienz des Themas: Je stärker Migration auf der Agenda der Politik und der Medien steht, desto leichter haben es rechtspopulistische Parteien, ihre Wählerschaft zu mobilisieren. Die Pandemie hat das Thema Migration in den Hintergrund gedrängt. In Zeiten von pandemiebedingten Mobilitätseinschränkungen können rechtspopulistische Parteien aus dem Thema Migration kaum politisch Profit schlagen.

© Getty Images

In Ihrem Jahresbericht haben Sie Emigration untersucht. Lange Zeit spielte das Thema keine große Rolle in der öffentlichen Debatte. In vielen mittel- und osteuropäischen Ländern ist die Bevölkerung seit 1989 deutlich geschrumpft. Was bedeutet das für die Staaten?

Angeli: Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise haben viele junge und gut ausgebildete Menschen ihre Herkunftsstaaten auf der Suche nach Arbeit verlassen. Diese Entwicklung stellt einige europäische Staaten vor große Herausforderungen. Vor allem in den wirtschaftlich schwachen Regionen Osteuropas steuern wir auf eine demographische Krise zu, in Bulgarien, Rumänien, auch im Baltikum. Es fehlen so viele junge Menschen, dass die grundlegende Infrastruktur nicht mehr gewährleistet werden kann, beispielweise im Gesundheitswesen. Damit muss sich die Europäische Union in den kommenden Jahren befassen.

MIDEM Jahresbericht 2020: Emigration nach Europa

Migration zählte in den letzten Jahren zu den beherrschenden Themen der europäischen Politik und Öffentlichkeit. Dabei stand jedoch zumeist die Einwanderung im Fokus. Auswanderung fand bis heute deutlich weniger Beachtung. Das hat sich geändert: Laut einer Umfrage fühlen sich Menschen in wirtschaftlich schwächeren Regionen Europas inzwischen weniger durch Einwanderung als durch Auswanderung bedroht.

Das Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) untersucht Ausmaß, Struktur und Entwicklung von Emigration im EU-Raum. Den Bericht finden Sie hier.

Was kann die EU konkret tun?

Angeli: Wir haben es hier mit einem Fairnessproblem zu tun, also dass Länder zu erheblichen Kosten Menschen ausbilden, die sie dann aber an reichere Länder verlieren, beispielsweise im medizinischen Bereich. Verbote können hier nichts ausrichten. Denn die Freizügigkeit ist und bleibt eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Integration. Die Lösung kann daher nur in zusätzlichen Anreizen liegen. Dabei geht es vor allem darum, zirkuläre Migration zu erleichtern. Es müssen Anreize geschaffen werden, nach einer gewissen Zeit in das eigene Herkunftsland zurückzukehren – und dort Investitionen und das gewonnene Wissen einzusetzen.

Was bedeutet die Migration in reichere Länder für den europäischen Zusammenhalt?

Angeli: Für den europäischen Zusammenhalt wird Abwanderung dann zum Problem, wenn sich die demographische Krise in den wirtschaftlich schwächsten Ländern weiter verschärft. Das könnte euroskeptischen und rechtspopulistischen Kräften in diesen Ländern neue Argumente liefern. Unsere Untersuchung zeigt schon jetzt, dass Auswanderung aus wirtschaftlich schwachen Regionen rechtspopulistischen Parteien zugutekommt.

Ist das also das nächste Thema, das rechtspopulistische Bewegungen nutzen werden?

Angeli: Möglich. Man darf aber nicht vergessen, dass Auswanderung anders als Einwanderung die Politik kaum spaltet. Wenn Parteien das Thema Auswanderung aufgreifen, stellen sie es über Parteigrenzen hinweg meist als soziales und ökonomisches Problem dar. Damit ist es für Rechtspopulisten schwer, das Thema zu politisieren.

Wie sieht das in Deutschland aus? Nach der Wiedervereinigung sind zahlreiche Menschen von Ost- nach Westdeutschland gegangen.

Angeli: Die Binnenmigration in Deutschland führt zu einem anderen Effekt als die Auswanderung ins Ausland: Je stärker eine Region von Abwanderung betroffen war, umso besser schneidet dort heute die AfD bei Wahlen ab. Dieser Zusammenhang besteht unabhängig von anderen soziodemographischen und sozioökonomischen Faktoren wie Bevölkerungsdichte, Bruttoinlandsprodukt pro Kopf oder Arbeitslosenquote. Naheliegend ist, dass die AfD von der Frustration der Zurückgebliebenen profitiert. Wer bleibt, spürt den Verlust der sozialen Infrastruktur. Hier muss die Politik ansetzen und gegensteuern.

Mercator Forum Migration und Demokratie

Das Mercator Forum für Migration und Demokratie (MIDEM) fragt danach, wie Migration demokratische Politiken, Institutionen und Kulturen prägt und zugleich von ihnen geprägt wird. Untersucht werden Formen, Instrumente und Prozesse politischer Verarbeitung von Migration in demokratischen Gesellschaften.

https://forum-midem.de/


 

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