Der Pro-bono-Kampf für die Rechts­staatlichkeit in der EU

Laurent Pech
Der Pro-bono-Kampf für die Rechts­staatlichkeit in der EU
Autor: Marcel Grzanna Fotos: Julien Behal 29.08.2023

Der Franzose Laurent Pech sorgt sich um die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union. Mit der juristischen Beratungs­organisation „The Good Lobby Profs“ zieht er in den Kampf gegen Verfassungs­brüche in Brüssel. Tatsächlich sieht er unsere Demokratie in Gefahr.

Laurent Pech arbeitet akribisch an seinem bislang größten Coup. Der Dekan der UCD Sutherland School of Law in Dublin könnte eine Schock­welle in der Europäischen Union auslösen. Sollte es ihm und seinen Mit­streiter*innen von der juristischen Beratungs­organisation „The Good Lobby Profs“ mit Sitz in Brüssel gelingen, den Europäischen Gerichts­hof (EuGH) von ihrer Rechts­auf­fassung zu überzeugen, könnten politische Mauscheleien in Brüssels höchsten EU-Organen künftig leichter entlarvt und bestraft werden.

„Es geht um die Unabhängigkeit unserer Gerichte und damit um den Erhalt der Demokratie in Europa“, sagt Pech, 49, dunkle Brille, gerten­schlank, grau meliert. Die Good Lobby Profs sind seine Antwort auf autokratische Entwicklungen in EU-Staaten wie Polen oder Ungarn, wo die Rechts­staatlichkeit immer mehr unter Druck gerät – während in Brüssel aus politischem Kalkül ein Auge zugedrückt wird. Die Profs veröffentlichen Rechts­gutachten, um Verfassungs­brüche nach­zu­zeichnen, und schlagen über soziale Medien oder Blogs Alarm.

Seit Oktober 2022 forscht und lehrt Laurent Pech am University College Dublin (UCD).
Seit Oktober 2022 forscht und lehrt Laurent Pech am University College Dublin (UCD). © Julien Behal

Besonders verknüpft sind sie mit dem Democracy Institute (DI) der Central European University (CEU) in Budapest und deren neuer Rule of Law Clinic. Mit ihrem Sitz in Budapest habe die Clinic eine symbolische Bedeutung, „weil sie von einer Universität aus operiert, die fast vollständig aus einem Land vertrieben wurde, das zum ersten autokratischen Mitglied­staat der EU geworden ist – Ungarn“, erläutert Pech.

Praktisch sollen von dort aus strategische Maßnahmen ergriffen und gegebenen­falls gerichtliche Schritte eingeleitet werden, um gegen die Verschlechterung der Rechts­staatlichkeit im europäischen Rechts­raum vor­zu­gehen. Richter*innen, Staats­anwältinnen und -anwälte, Rechts­anwältinnen und -anwälte sowie Gruppen der Zivil­gesellschaft sollen in die Lage versetzt werden, sich besser zu verteidigen.

Im Videogespräch mit AufRuhr erklärt Pech, er setze seine Hoffnungen darauf, einen Präzedenz­fall beim EuGH zu schaffen. Ein solcher Präzedenz­fall würde es privaten Organisationen oder Verbänden in Zukunft ermöglichen, Klagen im öffentlichen Interesse gegen die EU-Kommission und den Rat der Europäischen Union einzureichen.

Hilfe für bedrohte polnische Richter*innen

Konkret geht es Pech um die Billigung eines Konjunkturprogramms durch die EU-Kommission in Höhe von 35 Milliarden Euro für die polnische Regierung im vergangenen Jahr. Das Geld ist noch nicht geflossen, weil die Auszahlung mit einer Klage­welle verhindert worden ist. Die Gruppe um Pech sieht klare Rechts­verstöße bei der Entscheidungs­findung, die Polens Regierung den Zugang zu dem Geld verschaffen soll. Entgegen der gesetzlichen Voraussetzung für eine Auszahlung seien die Richter*innen in Polen alles andere als unabhängig, argumentieren die Kläger*innen.

Pech und die Good Lobby Profs haben sich gut formiert. Die Rechts­expert*innen haben vier internationale Richter*innen­verbände mobilisiert, die vier Klagen gegen die Kommission und vier gegen den Rat beim EuGH eingereicht haben. Der Haken dabei: Bislang konnten nur natürliche Personen, die direkt betroffen waren, gegen Entscheidungen der Kommission klagen. Doch betroffene polnische Richter*innen, die reklamieren, verfassungs­widrig aus ihrem Amt befördert worden zu sein, wagen sich nicht aus der Deckung. Pech sagt, sie und ihre Familien würden zum Teil bedroht – manche mit dem Tode.

Kunst auf dem Campus. Die Arbeit mit dem Titel „Portal“ ist von der irischen Bildhauerin Catherine Greene.
Kunst auf dem Campus. Die Arbeit mit dem Titel „Portal“ ist von der irischen Bildhauerin Catherine Greene. © Julien Behal
© Julien Behal
Über dem Uni-Gelände verteilt sind mehrere Kunstwerke aufgestellt – der UCD-Kunst-Pfad.
Über das Uni-Gelände verteilt sind mehrere Kunstwerke aufgestellt – der UCD-Kunst-Pfad. © Julien Behal

Die Demokratie der EU steht auf dem Spiel

Deswegen erheben die Good Lobby Profs den Fall zu einer Angelegenheit, die jede*n Europäer*in persönlich angeht, weil es um den Erhalt unserer Demokratie gehe. Somit wären wir als Mitglieder der europäischen Gesellschaft alle direkt involviert. Die große Frage: Wird der EuGH dieser Argumentation folgen und öffentliches Interesse künftig als persönliches Betroffen­sein anerkennen? „Wir fordern den Gerichtshof auf, Verfassungs­geschichte zu schreiben, indem er uns die Klage­befugnis zuspricht. Es wäre ein essenzieller Kurs­wechsel seit den 1960er-Jahren“, sagt Pech.

Nach rund einem Jahr, in dem die Klage jetzt anhängig ist, befindet sich der EuGH in einem konstanten Austausch mit den Kläger*innen. Das seien gute Nachrichten, so Pech. Das Gericht hätte die Klage schon im vergangenen Jahr ohne Weiteres ablehnen können. Statt­dessen fordert es weitere Beweise, weil es die Klage­befugnis ernsthaft in Betracht ziehe. Pech ist sicher: „In der Kommission und im Rat geht jetzt ziemliche Panik um.“

3.000 E-Mails pro bono

Als vor einem Jahr die Nachricht die Runde machte, dass Rat und Kommission die Freigabe der 35 Milliarden verabschiedet hatten, platzte Pech der Kragen. „Das kann so nicht weitergehen“, schrieb er engen Vertrauten von The Good Lobby Profs – die juristische Beratungs­organisation hatte er zwei Jahre zuvor gegründet. Schnell waren sich die Expert*innen einig, dass es Zeit war, zu handeln. Die Good Lobby Profs trommelten rund 20 Professor*innen, Richter*innen und Anwält*innen zusammen, die jetzt pro bono viel Arbeit investieren, um die Rechts­staatlichkeit in der EU zu verteidigen. Pech schätzt, dass zwischen der Verabschiedung des Konjunktur­programms und dem Ende der zweimonatigen Einspruchs­frist im vergangenen Sommer rund 3.000 E-Mails in der Gruppe formuliert und versendet wurden, um die bestmögliche Strategie abzusprechen und alle formellen Voraus­setzungen zu erfüllen.

Alle sind überzeugt, das Richtige zu tun. „Unsere Mitstreiter*innen in diesem Verfahren haben es so satt, von der EU an der Nase herum­geführt zu werden“, sagt Pech. Seinen Student*innen würde er immer einbläuen, dass sie es sind, die die Rechts­staatlichkeit in der Welt gegen politische Interessen verteidigen müssen. „Was wäre ich für ein Vorbild, würde ich jetzt nicht handeln? Wenn die deutsche oder die französische Regierung die Unabhängigkeit der Justiz in der EU nicht verteidigen, muss ich es tun“, betont Pech.

Behält den Überblick und kämpft für die Rechtsstaatlichkeit: Laurent Pech.
Behält den Überblick und kämpft für die Rechtsstaatlichkeit: Laurent Pech. © Julien Behal

Eine Verfassung für Bosnien-Herzegowina

Seine Überzeugungen gründen auf jahr­zehnte­langen Erfahrungen. In den 1990er-Jahren hatte Pech das Glück, als junger Akademiker die Verfassung eines neuen Staates mitzugestalten. Ein Professor an der Universität Aix-Marseille hatte ihn als juristische Hilfskraft für ein kleines Team empfohlen, das dem unabhängigen Bosnien-Herzegowina eine Verfassung schneidern sollte.

Damals verinnerlichte er die Bedeutung einer Verfassung und die Verantwortung der Justiz, sie gegen alle Interessen verteidigen zu müssen.

Das Kind, das „Le Monde“ liest

Diese Leidenschaft war ihm keineswegs in die Wiege gelegt worden. Seine Eltern hatten als Banker*innen in ihrem Heimatort nahe Perpignan gearbeitet. Vom Recht war daheim nie die Rede. Der Vater nahm seinen Junior regel­mäßig mit in sein Stammcafé. Um sich dort die Langeweile unter all den alten Männern zu vertreiben, schnappte sich der kleine Laurent immer wieder die Tages­zeitung „Le Monde“. Bald war er im ganzen Ort bekannt als das Kind, das „Le Monde“ liest. Dadurch entwickelte er früh ein Bewusst­sein für Probleme und Konflikte in der Welt.

„Judgement“ übersetzt auf Deutsch: „Beurteilung“ ist der Titel der Skulptur des irischen Bildhauers Rowan Gillespie. Auf dem Weg in den Hörsaal geht Laurent Pech an ihr vorbei.
„Judgement“ übersetzt auf Deutsch: „Beurteilung“ ist der Titel der Skulptur des irischen Bildhauers Rowan Gillespie. Auf dem Weg in den Hörsaal geht Laurent Pech an ihr vorbei. © Julien Behal

Der erste Akademiker der Familie

Jahre später hatte sich Pech als erstes Familienmitglied an einer Universität eingeschrieben und landete nach einer Zeit der Orientierung eher unbedarft in einer Juravorlesung. „Der Professor hat uns sehr lebhaft geschildert, welche befriedende Kraft das Verfassungsrecht hat und wie es soziale Konflikte lösen kann.“ Die Lebens­nähe faszinierte den jungen Studenten. Das Fach lieferte Lösungen für die Probleme, über die Pech als Kind in der Zeitung gelesen hatte. Pech studierte an der Universität Aix-Marseille und im irischen Limerick und kombinierte die Rechts- mit den Politik­wissen­schaften. Nach seinem Abschluss zog es ihn für ein Jahr an die University of Wisconsin-Madison. Später folgte die Promotion in Frankreich. Er arbeitete in Montreal und in New York, leitete zehn Jahre die Jurafakultät der Middlesex University London, engagierte sich in Nicht­regierungs­organisationen für Menschen­rechte und gehörte zur Redaktions­leitung des „Hague Journal on the Rule of Law“. Seit Oktober 2022 forscht und lehrt er am University College Dublin.

Am Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte war Pech kürzlich Beisitzer im Fall des suspendierten polnischen Richters Igor Tuleya, der zu den öffentlichen Kritiker*innen der polnischen Rechts­reform zählt. Das Gericht sprach die Disziplinar­kammer des Obersten Gerichts­hofs in Polen schuldig, gegen die Europäische Menschen­rechts­konvention verstoßen zu haben. Ein weiterer Etappen­sieg für die Gerechtigkeit, sagt Pech.

Ebenso wie eine Entscheidung des EuGH aus dem Juli: EU-Institutionen dürfen künftig nicht mehr argumentieren, Rechts­gutachten seien grundsätzlich vertraulich, weil sie sich auf politisch kontroverse oder aus ihrer Sicht besonders heikle Angelegenheiten beziehen. Pech hatte auf Einsicht in ein Gutachten geklagt und damit gegen die Position von 26 EU-Staaten – außer Schweden – Recht bekommen.

Der wichtigste Sieg soll jetzt bald folgen. Um ihre acht Klagen zu stützen, haben sich die Richter*innen­verbände und die Good Lobby Profs von der Klimabewegung inspirieren lassen. Sie argumentieren, dass die Rechts­staatlichkeit einem Ökosystem gleiche, in dem Veränderungen unmittelbare Konsequenzen für jedes Individuum haben. Jeder Mensch sei demnach persönlich betroffen, was die Klage­befugnis vor dem EuGH rechtfertigen würde. „Die Richter*innen bewachen dieses Ökosystem. Wer diese entfernt, zerstört das Ökosystem. Und dann ist auch unsere Demokratie verloren“, sagt Laurent Pech.


Central European University Democracy Institute Rule of Law Clinic

Das Democracy Institute (DI) der Central European University (CEU) etabliert in Zusammenarbeit mit der Beratungs­organisation „The Good Lobby Profs“ eine Rule of Law Clinic. Diese soll durch konkrete Prozess­interventionen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR) Öffentlichkeit für prinzipielle rechts­staatliche Implikationen einzelner Verfahren schaffen. Das Ziel ist es, Personen, die sich in Wissenschaft und Praxis für die Rechts­staatlichkeit einsetzen, zu vernetzen und zu stärken sowie Entscheidungs­träger*innen zu informieren und einen wesentlichen Beitrag zum Rechts­staatlichkeits­diskurs zu leisten.

https://democracyinstitute.ceu.edu/research/rule-law