Grenzen des Verfassungs­rechts

Bundesverfassungsgericht
Grenzen des Verfassungs­rechts
Autor: Christoph Möllers 07.04.2020

Die Coronakrise sei ein unfreiwilliges institutionelles Experiment, schreibt Rechtswissenschaftler Christoph Möllers in einem Gastbeitrag. Es sei irritierend, dass die Beteiligten ohne Not die Grenzen des Verfassungsrechts ausschöpften, wenn nicht überschritten.

Die im Kampf gegen das Coronavirus eingeleiteten Maßnahmen sind politisch wenig umstritten und erscheinen nicht nur auf den ersten Blick geboten, um die Ausbreitung der Pandemie zu begrenzen und viele Menschenleben zu retten. Aus Sicht von Verfassungsrecht und politischer Theorie handelt es sich dennoch um ein großes unfreiwilliges institutionelles Experiment, das uns Anlass gibt, darüber nachzudenken, wie liberale Ordnungen mit einer Situation umgehen, in der sie sich selbst in kollektive Unfreiheit begeben. Auf der formalen verfassungsrechtlichen Ebene stellen sich dazu in Deutschland viele Frage, drei seien hier kurz hervorgehoben.

Keine Beschränkungen festgelegt

Zum Ersten mag man sich wundern, ob es überhaupt eine ausreichende gesetzliche Grundlage für diesen wohl größten Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik gibt, durch den zentrale Garantien wie die Versammlungsfreiheit, die Religionsfreiheit, aber auch viele Inhalte des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts fast vollständig suspendiert wurden. Bemerkenswerterweise wurden die Regelungen für Ausgangssperren und Kontaktverbote unter vielen anderen Ergänzungen des Infektionsschutzgesetzes (ISG), die der Bundestag zuletzt beschloss, nicht geändert. So scheint der Gesetzgeber tatsächlich davon auszugehen, dass man das ganze Land mit dem geltenden Recht unter Hausarrest stellen kann, obwohl das Gesetz einen solchen Eingriff nicht ausdrücklich vorsieht und deswegen auch keine der Beschränkungen, etwa Befristungen oder besondere Verfahren der periodischen Überprüfung, kennt, die sonst mit Grundrechtseingriffen dieses Kalibers verbunden werden – und aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auch verbunden werden müssen.

Sicher ist dagegen, dass an Maßnahmen eines solchen Ausmaßes beim Erlass des Gesetzes niemand gedacht hatte. Eine Änderung hätte aus diesem Grund mehr als bloß klarstellenden Charakter gehabt. Sie hätte den Maßnahmen eine Grundlage gegeben und ihren ungewöhnlichen Charakter formell zum Ausdruck gebracht.

Breite Verordnungsgewalt

Statt einer Klarstellung ermächtigte der Gesetzgeber, zum Zweiten, den Bundesgesundheitsminister für den durch das Parlament festgestellten Fall einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ mit einer breiten Verordnungsgewalt, die es ihm ermöglicht, das Gesetz in vielen Teilen zu ändern und auch selbst zu vollziehen. Diese Vollmachten dürften, dies hat unterdessen auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages angemerkt, in mehrerer Hinsicht das verfassungsrechtlich bisher Zulässige überschreiten.

Verordnungen von Regierung und Ministerium können normalerweise nur Gesetze konkretisieren, dagegen nur in kleinstem Rahmen von diesen Gesetzen auch abweichen; andernfalls würde der Vorrang des Gesetzes vor der Verordnung durch den Gesetzgeber selbst ausgehöhlt. Dem entsprechen die sehr breiten Befugnissen zur Gesetzesderogation aber nicht, die sich nunmehr im Fall eines epidemischen Notstands im Gesetz finden.

Auch im Bundestag gelten Abstandsregeln. © Getty Images

Gerade Zeiten großer, aber gesellschaftlich akzeptierter Freiheitseinbußen verlangen ein großes Maß an Vertrauen aller in die staatlichen Institutionen.

Zudem vollziehen in der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes im Normalfall die Länder die Gesetze des Bundes. Dass Beamte des Bundesgesundheitsministeriums Personen, die in die Bundesrepublik einreisen wollen, an der Grenze zurückweisen können, wie es das Gesetz nunmehr vorsieht, erscheint aber nicht nur aus diesem Grund kurios. Wenn überhaupt, ist die dem Bundesinnenministerium unterstellte Bundespolizei für den allgemeinen Grenzschutz zuständig. Daneben noch eine eigene Bundesgesundheitspolizei zu schaffen, wirkt einigermaßen überflüssig und dürfte die administrativen Routinen dieses Ministeriums eher überfordern.

Schließlich sollen die breiten Ermächtigungsnormen auch allein durch das Ministerium, nicht durch die ganze Bundesregierung und auch ohne Zustimmung des Bundesrates wahrgenommen werden. Jenseits aller verfassungsrechtlichen Einwände muss man sich darüber wundern, warum in einer solchen Notlage, in der sich alle politischen und administrativen Energien auf ein bestimmtes Problem fokussieren, in der also jedwede Politik zur Gesundheitspolitik wird, die Entscheidung für weitreichende Maßnahmen bei einem einzigen Ministerium und gänzlich ohne Beteiligung der Länder ergehen sollte.

Änderung des Grundgesetzes

Zum Dritten meldete sich recht früh in der Krise der Präsident des Deutschen Bundestages mit Vorschlägen zu Wort, das Grundgesetz zu ändern und für diesen und vergleichbare Fälle einen eigenen Notausschuss einzurichten, der die Befugnisse des Bundestages übernehmen könnte. Der Vorschlag folgte erkennbar der 1968 ins Grundgesetz eingeführten Notstandsverfassung, die einen solchen Ausschuss für den Verteidigungsfall vorsieht. Doch gilt diese Notstandsverfassung nicht nur als einigermaßen missglückt; es ist auch völlig unklar, für welches Problem eine solche Institution als Lösung dienen könnte. Das Plenum des Bundestages lässt sich durch ein solches Gremium nicht ersetzen. Übrig bliebe ein kleines Gebilde, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit Entscheidungen der Regierung zur Kenntnis nehmen und durchwinken würde.

Angemessen war es dagegen, wie wohl auf Initiative der Grünen geschehen, die Geschäftsordnung des Bundestages so zu ändern, dass die Beschlussfähigkeit des Parlamentes auch dann noch gewährleistet ist, wenn viele ihrer Mitglieder nicht in der Lage sind, an den Beratungen teilzunehmen.

Verantwortung loswerden

Wie lassen sich diese Entwicklungen deuten? Auf der einen Seite erscheint es nicht gerechtfertigt, all dies als Anfang einer autoritären Wende im deutschen Verfassungsrecht zu bewerten, dafür erscheinen die Maßnahmen im Bereich der Staatsorganisation nicht dramatisch genug, während wir für die Grundrechte davon ausgehen können, dass die Eingriffe bald abgeschwächt und zurückgenommen werden.

Auf der anderen Seite bleibt es irritierend, warum die Beteiligten ohne Not die Grenzen des Verfassungsrechts ausschöpfen, wenn nicht überschreiten. Hier ist weniger böser Wille am Werk als eine gewisse Bereitschaft, namentlich von Teilen des Parlaments und der Länder, die Verantwortung für die Bewältigung einer solchen Krise loszuwerden.

Aber die institutionelle Stärke des bundesdeutschen politischen Systems scheint am ehesten in einer Vervielfältigung politischer Verantwortung zu liegen, die in der Koordination aller Entscheidungen zwischen den Regierungen von Bund und Ländern liegt. Dass am Ende nicht ein Präsident oder Regierungschef, sondern eine kooperative föderale Struktur für die Maßnahmen verantwortlich ist, könnte sich als große Stärke des deutschen Systems erweisen, das sich so als breit akzeptiert, aber auch durchsetzungsfähig zeigt. Dazu passt es aber nicht, wenn sich Parlament und Länder zurückziehen. Gerade Zeiten großer, aber gesellschaftlich akzeptierter Freiheitseinbußen verlangen zudem ein großes Maß an Vertrauen aller in die staatlichen Institutionen. Dieses ist einfacher zu erhalten, wenn die verfassungsrechtlichen Vorgaben beachtet werden.

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Democracy Reporting International und das Forum Trans­regionale Studien leiten das von der Stiftung Mercator geförderte Programm re:constitution. Es trägt dazu bei, ein Netz­werk aufzubauen, das sich mit europäischen Verfassungs­fragen, dem Spannungs­feld zwischen pluralistischen Auslegungen von Demokratie und Rechts­staatlichkeit sowie der Zusammen­arbeit inner­halb der EU befasst.
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