EU-Kommission muss von vorne anfangen
Trotz der aktuellen Blockade im Bereich Asyl und Migration gibt es praktische Handlungsoptionen, die die neue EU-Kommission schnell umsetzen kann, schreibt Matthias Lücke vom Mercator Dialogue on Asylum and Migration (MEDAM). Die großen Herausforderungen müssen gemeinsam mit den Herkunftsländern angegangen werden.
Gut angefangen hat es nicht. Erst wurden zwei Kandidaten aus Ungarn und Rumänien für die neue EU-Kommission wiederholt vom Rechtsausschuss des EU-Parlaments abgelehnt, dann löste die neue Zusammensetzung der Aufgaben im Migrationsportfolio – und insbesondere dessen Titel – eine Welle der Empörung aus. Der künftige Vizepräsident Margaritis Schinas, der für Migration, Sicherheit, Bildung und Beschäftigung zuständig sein wird, sollte die „europäische Lebensweise schützen“. Das klingt nach Abschottung und Überfremdungsängsten – so als ob die europäische Kultur vor Migration geschützt werden sollte.
Mittlerweile heißt es „Promoting our European Way of Life” anstatt „Protecting our European Way of Life“ – was tatsächlich eher Offenheit und europäische Werte suggeriert. Der erste Shitstorm ist also überstanden. Und auch die Bestätigung der neuen EU-Kommission durch das Europäische Parlament mit einer überraschend großen Mehrheit lässt Hoffnung aufkommen.
Migration bleibt das Schlüsselthema und Hauptstreitpunkt der Kommission.
Situation festgefahren
Gleichwohl bleibt Migration das Kernthema des Kommissars und vor allem Schlüsselthema und Hauptstreitpunkt der Kommission. Die neue Kommission übernimmt eine festgefahrene Situation bei den Bemühungen, das gemeinsame europäische Asylsystem (GEAS) zu reformieren. Eine einheitliche Linie fehlt.
Die neue EU-Kommission muss nun Strategien entwickeln, die sowohl bei den Mitgliedsstaaten als auch den Herkunftsländern Unterstützung finden. Unsere Forschung zeigt deutlich, dass die Bürger*innen der EU Asylsuchende und Flüchtlinge schützen wollen – selbst in Ungarn, dessen Regierung für ihre antiflüchtlingspolitische Position bekannt ist. Wichtig ist ihnen jedoch eine Politik, die auch Grenzen setzt und Bedingungen definiert.
Um dem von den Bürger*innen gefühlten Kontrollverlust entgegenzutreten, sollte die neue Kommission zügig diejenigen Reformen des gemeinsamen europäischen Asylsystems verabschieden, für die es bereits einen breiten Konsens gibt – etwa die Angleichung der Aufnahmebedingungen und gemeinsame Normen zum Schutz der Rechte von Asylsuchenden.
Darüber hinaus kann sie einen Monitoring-Mechanismus einrichten, der die Leistungen der einzelnen Mitgliedsstaaten im Bereich Asyl und Migration darstellt und vergleichbar macht. Auf dieser Basis können die administrativen und finanziellen Belastungen einzelner Mitgliedsstaaten im mehrjährigen Finanzrahmen berücksichtigt und ausgeglichen werden. So erhielten auch Länder mit weniger politischem Willen und finanziellen Mitteln Anreize, die GEAS-Vorgaben umzusetzen.
Erst wenn Migration gemeinsam gesteuert wird, bringt sie zuverlässig Vorteile für alle Beteiligten.
Legale Wege öffnen
Weitergehende Verbesserungen müssen allerdings gemeinsam mit den Herkunfts- und Transitländern umgesetzt werden. Die Integrität des EU-Asylsystems hängt unter anderem von wirksamen Verfahren für die Rückkehr abgelehnter Asylbewerber*innen in ihre Herkunftsländer ab. Gleichzeitig ist es für die Regierungen dieser Länder oftmals politisch schwierig, die unfreiwillige Rückkehr ihrer Bürger*innen zu unterstützen; sie machen sich bei ihren Wähler*innen unbeliebt und die Volkswirtschaften verlieren wichtige Rücküberweisungen von den Migrant*innen.
Die Herkunfts- und Transitländer haben also ein großes Interesse daran, ihren Bürger*innen legale Migrationswege nach Europa zu öffnen. Wenn die EU-Mitgliedstaaten mehr legale Arbeitsmigration aus Drittländern zuließen, würde das die Zusammenarbeit in anderen, kritischen Bereichen erleichtern – einschließlich der Eindämmung irregulärer Migration und der Rückkehr von Staatsangehörigen ohne Aufenthaltsrecht in der EU.
Gemeinsame Strategie entscheidend
In unserer Forschung und im Dialog mit den verschiedenen Interessengruppen haben wir immer wieder gesehen, dass die Zusammenarbeit der EU mit Drittstaaten ein breites Spektrum an Politikbereichen abdecken muss, damit alle Beteiligten davon profitieren und die Vereinbarungen aus eigenem Interesse einhalten. Erst wenn Migration gemeinsam gesteuert wird, bringt sie zuverlässig Vorteile für alle Beteiligten – Migrant*innen, Herkunfts- und Zielländer.
Die neue Europäische Kommission muss im Hinblick auf die Herausforderungen in der Asyl- und Einwanderungspolitik großenteils von vorne anfangen. Fast fünf Jahre nach dem Höhepunkt der „Migrationskrise“ und in einer grundlegend und dauerhaft veränderten politischen Landschaft und öffentlichen Debatte muss sie vor allem eines tun: rasch mit weiteren Akteuren in Mitgliedstaaten und Drittländern eine gemeinsame Handlungsstrategie entwickeln und umsetzen.
Mercator Dialogue on Asylum and Migration
Der Mercator Dialogue on Asylum and Migration (MEDAM) ist ein Forschungs- und Beratungsprojekt mit dem Ziel, Forschungslücken zur Asyl- und Migrationspolitik zu schließen und Handlungsstrategien aus primär wirtschaftswissen-schaftlicher Sicht zu erarbeiten.