„Als Gesellschaft viel geschafft“

„Als Gesellschaft viel geschafft“
Autor: Matthias Klein 31.08.2020

Die Formulierung von Angela Merkel ging um die Welt: „Wir schaffen das“, sagte die Bundeskanzlerin heute vor fünf Jahren. Zunächst habe die mutige Ansage Zuversicht vermittelt, sagt Hans Vorländer, Direktor des Mercator Forums Migration und Demokratie (MIDEM), im Interview. Die Formulierung habe aber auch zur Polarisierung beigetragen.

Herr Vorländer, Angela Merkel sagte vor fünf Jahren den Satz „Wir schaffen das“. Damals kamen besonders viele Geflüchtete nach Deutschland. Ist das aus Ihrer Sicht einer der historischen Sätze in der Geschichte der Bundesrepublik?

Hans Vorländer: Ganz ohne Frage, er wird in die Geschichtsbücher eingehen. Es war damals eine mutige Ansage. Eine, die die Pragmatik des Handelns befeuerte und die die großen Belastungen, die Zuwanderung auch bedeutet, mit Zuversicht versehen hat. Und es kommt ein Aspekt hinzu: Es ist ein Satz, der in der Folgezeit besonders umstritten war. Er hat schließlich zur Polarisierung des Diskurses beigetragen.

Warum hat ausgerechnet dieser Satz eine solche Bedeutung bekommen?

Vorländer: Der Satz reflektierte die damalige Willkommenskultur. Er stand für Mut und Zuversicht mit Blick auf die Aufnahme der Geflüchteten. Dieser Satz war nicht nur für Deutschland, sondern auch international ein Zeichen, dass Deutschland bereit ist, Geflüchtete aufzunehmen. Die Aufnahme und die Tatkraft der Unterstützung haben Deutschland international großes Ansehen gebracht. Das ist bis heute so: Wenn man im Ausland ist, wird das als entscheidender Punkt gesehen. Dieser Satz definiert ein positives Bild von Angela Merkel und der Bundesrepublik.

Portrait von Hans Vorländer
© André Wirsig

Prof. Dr. Hans Vorländer
Prof. Dr. Hans Vorländer ist Direktor des Mercator Forums für Migration und Demokratie (MIDEM). Er ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden.

Sie haben die Polarisierung angesprochen. Im Sommer und Herbst 2015 eskalierten Proteste, es kam zu Anschlägen. Was bedeutete das für die Rechtspopulisten?

Vorländer: Zunächst war die Willkommenskultur vorherrschend. Und das spiegelte sich auch in den wichtigen Medien wider. Ängste, Befürchtungen, auch Ressentiments wurden nicht abgebildet. Diejenigen, die so dachten, fühlten sich im öffentlichen Bild, in der Politik, in den Medien nicht repräsentiert. Das hat zu einem Aggressionsstau geführt. Hier setzten rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte an: Sie instrumentalisierten Ängste und Befürchtungen vor ungesteuerter Zuwanderung. Gerade bei den Demonstrationen war eine zunehmende Verrohung des Diskurses zu beobachten. Von der Volksverhetzung und der Verächtlichmachung des politisch-medialen Establishments war es dann nur ein kurzer Weg zu physischer Gewalt. Durch den verrohten Diskurs waren die Grenzen nicht nur des Sagbaren, sondern auch des Handelns verschoben worden.

Die anderen Parteien hätten sensibler auf die Ängste und Befürchtungen reagieren sollen.

Was bedeutete diese Entwicklung inhaltlich für die AfD?

Vorländer: Pegida auf der Straße und die AfD in den Parlamenten bespielten die negativen Konnotationen von Migration zu dieser Zeit exklusiv. Damit konnten sie mobilisieren. Gleichzeitig gingen ganz unterschiedliche Gruppierungen gegen die Migrationspolitik auf die Straße. Es gab tatsächlich „besorgte Bürger“, die befürchteten, dass sich die Zuwanderung nicht kontrollieren ließe. Den Steuerungsverlust der staatlichen Organe befürchteten viele in der Bevölkerung, das zeigten die Umfragen damals.

Sie sagen, Teile der Bevölkerung fühlten sich damals nicht repräsentiert. Wie hätten die anderen Parteien agieren müssen, um eine solche Entwicklung zu verhindern?

Vorländer: Das ist eine schwierige Frage. Was man sicherlich sagen kann: Man hätte die unterschiedlichen Sichtweisen stärker thematisieren können. Die Medien hätten sich früher für die streitigen Diskurse öffnen müssen. Das war erst später der Fall, es kamen dann auch andere Stimmen stärker zu Wort. Ein zweiter Aspekt ist wichtig. Man hätte früher von der Moralisierung der unterschiedlichen Positionen Abstand nehmen sollen. Die Etikettierung der Protestierenden als „Pack“ oder als „Faschisten“ hat wesentlich zur Verstärkung der Proteste beigetragen, weil sich diejenigen nicht ernst genommen fühlten. Ich habe das hier in Sachsen beobachtet, andernorts war es genauso. Insofern hätten die anderen Parteien sensibler auf die Ängste und Befürchtungen reagieren sollen, ohne die klaren Grenzen zu rechtsextremen Positionen und Gewalt zu verkennen.

Lassen Sie uns zum Schluss noch einmal auf den Satz „Wir schaffen das“ zurückkommen. Wie sehen Sie das, haben wir es als Gesellschaft – Stand heute – geschafft?

Vorländer: Integration ist eine Daueraufgabe. Man kann nie sagen, dass man das jetzt geschafft hat. Ich glaube, wir sind sehr gut mit der Aufgabe umgegangen, wir haben eine ganze Menge geschafft. Die Länder und die Kommunen haben sehr pragmatisch agiert. Sie haben zusammen mit der Zivilgesellschaft sehr viel geschafft, gerade wenn man die großen Bereiche Wohnen, Ausbildung und Beruf anschaut. Viele der Menschen, die damals nach Deutschland kamen, sind inzwischen in Ausbildung oder haben einen sozialversicherungspflichtigen Job. Nichts ist so gut, dass es nicht noch besser werden könnte. Die Bilanz fällt positiv, wenngleich nicht perfekt aus.

Mercator Forum Migration und Demokratie

Das Mercator Forum für Migration und Demokratie (MIDEM) fragt danach, wie Migration demokratische Politiken, Institutionen und Kulturen prägt und zugleich von ihnen geprägt wird. Untersucht werden Formen, Instrumente und Prozesse politischer Verarbeitung von Migration in demokratischen Gesellschaften.

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