Auf Sendung gegen Diskriminierung
Carlotta Niewels ist 19 und auf dem Sprung hinaus in die Welt. Noch im Abi-Jahr hat sie einen Podcast gestartet: „ZUHÖREN statt nur gaffen“ – und wurde dafür mit dem Titel der Anne Frank Botschafterin geehrt. Was hat es mit beidem auf sich? Spurensuche in der Provinz.
Ihr Zuhause ist ein fröhliches gelbes Häuschen abseits der dörflichen Hauptstraße, im Garten flattert die blaue Fahne der Europäischen Union. „Hier ist doch nichts“, hatte sich Carlotta Niewels am Telefon gewundert, dass wir sie besuchen wollen – um sie zu erleben in der Umgebung, in der sie aufgewachsen ist und die ihr Denken mitgeprägt hat. Erster Eindruck: Es wirkt wie eine heile Welt. Carlotta selbst ist nur noch sporadisch daheim, längst befindet sich die 19-Jährige auf dem Sprung: morgen Sprachkurs in Madrid, im Frühjahr Urlaub auf Bali, danach wohl Summer School, ein Angebot des Anne Frank Zentrums Amsterdam. Schließlich darf sich die junge Frau seit ein paar Monaten ganz offiziell „Anne Frank Botschafterin“ nennen. Wie lebt so ein Teenager, dem die deutsche Vergangenheit alles andere als egal ist?
Wir sind in Overath, 25 Kilometer östlich von Köln im Rheinisch-Bergischen Kreis. Mit Bus und Regionalbahn dauert es vom Kölner Hauptbahnhof aus eine gute Stunde bis hier hinaus aufs Land. Die örtliche Bushaltestelle ist gleich ums Eck, nur drei Minuten Fußweg von ihrem Zuhause entfernt, direkt an der Hauptstraße. Carlotta reicht selbst gebackenes Bananenbrot, es gibt Cappuccino mit aufgeschäumter Hafermilch. Durch die bodentiefen Fenster fällt warmes Licht in den offenen Ess- und Wohnbereich, am einladenden Holztisch beginnt die junge Gastgeberin zu erzählen. Aus dem Ordner mit den wichtigen Dokumenten zieht sie eine sorgsam verwahrte Ehrenurkunde. Darauf ein ernstes jugendliches Gesicht, das aus der Vergangenheit fast ein wenig mahnend, so scheint es, herüberblickt: Anne Frank.
Demokratie leben
Im Sommer 2019 hat die heute 19-jährige Carlotta Niewels ihr Abitur gemacht – Leistungskurse: Geschichte und Biologie. Im September wurde sie zur Anne Frank Botschafterin gekürt. Obwohl sie die Ehrung im Anne Frank Zentrum in Berlin nur per Videostream mitverfolgen konnte – „Ich war zu dem Zeitpunkt leider auf Pilgerreise“ –, bedeutet ihr die Ernennung viel. „Das ist ein Titel, den man trägt, weil man damit etwas repräsentiert.“ Dass man sich für die Demokratie einsetze? „Ja, das hört sich so groß an“, sagt Carlotta, die es für sich bescheidener ausdrücken mag: „Ich hoffe, einen kleinen Beitrag für eine offene Gesellschaft zu leisten.“ Bisweilen, schiebt sie gleich hinterher, verspüre sie aber auch Sorge, „dass ich das nicht füllen kann, dass ich das gar nicht verdiene“. Dabei scheint die nachdenkliche junge Frau geradezu prädestiniert für diesen Titel zu sein, so engagiert und offen, wie sie sich zeigt. Kaum verwunderlich, dass sie zu ihren Schulzeiten am Paul-Klee-Gymnasium in Overath auch im Schülersprecher-Team war. Nachhaltigkeitsprojekte wie Kleiderbörsen oder Plastikmüllsammlungen lagen ihr besonders am Herzen.
Als „Peer Guide“ aktiv im Austausch mit Gleichaltrigen
Zu Anne Frank ist sie per Zufall gekommen. Es war Frühsommer 2018, elfte Klasse, als eine Geschichtslehrerin fragte, wer im Rahmen des Anne-Frank-Botschafter*innen-Programms bei der Anne-Frank-Wanderausstellung, die damals in Köln gastierte, als Tourguide mitmachen wolle. Carlotta hob den Finger und wurde aus 90 Bewerber*innen ausgesucht. Die Idee: Gleichaltrige als „Peer Guide“ durch „Deine Anne. Ein Mädchen schreibt Geschichte“ zu führen. Nur der erste Teil der Ausstellung widmet sich dem Teenager Anne Frank, ihrem Versteck in Amsterdam, ihren Sehnsüchten, dem Tagebuch, dem Verrat und dem grausamen Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Im zweiten Teil geht es um Sinnfragen, die wohl in jeder Pubertät auftauchen: Wer bin ich? Wo fühle ich mich zugehörig? Wie werde ich von anderen gesehen? Aber auch um Fragen des Miteinanders: Werde ich in eine Schublade gesteckt? Stecke ich andere in Schubladen? Fühle ich mich ausgegrenzt? Es ging folglich insbesondere darum, mit anderen Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, sie zum Nachdenken anzuregen. „Das fand ich spannend“, erzählt Carlotta rückblickend. In der Zeit fuhr sie oft in die Kölner Innenstadt und gab dort zwei Stunden während oder auch nach der Schulzeit den Guide für Schüler*innen ab der neunten Klasse aufwärts.
Raus aus der „Bubble“
Viel habe sie dabei gelernt. „Alleine, sich vor 25 bis 30 Jugendliche hinzustellen, hat mich selbstbewusster gemacht.“ Von dem, was die Gleichaltrigen berichteten, war sie teilweise richtig schockiert, in ihrer eigenen friedlichen „Bubble“ hatte sie solche Art von Diskriminierung bisher nicht erlebt: „Jude“, so erzählten manche, werde oft noch als Schimpfwort verwendet. Deshalb, keine Frage, beschloss Carlotta nach der Guide-Erfahrung, mit dem Programm weiterzumachen und zur Anne Frank Botschafterin zu werden. Bei einem langen Wochenende im Anne Frank Zentrum in Berlin „konnten wir alles in Workshops vertiefen“. Letzter Schritt für alle Absolvent*innen auf dem Weg zur offiziellen Botschafter*in: ein eigenes Projekt!
Warum macht Carlotta ihren Podcast und was will sie damit erreichen? Im Video erklärt sie es.
Podcast, um ins Gespräch zu kommen
Schon beim Wochenendseminar in Berlin hatte sich für sie herauskristallisiert, was ihr Ding sein sollte: Menschen zu befragen, die nicht der Norm entsprechen. Und dann zu podcasten, „weil das junge Leute anspricht“. Denn Diskriminierung, findet Carlotta, komme irgendwie aus einer bequemen Haltung. Vorurteile seien oft nur Mittel, die Welt einzuordnen in Bekanntes und Unbekanntes, Nahes und Fremdes. „Nur wenn man darüber redet, wird alles besser.“ Der Vater, Journalist beim Kölner Stadt-Anzeiger, nein, der habe damit gar nichts zu tun. Kommunikation scheint gleichwohl ihre große Stärke zu sein, redegewandt ist sie in jedem Fall. Titel und Motto ihres Podcasts: „ZUHÖREN statt nur gaffen“.
Drei Folgen – drei Geschichten
Dafür hat sie sich auf den Weg gemacht. Nach Hannover ist sie gefahren zu Ninia, nach Köln zu Emmet und nach Bonn zu Britta. Eine kleinwüchsige Frau, eine Transperson und eine Blinde hat sie im Gespräch porträtiert. Alles während ihrer Abiturphase. Beim Debüt hatte sie noch zwei jüngere Mitstreiter aus ihrer Schule an der Seite. „Den beiden wurde es zu viel, die sind danach ausgestiegen“, erzählt Carlotta. Zwischen 30 und 45 Minuten lang sind ihre Geschichten. Zunächst diente das Smartphone als Aufnahmegerät – „Qualität grenzwertig“ –, Cutten hat sie sich mithilfe von YouTube-Tutorials beigebracht. Ein Freund hat das Logo zum Podcast designt, passende Sticker wurden besorgt – wir sollen unbedingt welche mitnehmen und verkleben. Denn mit der Resonanz hapert es noch. Und das ist in der Tat schade. 220 Menschen haben den Erstling gehört, „die anderen viel weniger“. Das Lokalradio vor Ort habe einen Hinweis auf den Podcast ausgeschlagen – „zu wenig Lokalbezug“ –, und auch die Zeitung habe sich nicht wieder gemeldet. „Das habe ich mir in meiner Anfangseuphorie viel leichter vorgestellt.“ So findet man ihren äußerst hörenswerten Podcast bei Soundcloud oder Spotify nur, wenn man davon weiß.
„Ich frage – ihr müsst nicht antworten“
Sehr glücklich ist sie im Nachhinein aber, dass ihr erster Gast Ninia LaGrande war – eine bekannte, kleinwüchsige Poetry-Slammerin, die durchaus wortgewandt schildern konnte, wie sie im Alltag Diskriminierung erlebt: wenn Blicke ausgrenzen, Arroganz alle Gefühle tötet. Paare, die die Hände ineinander verschränkt über sie hinwegschwenkten, als ob sie lediglich eine 1,40 Meter hohe Bahnschranke sei. „Vieles passiert unbewusst“, hat Carlotta mittlerweile erkannt. Auch wenn sie sich bemüht, keinem auf die Füße zu treten – „ja, kleinwüchsig ist der richtige Begriff, ich habe extra nachgefragt“ –, ist sie gegen Fettnäpfchen nicht gefeit. Als sie in der zweiten Folge Emmet fragt, wie eigentlich sein alter Name lautet, erklärt er ihr, das sei jetzt aber ein absolutes No-Go, Transpersonen dürfe man nicht nach ihrer früheren Identität aushorchen. „Voll peinlich!“, schämt sich Carlotta noch Monate später. Zu Hause hätte sie die Szene am liebsten herausgeschnitten. Sie hat sich dann aber doch nur auf die vielen „Ähms“ und „Öhms“ beschränkt und das Gespräch ansonsten belassen, wie es war: „Weil es so vielleicht anderen hilft, nicht ähnliche Fehler zu machen.“ Sie selbst ist mit ihren Worten sensibler geworden, seit sie weiß, „Details können eine große Rolle spielen.“
Hier geht’s zu Carlottas Podcast „ZUHÖREN statt nur gaffen“:
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Kurz bevor wir gehen, stellt Carlotta Niewels noch ihr Weihnachtsgeschenk auf den Holztisch: ein Standmikrofon. Ja, die frischgebackene Anne Frank Botschafterin will den Podcast in losen Folgen weiter ausbauen. Warum? „Wir reden doch viel zu oft nur übereinander statt miteinander.“ Im Herbst dieses Jahres sollen parallel dazu Auszug und Studium folgen, am liebsten Umwelt-, Sozialwissenschaften und/oder Politik. Fürs Leben gelernt hat Carlotta aber jetzt schon unschätzbar viel. Anne Frank hätte das bestimmt gefallen.
Anne Frank Botschafter*innen
Das Anne-Frank-Botschafter*innen-Programm soll junge Menschen dabei unterstützen, sich für eine demokratische Gesellschaft und gegen Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus einzusetzen.
www.annefrankbotschafterinnen.de