Wer wir sind und wohin wir gehören

Dilşad Budak-Sarıoğlu und Ilgıt Uçum
Wer wir sind und wohin wir gehören
Autorin: Sophie Greve 09.07.2020
Während der Performance „Türkland“ wechseln Dilşad Budak-Sarıoğlu und Ilgit Ucum fließend zwischen Deutsch und Türkisch. Gemeinsam und miteinander ringen sie um Identität und Zugehörigkeit, Fragen, die Budak-Sarıoğlu in ihrem gleichnamigen Roman verarbeitet hat. Im Interview beschreibt sie, wie ihre eigenen Erfahrungen eingeflossen sind. Am kommenden Donnerstag ist sie bei unserem Mercator Salon zu Gast.

Frau Budak-Sarıoğlu, Sie sind in der Türkei geboren, in Deutschland aufgewachsen und entschieden sich im Erwachsenenalter in die Türkei zu ziehen, warum?

Dilşad Budak-Sarıoğlu: Ich war damals schwer krank, hatte mich total verrannt und wusste nicht, wohin mit mir und meinem Leben. Mitten in diesem Chaos lernte ich meinen Mann kennen. Er lebte in Istanbul und wollte, dass ich gleich zu ihm ziehe. Ich hatte schon immer vor, eines Tages dort zu leben. Istanbul war die Sehnsuchtsstadt meiner Familie, die Heimat, die wir unfreiwillig verlassen hatten und in die meine Eltern 12 Jahre lang, aus dem Exil heraus, alle Hoffnungen hineinprojiziert hatten – und enttäuscht wurden. Bevor ich in die Türkei zog, wollte ich allerdings zuerst mein Chaos aufräumen. Was ich trotz intensiver Auseinandersetzung mit mir selbst nicht schaffte. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, doch es ging noch weiter bergab. Ich wurde immer kränker, orientierungsloser, und nach zwei Jahren Fernbeziehung sagte ich zu meinem Freund: Irgendetwas funktioniert hier nicht mehr, und wenn ich jemals wieder mein Leben zurückgewinnen will, muss ich hier raus. Unterbewusst spürte ich, dass ich einige Antworten auf die Fragen in meinem Kopf nicht in Deutschland finden würde, weil ich als Kind einen Teil meiner Seele bei unserer Flucht in der Türkei zurückgelassen hatte. Also entschied ich mich dorthin zu ziehen.

Die Juristin, Schauspielerin und Autorin Dilşad Budak-Sarıoğlu sitzt auf einem Strand. Im Hintergrund sind das Meer und ein paar Hügel zu sehen.
© Dilşad Budak-Sarıoğlu

Die Juristin, Schauspielerin und Autorin Dilşad Budak-Sarıoğlu ist in Istanbul geboren und in Deutschland aufgewachsen. Als Erwachsene zieht  sie wieder in die Türkei. Sie widmet sich in ihrer Leseperformance „Türkland“ – eine Produktion der Kulturplattform Maviblau – den Themen Migration, Identität und deutsch-türkische Beziehungen.

Auf einmal wurde ich von einer Wut gegenüber der türkischen und der deutschen Gesellschaft überrollt.

Dilşad Budak-Sarıoğlu und Ilgıt Uçum
Dilşad Budak-Sarıoğlu und Ilgıt Uçum © Dilşad Budak-Sarıoğlu

Wie haben Ihre eigenen Erfahrungen Sie dazu motiviert, sich in Ihrem Werk „Türkland“ mit Identitäts- und Zugehörigkeitsfragen von Migrant*innen auseinanderzusetzen?

Budak-Sarıoğlu: Obwohl ich dieselben Wurzeln habe und mich teilweise sehr willkommen fühlte, hatte ich Schwierigkeiten im Umgang mit den Türkei-Türk*innen. Sie waren in vielen Punkten so anders als ich. Und sie kannten uns Deutschtürk*innen nicht wirklich, hatten nur Klischees und Vorurteile über uns im Kopf.

Darüber war ich mir zwar bereits vor meinem Umzug in die Türkei bewusst, doch ich hatte nicht erwartet, dass mir das so viel ausmachen würde. Auf einmal wurde ich von einer Wut gegenüber der türkischen und der deutschen Gesellschaft überrollt, die mich richtig erschrak und auch lähmte. Wo kam sie her?

Ich hatte das Gefühl, dass in den Debatten zu dem Thema, von denen wir in Deutschland überhäuft wurden, und die in der Türkei gar nicht erst stattfanden, immer etwas fehlte. Da war noch eine Ebene, über die wir nicht sprachen, weil wir sie oft nicht einmal vor uns selbst aussprachen. Diese innere Stimme, die pausenlos auf uns einredet, während wir über völlig andere Dinge quatschend durchs Leben ziehen. Sie erzählte mir z.B., dass wir nicht weiterkommen, wenn wir die Antworten auf Fragen, wie wer wir sind und wohin wir gehören, im Außen suchen.

Wir meiden jedoch oft den schmerzhaften Prozess der Selbsterkenntnis und klammern uns stattdessen an Feindbildern und Schuldzuweisungen fest. Wir denken: Da drüben stehen die Rassist*innen, die Sexist*innen, die Gewalttäter*innen, alle Bösen also, und hier stehe ich. Dabei stehen die meisten von uns verängstigt und verloren in der Welt herum, immer nach Zugehörigkeit und Anerkennung suchend, immer aus der Angst und dem Reflex heraus handelnd.

Ich verspürte immer mehr das Bedürfnis, Menschen auf der Ebene hinter diesen Reflexen begegnen. Aber wenn ich andere dazu auffordern wollte, mir ihre Herzen zu öffnen, dann musste ich dies zuerst tun und wirklich alle vollkommen in mich hineinblicken lassen. Deshalb habe ich Türkland geschrieben.

Darin tauchen Begriffe wie „Deutschtürk*innen“ und „Almancı“ auf. Wie empfinden Sie diese?

Budak-Sarıoğlu: Das ist ein wichtiges Thema. Seit den BLM-Protesten ist seine Bedeutung noch deutlicher geworden. Ausländer*in, Migrant*in, Deutschtürk*in – Jahrelang wurden wir von einer Schublade in die nächste gesteckt.

Jetzt haben wir uns so weit emanzipiert, dass wir uns wehren, wenn uns bestimmte Zuschreibungen von außen missfallen.

 

Dilşad Budak-Sarıoğlu und Ilgıt Uçum
Dilşad Budak-Sarıoğlu und Ilgıt Uçum © Dilşad Budak-Sarıoğlu

Insbesondere bei solchen traumatisch besetzten Begriffen wie dem N-Wort ist es doch erschütternd, dass sie sich so lange durchsetzen konnten.

Mich persönlich amüsiert mittlerweile dieses verkrampfte und vergebliche Abmühen mit den Begriffen, weil ich versuche, mich nicht mehr über die Worte und Urteile anderer zu definieren. Allerdings weiß ich, dass ich anderen Menschen, die nicht so fühlen, weiterhin mit dem nötigen Verständnis und Respekt begegnen muss. Von daher versuche ich mich in puncto politisch korrekte Sprache auf dem Laufenden zu halten.

Sie sind nicht beim Text geblieben, sondern haben daraus eine Performance entwickelt, in der sie u.a. zwischen der deutschen und türkischen Sprache wechseln. Wie ist das entstanden?

Budak-Sarıoğlu: Bei der Recherche zu einem Artikel über die freie Theaterszene in Istanbul, den ich für Maviblau, ein Online Magazin und Kulturplattform, schrieb, lernte ich die junge Regisseurin und Autorin Irem Aydin kennen. Irem war sehr an meinem Roman interessiert und meinte sofort, wir sollten daraus ein Theaterstück machen. Im Rahmen eines Festivals des freien Theaters Entropi Sahne, an dem sie die Assistenz der künstlerischen Direktion war, wollten wir ursprünglich nur ein Mal Auszüge aus dem Roman vorlesen, bevor wir dann den Text in ein Stück umschreiben würden. Doch allein für diese Lesung hatten wir gleich sehr viele Ideen. Die Schauspielerin Ilgit Ucum kam dazu, um mit mir gemeinsam zu lesen. Wir bauten Gesang und Tanz ein und ließen im Hintergrund historisches Videomaterial laufen.

Die Leseperformance ist in der Türkei ein unbekanntes Genre, weshalb wir ohne irgendwelche Erwartungen und aus reiner Leidenschaft so viel Arbeit für nur eine Aufführung hineinsteckten. Doch sie kam so gut an, dass wir beschlossen, genau dieses Konzept beizubehalten. Gemeinsam mit Marie Hartlieb, der Initiatorin von Maviblau, beschlossen wir dann, eine Kooperation einzugehen und Türkland auch nach Deutschland zu holen. Das ist jetzt drei Jahre her. Seitdem touren wir durch beide Länder.

 

Mercator Salon

In Mercator Salons tauschen wir uns zu Ideen- und Meinungen über aktuelle Themen aus Gesellschaft und Kultur aus. Unsere Gäste und ihre persönlichen Erfahrungen stehen dabei im Mittelpunkt. Komplexe Themen betrachten wir so aus individuellen Blickwinkeln und laden zum informellen Austausch mit Persönlichkeiten der Zeitgeschichte ein.

 

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