Aus dem Erzgebirge in die Welt
Luisa Hieckel spürte als Jugendliche nicht viel Bezug zu Europa und der EU. Heute ist die 24-Jährige EU-Kompakt-Kurs-Trainerin – und erkennt im Großen wie im Kleinen Europa.
„Ich mag es einfach nicht, wenn man sich nur über Dinge aufregt. Stattdessen kann man seine Energie für seine Mitmenschen einsetzen und die Gesellschaft, in der man lebt, lebenswerter machen.“ Luisa Hieckel kräuselt die Stirn, während sie sich energisch einer Bö entgegenstemmt. Ihre wild gelockten Haare hält ein wollenes Stirnband zusammen – der Wind auf der Bonner Rheinpromenade zerrt trotzig an ihnen. Luisa stört das nicht, sie ist Gegenwind gewohnt.
Regelmäßig radelt sie hier entlang, unterwegs von ihrer Wohngemeinschaft in Bonn-Beuel zum Deutschen Institut für Entwicklungspolitik, wo sie als wissenschaftliche Hilfskraft arbeitet. Vor einigen Wochen stand sie auch hier auf der Promenade, bepackt mit Unterschriftenlisten und einer großen Portion Hoffnung auf ein besseres Leben für alle: Zum Bonner Radentscheid lud sie Passant*innen ein, für eine bessere Radinfrastruktur in der Stadt zu unterschreiben. Da war nicht jeder ihrer Meinung, aber auch das ist Luisa gewohnt.
Multiplikatorin fürs Fahrrad, Europa und die Welt
Die Studentin engagiert sich als Multiplikatorin, nicht nur, wenn es um das Fahrradfahren geht. Luisa trainiert auch, sich und andere, abweichende Meinungen auszuhalten, und dann aufeinander zuzugehen – für mehr Verständnis und Zusammenhalt. EU-Kompakt–Kurse heißt das Format, in dem sich Luisa seit drei Jahren als Trainerin engagiert. Sie brennt für diese Initiative – so sehr, dass sie gemeinsam mit Mitstreiter*innen Anfang des Jahres einen Verein gegründet hat, um diese Idee zu verstetigen. Zukünftig organisieren sie sich selbst: Jeweils zwei Trainer*innen besuchen mit einem vierstündigen Kurs eine Schulklasse ab der zehnten Jahrgangsstufe. Die Teilnehmer*innen der Kurse sind dabei also nicht viel jünger als die Trainer*innen – ein wichtiger Ansatz. „Da reden wir beispielsweise darüber, inwiefern man von der EU in seinem Alltag profitiert, das weiß man ja vielfach nicht. Natürlich könnte man Schilder aufstellen. Aber das würde vermutlich auch nicht viel ändern“, vermutet Luisa. Stattdessen setzt sie auf Zuhören, Hinterfragen, gemeinsames Recherchieren. „Wir wollen kritisches Denken ermöglichen.“ Gemeinsam mit den Kursteilnehmer*innen findet Luisa beispielsweise auch selbst immer mehr darüber heraus, wie stark die europäischen Länder miteinander verbunden sind, wie im Lokalen auch das Internationale steckt, und umgekehrt. Dabei hat sie sich früher nie für Lokalpolitik interessiert „Auch ich wusste ja nicht, wo Europa überall drinsteckt.“
Wir wollen kritisches Denken ermöglichen.
Nie wieder Kleinstadt
In Sayda im Erzgebirge wurde Luisa geboren – das war gefühlt sehr weit weg von Europa und der internationalen Politik. Hier begeisterte sie sich in der Schule also zunächst einmal für Sprachen: Englisch und Latein, ganz klassisch. Im Politikunterricht ist Europa ein Thema, „aber viel war das nicht“. Der Familienurlaub ging an die Ostsee. „Das war alles gut, wie es war, aber ich wusste, da draußen gibt es eine ganz andere Welt, die wollte ich kennenlernen.“ Und diese Welt lässt sie heute nicht mehr los.
Zunächst einmal ging es für das Bachelorstudium nach Dresden, danach folgten Amsterdam und Berlin. „Ich wollte verstehen, was in der Welt passiert – und wie es dazu kommt. Ich wusste, ich brauche eine Stadt mit internationaler Atmosphäre.“ Bonn lag dabei lange Zeit gar nicht auf Luisas Radar, aber jetzt fühlt sie sich wohl in der ehemaligen Hauptstadt, wo sie seit 2019 Politikwissenschaft mit Schwerpunkt auf europäischer und internationaler Politik studiert. Bei ihrer Arbeit im Institut ist die Dienstsprache Englisch, ganz in der Nähe liegt auch der UN Campus Bonn. „Es gibt hier wahnsinnig viele internationale Think Tanks und Forschungsinstitute.“ Wo es nach dem Abschluss ihres Masterstudiums hingeht? Luisa zuckt die Achseln. Aber eins ist klar: „Ich werde nie wieder in eine Kleinstadt ziehen.“
Mit den EU-Kompakt-Kursen kommt Luisa in Deutschland herum: In Berlin, Brandenburg, Sachsen und in Nordrhein-Westfalen hat sie bereits Schüler*innen getroffen, mit ihnen diskutiert – und immer wieder auch selbst Neues gelernt. „Ich finde es sehr spannend, wie auch ich mich durch die Kurse verändere“, erklärt die Studentin. „Ich lerne nicht nur selbst immer wieder neue Fakten, vor allem persönlich lerne ich dazu.“ Luisa spricht überlegt, aber immer klar. Dass es der selbstbewussten jungen Frau einst schwerfiel, mit fremden Menschen zu sprechen, ist kaum vorstellbar. „Heute stupse ich Menschen an. Weil ich das Glück hatte, selbst angestupst worden zu sein.“ Damit meint Luisa ihre ehemalige Kunstlehrerin, Frau Berger. 2015 sprach die Lehrerin Luisa an. Sie wollte Sprachunterricht für junge Geflüchtete anbieten und suchte Freiwillige. „Das hat mich inspiriert, das war der Anfang“, blickt Luisa zurück.
Schule als Begegnungsort
Die Schule als Begegnungsort: unerlässlich, findet Luisa. „In der Schule erreicht man einen Querschnitt der Bevölkerung, das ist woanders kaum möglich.“ Und doch: Luisa ist überzeugt, dass es ein Angebot, über Europa zu sprechen, auch für andere Altersgruppen geben müsste. Einmal hat sie das selbst erlebt: In Sachsen waren die Teilnehmer*innen ihres EU-Kompakt-Kurses doppelt so alt wie sie: „Da stand ich 40–jährigen Finanzfachwirten gegenüber!“ Luisa lacht. Das tut sie selten, dann aber steckt sie ihr Gegenüber regelrecht an. „Das war eine sehr besondere Situation. In deren Köpfen lebten sie noch in der DDR. Und von einem jungen Mädel wollten die sich erst recht nichts erzählen lassen.“ Was tut Luisa dann? Vermutlich kräuselt sie die Stirn, streckt den Rücken – und dann gibt sie Raum, fragt nach, moderiert, versucht zu verstehen, immer wieder. Auf diese Weise nähert sich Luisa ihren Gesprächspartner*innen an. Und sie hört zu. Sehr aufmerksam. Mit viel Achtung und Respekt sucht Luisa nach Gemeinsamkeiten mit ihrem Gegenüber.
„Die Welt erkunden – das können wir im Großen wie im Kleinen. Beispielsweise auch über Sprachen.“ Luisa hebt die Arme, dreht die Handflächen gen Himmel. „Das war ja auch mir gar nicht klar. Ich merke jetzt erst als Studentin, wie stark man über Sprachen andere Menschen und Kulturen kennenlernen kann.“ Und auch das ist Luisa: Aus ihren Erkenntnissen lässt sie Taten sprechen. Aktuell besucht sie gleich zwei Sprachkurse gleichzeitig: Spanisch und Französisch.
Und wenn sie Feierabend hat? Dann radelt Luisa zu einem Treffen von Greenpeace Bonn.
Nicht auf Glück allein verlassen
In ihren Kursen erzählen viele Teilnehmer*innen von dem Gefühl, in der Welt nichts verändern zu können, „dass sie keine Möglichkeit haben, Gesellschaft und Politik mitzugestalten.“ Das kann Luisa gut verstehen. Wenn sie darüber spricht, wird Luisa wieder sehr ernst, sie macht sich Sorgen. „Gerade jetzt finden ja wegen COVID-19 kaum noch Zusammenkünfte zum Austausch statt“, erläutert sie. „Dabei bräuchten wir gerade jetzt den Diskurs, das Gespräch, um unsere Gesellschaft zusammenzuhalten. Das macht mich sehr traurig.“ Und natürlich fehlen ihr die Kurse auch persönlich, das wird deutlich. Das letzte Mal hat Luisa im Januar vor einer Schulklasse gestanden, bis zum nächsten Mal wird wohl noch viel Zeit vergehen.
Aber durchhängen? Das gibt es für Luisa nicht. Vor wenigen Wochen ist die Gemeinnützigkeit ihres Vereins „Understanding Europe e.V.“ anerkannt worden: Eine Motivation mehr für Luisa, Kraft und Liebe in das Projekt zu investieren. „Ich hatte viel Glück: Die Impulse, die ich bekommen habe, um die zu sein, die ich bin, waren vielfach zufällig.“ Doch auf Glück allein möchte sich Luisa nicht verlassen: „Ich wünsche mir, dass weniger Glück eine Rolle spielen würde, ob Menschen lernen, wie groß die Welt ist.“
Deswegen möchte Luisa die EU-Kompakt-Kurse weiter ausbauen. Aktuell vernetzt sich der Verein international – es gibt ähnliche Vereine und Zusammenschlüsse in ganz Europa. Wieder neue Menschen, neue Perspektiven: Wenn Luisa darüber spricht, leuchten ihre Augen. Natürlich haben sich im Projekt auch Freundschaften entwickelt. „Ich habe schon viele sehr inspirierende Persönlichkeiten kennengelernt“, räsoniert sie. „Denen wäre ich sonst vermutlich nie begegnet.“ Die Welt entdecken: Luisa tut das jeden Tag. Indem sie Menschen entdeckt. Und deren Sicht auf die Welt. Und nach und nach erarbeitet Luisa sich auf diese Weise auch den Rest der Welt. Alles hängt zusammen. Wie in Europa.
EU-Kompakt-Kurse
Die vierstündigen Kompakt-Kurse bieten jungen Menschen ab 14 Jahren Zugänge zu Grundlagen der europäischen Integration. Ziel ist es, junge Menschen und ihre demokratische Teilhabe in Europa zu stärken. Junge, eigens geschulte Trainer*innen besuchen die Schule und führen die vierstündigen Kurse durch. Die EU-Kompakt-Kurse sind ein Projekt der Schwarzkopf Stiftung Junges Europa im Rahmen des Projektes Europa Verstehen.
https://www.europa-verstehen.de/