„Stark, klein und süß“
Welche Extraleistungen Mütter mit Migrationshintergrund in Deutschland Tag für Tag vollbringen, bleibt den meisten Augen verborgen. Zwei Töchter solcher Mütter wollen das ändern: Mit ihrem preisgekrönten Buch „Mama Superstar“ feiern Melisa Manrique und Manik Chander Frauen, die in Deutschland ein neues Leben begonnen und ihre Kinder großgezogen haben. Wer sind diese stolzen Töchter, und was haben sie vor?
Frankfurt am Main, 1992: Die kleine Manik und ihre Schwester kommen weinend aus dem Kindergarten. „Mama, Mama, warum sind wir keine guten Kinder?“, fragen sie. Ihre Mutter reagiert verwundert: „Warum sollt ihr keine sein?“ Aufgelöst berichten ihre Töchter: „Alle Kinder hatten Besuch vom Nikolaus, nur wir nicht. Er kommt nur zu den guten Kindern und zu den schlechten nicht, haben sie gesagt.“ Mutter Dally verspricht, diesen vermeintlich gemeinen Herrn am nächsten Tag zur Rede zu stellen.
Dass ihre Mutter aus dem nordindischen Punjab das deutsche Nikolaus-Ritual nicht kannte, ist heute eine Anekdote aus Manik Chanders Vergangenheit. „Dabei hat sie wirklich alles getan, um mir eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Sie hat sogar Spaghetti mit mir geschlürft, wie es Kinder nun mal tun. Und einmal für mich an einem Schnaps genippt, obwohl sie noch nie Alkohol getrunken hatte.“ Trotzdem: Von ihren Klassenkamerad*innen wurde Manik geärgert, weil sie nach Curry roch. „Ich glaube, das habe ich meine Mutter spüren lassen“, bedauert die 32-Jährige. Ihre Mitstreiterin Melisa Manrique nickt: „Wir haben das Buch gemacht, weil wir erst spät verstanden haben, was unsere Mütter geleistet haben.“ Die gebürtige Peruanerin weiß, wovon sie spricht: Ihre Eltern zogen mit ihr nach Italien, als sie fünf Jahre alt war. „Jetzt wollen wir dazu beitragen, dass andere Menschen mit Migrationsgeschichte ein bisschen früher als wir stolz auf ihre Wurzeln sind“, erklärt die 33-Jährige. Das Buch heißt „Mama Superstar“, eine 150 Seiten starke Ode an die Migration und Mütter. Es feiert den Mut, die Liebe, die Entschlossenheit und die Kreativität von Frauen, die aus einem anderen Kulturkreis kamen und sich – meist zum Wohl ihrer Kinder – ein fremdes Land als neuen Lebensmittelpunkt erschlossen haben. Und das sind nicht wenige: Jede*r Fünfte in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Die Geschichten ihrer eingewanderten Mütter sind den Kindern häufig kaum bekannt. „Mama Superstar“ gibt diesen Heldinnen des Alltags Gesichter. Die elf Protagonistinnen des Buches stehen dabei exemplarisch für alle „Migrant Mamas“, ob aus Südkorea, Mexiko, Indien, der Türkei oder dem Irak.
Die beiden Aktivistinnen scheinen damit einen Nerv getroffen zu haben. Seit das Buch im März 2019 – zunächst im Selbstverlag auf eigene Kosten – erschienen ist, hagelt es positives Feedback. „Während der Arbeit an dem Buch haben wir uns zwischendurch schon immer gefragt, wer das eigentlich lesen will“, verrät Melisa. Doch die erste Ausgabe von 5.000 Stück war innerhalb von vier Wochen ausverkauft. Ihre großen Augen leuchten, als sie sich daran erinnert. Auszeichnungen wie der Deutsche Integrationspreis und der Smart Hero Award ließen nicht lang auf sich warten. Klappt man das Buch zu, bleiben aber noch viele Migrationsgeschichten unerzählt. Im Rahmen ihres übergreifenden Projekts „Migrant Mama“ planen Melisa und Manik deshalb gerade eine Onlineplattform, auf der weitere Menschen von ihren Erfahrungen berichten können.
Ein Semester in Mumbai
Die gemeinsame Geschichte von Manik und Melisa beginnt an einem Ort, der für alles Weitere bezeichnend ist: in der Fremde. Ende 2013 lernen sie sich zufällig in einem Seminar am Tata Institute for Social Sciences (TISS) in Mumbai kennen. Manik studiert in Göttingen VWL, Melisa steckt im Wirtschaftspolitik-Master in Kassel – und beide verbringen ein Semester in Indien. Ihre Namen und ihr Aussehen stechen in der Gruppe der deutschen Austauschstudent*innen heraus, sorgen aber dafür, dass Manik und Melisa schnell die ersten Worte wechseln. Ebenso schnell haben die Kommilitoninnen erkannt, dass sie viel gemeinsam haben, insbesondere die Bewunderung für ihre Mütter, die von anderen Kontinenten nach Europa gezogen waren. Maniks Mutter Dally kam nach dem Studium und ersten Jobs als Lehrerin mit Mitte 20 nach Deutschland. Melisas Mutter verließ Peru und ihre geliebte Stelle als Direktorin eines Gymnasiums. Ihre Kinder sollten in Italien in politisch stabileren Verhältnissen aufwachsen. Beide Mütter konnten ihre bisherigen Berufe nicht mehr ausüben – ihre Abschlüsse wurden in der neuen Heimat nicht anerkannt. Wie viele andere Mütter opferten sie diesen Teil ihrer Identität, damit ihre Kinder es einmal besser haben sollten. Ein Opfer, das viele Kinder ähnlich wie Manik und Melisa wiederum erst als Erwachsene erkennen.
Krasse Mamas
„Manik hatte in Mumbai ein Zimmer mit Klimaanlage“, erinnert sich Melisa. „Ich weiß noch genau, wie wir dort eines Tages auf dem Bett lagen. Wir hörten Musik und sprachen mal wieder über unsere Mamas und darüber, was sie geleistet haben.“ Daraus entstand fast ein Wettstreit à la „Meine Mama ist so krass“ und „Meine Mama ist noch krasser“. Was sie nebenbei feststellten: Außer ihren eigenen Müttern fiel ihnen kaum ein weiteres Role Model ein. „Jedenfalls wurden wir beide ganz emotional und haben herumgeflachst, dass wir zu diesem Thema mal was machen müssten. ‚Migrant Mamas sind stark, klein und süß‘ war damals unser Mantra.“ Nach dem gemeinsamen Auslandssemester in Mumbai blieben die Freundinnen in Kontakt. Manik verbrachte noch ein halbes Jahr in Indien. Melisa zog sogar für eine Zeit mit ihrem Mann nach Peru. Die jungen Frauen betrachten die Zeit in den Herkunftsländern ihrer Mütter als prägend, weil sie dort erst ansatzweise nachvollziehen konnten, wie ihre Mütter sich im fremden Deutschland gefühlt haben müssen. „Ich habe seitdem einen Heidenrespekt davor, was es heißt, Migrantin zu sein“, sprudelt Manik hervor.
Sie ist heute in beiden Welten zu Hause: „Meine Eltern haben uns mit dem Verständnis großgezogen, dass wir Deutsche sind. Aber sie haben auch gesagt, man darf seine Wurzeln nicht vergessen. Ich war schon Fan der deutschen Fußballnationalmannschaft, als sich andere noch dafür geschämt haben. Trotzdem kann es sein, dass ich mich in einem privaten Gespräch mal als Inderin bezeichne, weil ich mehr als zwei Gewürze benutze.“ Melisas Situation ist anders: Sie sieht sich als Peruanerin, doch da sie in Italien groß geworden ist, sind ihre Art zu sprechen, zu essen und ihr Blick auf die Welt sehr italienisch geprägt. „Ich würde aber niemals sagen, dass ich Italienerin bin, und eigentlich dachte ich auch, dass ich in Deutschland nie leben könnte. Manik nenne ich zum Spaß gern ‚Alman‘ (türkisches Wort für Deutsche, Anm. der Red.).“
Positiver Konsens
Rund vier Jahre nach ihrem ersten Zusammentreffen wurden die Planungen für das Buch konkreter. „Wir hatten eine grobe Idee. An einem intensiven Brainstorming-Wochenende haben wir dann ein detailliertes Konzept erarbeitet“, erinnert sich Melisa. Genug Mamas kannten sie aus dem privaten Umfeld durch deren Töchter – ihre Freundinnen. Ihnen drückten sie einen Fragebogen in die Hand, mit dem sie ihre Mütter interviewen sollten. Die Fragen reichten von „Wie groß war deine Familie, als du ein Kind warst?“ über „Auf was bist du stolz in deinem Leben?“ bis zu „Was ist deine Lieblingssendung im deutschen Fernsehen?“. Anschließend fanden Gespräche mit den Töchtern statt. Die Kapitel wurden gemeinsam geschrieben, analysiert, umgeschrieben. Über allem stand ein Grundsatz: Konsens. „Ich habe neulich einen Artikel über matriarchale Gesellschaften gelesen. So funktionieren wir auch irgendwie“, schmunzelt Manik.
Jedes liebevoll illustrierte Kapitel über eine Migrant Mama endet mit einem ihrer Lieblingsrezepte und einem Aufruf der Tochter. Fazit: Die Herausforderungen, denen die Mütter in ihrem neuen Zuhause begegneten, unterschieden sich nur wenig – ob im multikulturellen Berlin oder im konservativen Stuttgart. Alle Migrant Mamas haben auch Rassismus erfahren. Dass davon im Buch eher wenig zu lesen ist, hat mehrere Gründe: Die Mamas selbst haben selten davon erzählt, vielleicht um ihre Kinder davor zu schützen. Melisa und Manik haben sich bewusst für eine positive Herangehensweise entschieden: „Wir waren müde davon, wütend zu sein. Wir wollten etwas schaffen, das unsere Leser*innen glücklich macht und ihr Leben bereichert.“ Ein solches bedürfnisorientiertes Handeln ist eine Stärke, die Frauen häufig zugeschrieben wird. Man kann es auch „Liebe“ nennen.
neue deutsche organisationen e.V.
Migrant Mama ist Mitglied im bundesweiten Netzwerk neue deutsche organisationen e.V., das von der Stiftung Mercator gefördert wird. Die postmigrantische Bewegung aus rund 100 Vereinen, Organisationen und Projekten engagiert sich gegen Rassismus und für ein inklusives Deutschland.