Informationen ohne Hierarchie

Informationen ohne Hierarchie
Autor: Matthias Klein 02.09.2021

Wie verändert die Digitalisierung den Umgang mit Nachrichten? „Teilhabe an unmittelbarer Information war in der Menschheitsgeschichte vermutlich noch nie so einfach und günstig“, sagt Mercator Science-Policy Fellow Felix Haas im Interview. Der Leiter der stern-Digitalredaktion sieht darin eine Chance – aber auch eine Gefahr.

Als die Kanzlerin mit den Ministerpräsident*innen über Corona-Maßnahmen beriet, drang schon während der Verhandlungen viel an die Öffentlichkeit. Wie verändert sich durch eine solche permanente Live-Berichterstattung Ihre Arbeit, Herr Haas?

Felix Haas: Im Digitalen sind wir es seit Jahren gewohnt, live zu berichten. Sei es via Liveblog, Livestream oder Newsticker. Die Anschläge in Paris oder Halle, Bundestagswahlen, die US-Wahl oder die Pressekonferenzen zu den Corona-Maßnahmen: Bei nahezu jedem Großereignis wollen wir unsere User*innen digital live informieren. Grundsätzlich gilt beim stern das Credo: Be first, but be right. Je höher das Tempo in der Liveberichterstattung, desto wichtiger, dass jede Kollegin und jeder Kollege noch mehr verinnerlicht hat, dass wir die Informationen doppelt gegenchecken. Das gilt natürlich auch, wenn während Verhandlungen wie von Ihnen angesprochen Informationen durchsickern.

In klassischen Medien setzen Journalist*innen Schwerpunkte, in den sozialen Medien steuern Algorithmen die Rangfolge der Beiträge. Was bedeutet das für die journalistische Gewichtung von Themen?

Haas: Die großen Plattformanbieter wünschen sich Verlage als Partner für Inhalte. Aktuell sehen wir, dass sowohl Google als auch Apple oder Facebook News in Zukunft weniger algorithmusbasiert arbeiten als noch vor einigen Jahren. Es gibt hier erste Angebote, bei denen Verlage ihre Flächen selbstständig bespielen können. Das geschieht, weil Journalist*innen seit Jahren im Dialog mit den Plattformen sind. Dennoch wird ein Algorithmus bei den Plattformen ein zentrales Element bleiben.

Und klar: Wir schauen auf die Google-Trends, wir schauen, welche Themen in den sozialen Netzwerken diskutiert werden. Wichtig für uns ist dann: Wir entscheiden als Redaktion, welches Thema wir angehen, recherchieren selbst und schreiben es selbst auf. Und wenn es dann in unserem Sinne publiziert ist, dann übergeben wir es den Algorithmen. Ab dann ist für uns keine Gewichtung mehr möglich.

Gerade in den sozialen Medien sind Fake News ein großes Thema. Wie muss der Journalismus darauf reagieren?

Haas: Der stern hat seit 3,5 Jahren ein eigenes Verifizierungsteam. Die Kolleginnen und Kollegen kümmern sich darum, vor der Berichterstattung Bilder und Quellen aus den sozialen Medien zu überprüfen. Wir arbeiten in dem Team mit anderen Marken der Bertelsmann Content Alliance zusammen, das sind insgesamt rund 150 geschulte Mitarbeiter*innen. Egal ob bei RTL, NTV oder beim stern: Wir alle haben ein Interesse daran, richtig zu berichten. Es sind wenige echte Fakes unterwegs, aber sehr viele aus dem Kontext gerissene Inhalte: Bilder und Videos vor allem. Dadurch entstehen verzerrte Narrative. Unsere Aufgabe im Journalismus ist es, solche Entwicklungen offenzulegen und transparent mit Informationen umzugehen.

Welche neuen Kompetenzen brauchen Journalist*innen?

Haas: Neben dem klassischen Handwerk wie Recherche, Fakten checken und die Erzählformen beherrschen gehören heute eine ganze Bandbreite an Tools in das Repertoire von Digitalredakteur*innen. Bilder-Rückwärtssuche, Grundlagen in Open-Source-Recherche, Upload-Check, aber auch Analyse-Tools zum eigenen Artikel – all das muss man bedienen und auswerten können.

Paparazzi photographers in action
© Getty Images

Wenn Sie auf die Meinungsbildung insgesamt schauen: Welche Chancen sehen Sie durch die Digitalisierung – und wo sind Gefahren?

Haas: Die Digitalisierung bietet in der Enthierarchisierung von Information nach wie vor eine große Chance. Teilhabe an unmittelbarer Information war in der Menschheitsgeschichte vermutlich noch nie so einfach und günstig. Und das schafft Chancen zur Meinungsbildung auf der einen Seite. Auf der anderen Seite steckte in der Hierarchie der vor-digitalen Medienstrukturen aber auch eine Kontrollinstanz; nahezu jedes Medium hat für sich Qualitätsstandards definiert, sehr viele verstehen den Pressekodex als Leitlinie.

Durch Enthierarchisierung geht diese Kontrollinstanz verloren. Und so landen dann eben zum Beispiel Fotos im Netz, die vermeintlich eine Nachricht belegen sollen, aber aus dem Kontext herausgerissen wurden. Diese vermeintliche Wahrheit wird dann zahlreich geteilt und gibt der Falschmeldung Auftrieb, ohne dass das jemand gegengecheckt. An der Stelle wollen wir mit dem Verifizierungsteam ansetzen und erklären und aufdecken. In Zukunft wird es aber auch bessere (Medien-) Bildung brauchen. Ansonsten vollzieht sich Meinungsbildung zu häufig auf Grundlage von falschen Kontexten – und das wäre für Demokratie und Gesellschaft sehr gefährlich

Mercator Science-Policy Fellowship-Programm

Das von der Allianz der Rhein-Main-Universitäten angebotene Fortbildungs­programm ermöglicht den persönlichen Austausch zwischen Führungs­kräften aus Wissenschaft, Politik, öffentlichem Sektor, Medien und Zivil­gesellschaft. Fellows durchlaufen dabei ein Gesprächs­programm, das von ihren Interessen und Fragen ausgeht.

https://www.uni-frankfurt.de/61510805/Das_Mercator_Science_Policy_Fellowship_Programm

Mercator Science-Policy Fellowship