Kann das Virus die Demokratie infizieren?

In der Coronakrise müssen Politiker*innen weitreichende Entscheidungen treffen, die grundlegende Freiheitsrechte betreffen. Wie kann das funktionieren, wenn man sich nicht treffen soll? Für die Pandemie gibt es keine Blaupause, sagt Michael Meyer-Resende, Geschäftsführer von Democracy Reporting International.
Die Corona-Krise bringt das öffentliche Leben zum Erliegen, führt zu weltweiten wirtschaftlichen Crashs, die Zahl der Infizierten steigt rasend schnell an. Auch Politiker*innen stecken sich an – in einer Zeit, in der sie schnell reagieren müssen. Wie ist das parlamentarische Verfahren in dieser Pandemie-Zeit gesichert?
Michael Meyer-Resende: Es ist für Parlamente eine komplett neue Situation. Sie sind überhaupt nicht darauf eingestellt, sie improvisieren jetzt alle im Rahmen des rechtlich Möglichen. Eine zentrale Frage in den meisten Kammern hier in der EU ist die Beschlussfähigkeit. In den meisten Geschäftsordnungen steht, dass mehr als die Hälfte der Parlamentarier*innen anwesend sein muss, damit das Parlament beschlussfähig ist. Wenn sich immer mehr Abgeordnete anstecken, kann das zum Problem werden. Eine Lösung ist, dass man die Grenze heruntersetzt. Das hat der Bundestag gemacht. Er ist jetzt auch noch beschlussfähig, wenn mehr als ein Viertel seiner Mitglieder anwesend sind. Spanien hat eine andere Lösung: Dort können Abgeordnete aus dem Homeoffice abstimmen. Bei der letzten Abstimmung über den Ausnahmezustand haben 307 von 350 Gewählten ihre Stimme aus der Ferne abgegeben. Bei vielen Jurist*innen gibt es da Fragezeichen, zum Beispiel zum Thema Übertragungssicherheit. Viele Geschäftsordnungen und Verfassungen sehen das auch gar nicht vor. In Italien wurde keine dieser Lösungen umgesetzt, dort waren bislang immer mehr als 50 Prozent der Parlamentarier*innen anwesend. Interessant ist auch: Die Franzosen haben keine Bestimmung zur Beschlussfähigkeit – und haben sich jetzt darauf geeinigt, dass jede Fraktion nur zwei Abgeordnete in die Abstimmungen schickt, die dann für ihre Fraktionen abstimmen.
Doch es geht im Parlament ja nicht nur um Abstimmungen, sondern auch um Ausschussarbeit …
Meyer-Resende: Der Bundestag hat gerade erst entschieden, dass eine Ausschussvorsitzende oder ein Ausschussvorsitzender allen Ausschussmitgliedern erlauben kann, auf Entfernung teilzunehmen. Ein spannender Aspekt ist dabei: Auch öffentliche Anhörungen und die öffentlichen Ausschusssitzungen können mittlerweile online stattfinden. Bis vor Kurzem hätte das zu einer endlosen Debatte geführt – und jetzt geht das über Nacht.
Ist das Coronavirus somit ein Katalysator für eine transparentere Demokratie?
Meyer-Resende: Es gibt gewisse Gefahren – dass es technische Probleme gibt, ob die Abläufe regel- und prozesskonform sind … Aber ich glaube, dass wir hier eine Weiterentwicklung sehen werden. Wenn die öffentlichen Sitzungen erst mal so eingeführt und kodifiziert wurden, gibt es keinen Grund mehr, diese zurückzunehmen. Das ist interessant aus Sicht der elektronischen Teilhabe am demokratischen Prozess: Man muss nicht in Berlin in Ausschüssen sitzen, um teilzunehmen. Vielleicht ließe sich auch ein allgemeines Teilnahmerecht oder eine Übertragung der Sitzungen für Bürger*innen einrichten.

Michael Meyer-Resende
Michael Meyer-Resende ist Jurist und Geschäftsführer von Democracy Reporting International, einer überparteilichen und unabhängigen NGO in Berlin.
In Deutschland und den meisten Teilen der Welt ist das öffentliche Leben auf ein Minimum heruntergefahren. Die Versammlungsfreiheit ist de facto aufgehoben. Ist überall der Notstand ausgerufen?
Meyer-Resende: Nein. Dabei würde ich es aus völkerrechtlicher Sicht bevorzugen, wenn Länder den Notstand ausriefen. Damit deklarieren sie öffentlich: „Dies ist ein besonderer Moment. Wir sind uns bewusst, dass wir jetzt Menschenrechte massiv einschränken.“ Ich sehe es kritisch, dass die Freiheitseinschränkungen in Deutschland einfachgesetzlich durchgesetzt werden. Juristisch betrachtet wird das fast wie eine Routine behandelt. Notstandsgesetze haben ja einen schlechten Ruf, weil immer wieder Diktatoren sie missbraucht haben. Aber völkerrechtlich ist die Idee eigentlich, dass auch der Notstand rechtlich ausgestaltet und klar deklariert wird. Notstand bedeutet nicht Rechtlosigkeit. Das Völkerrecht sieht eben auch die Grenzen des Notstands vor: Er muss zeitlich begrenzt sein und darf nur so stark eingreifen, wie es notwendig ist, um die Gefahr abzuwenden. Im Übrigen sollen der demokratische Staat, das Parlament und der Rechtsstaat weiterarbeiten, soweit es möglich ist. Die Regierung muss weiter kontrolliert werden.
Können die Einschränkungen der Bürgerrechte also eine Gefahr für die Demokratie als solche sein?
Meyer-Resende: Wir sehen ja jetzt auf globaler Ebene, dass die meisten Staaten die Freizügigkeit massiv eingeschränkt haben, denn das ist die wichtigste Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie. Die ganze Welt ist im Ausnahmezustand, entweder offiziell oder de facto. Aber da gibt es Unterschiede. Zum Beispiel Ungarn: Die missbrauchen die Notstandsgesetze, um die Demokratie und den Rechtsstaat geradezu abzuschaffen. Das Parlament wurde suspendiert, die Regierung darf Gesetze einfach aussetzen und neue Gesetze per Dekret erlassen. Eine zeitliche Begrenzung gibt es nicht. So ein Notstandsgesetz ist in EU-Staaten vollkommen einmalig.
Notstand bedeutet nicht Rechtlosigkeit. Das Völkerrecht sieht eben auch die Grenzen des Notstands vor.
Ein Virus kann Demokratien stürzen?
Meyer-Resende: Nicht unbedingt. Wo es autoritäre Tendenzen gibt, werden diese verschärft. Die internationale Aufmerksamkeit ist auf Corona gelenkt, das erhöht die Versuchung, autoritäre Strukturen zu festigen. Aber es gibt auch eine andere Seite: Wie wird mit der Krise umgegangen? Die chinesische Regierung, die ja heute für ihr hartes Durchgreifen gepriesen wird, hat anfänglich versucht, alles unter den Teppich zu kehren. Dafür zahlen wir jetzt alle den Preis. Wuhan, eine Stadt mit acht Millionen Einwohner*innen, wurde über Nacht unter Quarantäne gestellt. Da stand vorher fast nichts in den staatlich kontrollierten Medien. In den westlichen Demokratien wurde die Pandemie in der freien Presse besprochen. Die Menschen hatten ein, zwei Wochen Zeit, sich an die Situation zu gewöhnen, und wurden nicht damit überrascht, dass sie kaum noch vor die Tür gehen dürfen. Das zeigt, warum Demokratien einfach besser funktionieren. Manche autoritären Regierungen werden unter großen Druck kommen, weil die Bevölkerung ihnen nicht traut.
Die Beschränkungen des öffentlichen Lebens wurden mit parteiübergreifendem Konsens von der Bundesregierung beschlossen. Fehlte eine für die Demokratie wichtige Debatte?
Meyer-Resende: Es gab eine Einheitlichkeit bei den Parteien, weil hier die Sachlage auch ziemlich klar war. Alternativlos war sie allerdings nicht. Die Niederlande und Schweden zum Beispiel haben weitaus weniger Restriktionen, aber keiner weiß, wie das ausgehen wird. Das müssen Politiker*innen aber genauso kommunizieren und sagen: „Ich vertrete dieses Risiko nicht. Wenn Wähler*innen das nicht mögen, können sie in den nächsten Wahlen für jemand anderen stimmen.“ Die Debatte sollte jedoch für die nächste Stufe, also wie lange die Maßnahmen dauern und wie man diese lockert, definitiv stattfinden. Die Schäden werden immens werden, und da gibt es viel gegeneinander aufzuwiegen. Das ist die Rolle der Politik. Da kann man sich nicht hinter Sachverständigen verstecken. Wir sollten keine Angst vor diesen Debatten haben. Sie klären die Optionen und zwingen alle Beteiligten, scharf nachzudenken.
re:constitution – Exchange and Analysis on Democracy and the Rule of Law in Europe
Democracy Reporting International und das Forum Transregionale Studien leiten das von der Stiftung Mercator geförderte Programm re:constitution. Es trägt dazu bei, ein Netzwerk aufzubauen, das sich mit europäischen Verfassungsfragen, dem Spannungsfeld zwischen pluralistischen Auslegungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie der Zusammenarbeit innerhalb der EU befasst.
www.reconstitution.eu