Warum sehen Europäer*innen China als Partner und Russland als Rivalen?
Steven Erlanger, diplomatischer Chefkorrespondent für Europa der New York Times, analysiert für AufRuhr eine Studie der Denkfabrik European Council on Foreign Relations. Sie zeigt, wie Europas Bürger*innen gen Osten blicken.
Die Biden-Administration drängt die europäischen Nationen, China gegenüber skeptischer und sogar konfrontativer zu sein. Als Grund nennt die US-Regierung den wachsenden wirtschaftlichen Wettbewerb, Abhängigkeitsrisiken und Pekings angeblich „grenzenlose Partnerschaft“ mit einem Russland, das in die Ukraine einmarschiert ist. Doch die europäische Bevölkerung ist von den Forderungen nicht überzeugt.
Menschen in Europa sehen China als strategischen Partner
Trotz des Krieges in der Ukraine sehen die meisten europäischen Bürger*innen China nach wie vor in erster Linie als „notwendigen Partner“ und sind zurückhaltend, um nicht in den Konflikt um Taiwan hineingezogen zu werden. Dies ergab eine umfassende Umfrage der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). An der ECFR-Umfrage beteiligten sich online mehr als 16.000 Erwachsene über 18 Jahren in Österreich, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, den Niederlanden, Polen, Spanien und Schweden.
Zwei führende europäische Politiker, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, haben dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping wichtige, symbolisch-freundschaftliche Besuche abgestattet, was zu Hause und in Washington erhebliche Kritik ausgelöst hat. Ihre Bemühungen, China als „strategischen und globalen Partner“ und nicht als Rivalen und Konkurrenten zu behandeln, scheinen jedoch im Einklang mit der europäischen Meinung zu stehen.
Offiziell betrachten die europäischen Staats- und Regierungschef*innen in ihrem „strategischen Kompass“ China als „systemischen Rivalen“ und „wirtschaftlichen Konkurrenten“ und wollen nur in globalen Fragen wie dem Klimawandel mit Peking zusammenarbeiten.
Steven Erlanger ist diplomatischer Chefkorrespondent der New York Times und arbeitet seit August 2017 in Berlin, nachdem er sechs Jahre lang in Brüssel tätig war. Er war Büroleiter der New York Times in London, Paris, Jerusalem, Berlin, Büroleiter für Mitteleuropa und den Balkan in Prag und diplomatischer Chefkorrespondent in Washington. Von 1991 bis 1995 arbeitete er in Moskau, von 1988 bis 1991 war er Büroleiter in Bangkok und Südostasienkorrespondent. Im Jahr 2017 wurde ihm der Pulitzer-Preis für seine Serie über Russland verliehen. Bereits 2002 hatte er einen Pulitzer-Preis für seine Serie über Al-Qaida erhalten. Erlanger machte 1974 seinen Abschluss am Harvard College und studierte Russisch am St. Antony’s College in Oxford.
Deutsche China-Strategie unterstreicht vorsichtige Haltung
Das aktuellste Strategiepapier Deutschlands bezüglich China reflektiert diese Überlegungen und positioniert Berlin – trotz der Unzufriedenheit einiger Unternehmen und interner Meinungsverschiedenheiten unter den Ministerien – auf einer Linie mit der eher vorsichtigen Haltung der Europäischen Kommission gegenüber Peking. Die Bedenken haben in den vielen Monaten seit dem Krieg gegen die Ukraine und der erklärten Partnerschaft zwischen Moskau und Peking zugenommen.
Die Deutschen erkennen auch, dass der Aufstieg eines selbstbewussteren und leistungsfähigeren China das gepriesene deutsche Exportmodell gefährdet. Und ebenso die Industriegiganten des 20. Jahrhunderts, die stark auf China gesetzt haben, wie beispielsweise Volkswagen.
Auch wenn die deutsche Industrie China gegenüber vorsichtiger ist, braucht sie eindeutig mehr Zeit, um ihre Abhängigkeiten zu verringern. Und sowohl die deutschen als auch die französischen Eliten wollen vermeiden, als Washingtons Copilot in einem auf Peking gerichteten Kampfjet eingesetzt zu werden.
Diese Ansicht wird von vielen europäischen Wähler*innen geteilt. Die ECFR-Umfrage zeigt, dass Mehrheiten in allen elf Ländern nicht bereit sind, die Vereinigten Staaten gegen China zu unterstützen, wenn es zu einer militärischen Eskalation zwischen den beiden Mächten kommen sollte, und dass sie neutral bleiben möchten.
Gleichzeitig würden 41 Prozent der Europäer*innen Wirtschaftssanktionen gegen China befürworten, wenn Peking Russland bei seinem Krieg gegen die Ukraine in erheblichem Umfang militärisch unterstützen würde, während 33 Prozent diesen Schritt ablehnen würden.
Europäer*innen sehen Russland als Gegner und Rivalen
Wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine wird Russland zunehmend als Gegner oder Rivale angesehen. Diese Ansicht vertreten 64 Prozent der Befragten, was einem Anstieg von etwa einem Drittel der Befragten entspricht, seitdem dieselbe Frage im Jahr 2021 in einer Umfrage gestellt wurde.
„Die Europäer*innen sehen ganz klar die Allianz zwischen Russland und China und dass sie sich gegen den Westen gebildet hat, aber sie behandeln sie anders, als die Politik es tut“, sagt Jana Puglierin, Mitautorin des Berichtes zur Umfrage. „Das würde sich nur ändern, wenn China Waffen an Russland liefert.“
Macron wurde nach seinem Besuch bei Xi vielseits für seine Äußerung kritisiert, dass Europa in der Taiwan-Frage kein „Mitläufer“ sein oder „sich nicht an einen amerikanischen Rhythmus und eine chinesische Überreaktion anpassen“ solle. Er sagte, es wäre „eine Falle für Europa“, in Krisen verwickelt zu werden, „die nicht unsere sind“. Die Europäer*innen sollten ihre eigene strategische Autonomie weiterentwickeln und ein „dritter Pol“ in der Weltordnung werden und nicht riskieren, „Vasallen“ in einer Konfrontation zwischen den USA und China zu werden. Wie Scholz spielte auch Macron die Rivalität herunter und sagte, China sei „ein strategischer und globaler Partner“. Trotz der Kritik an ihren Besuchen in China scheinen sie stärker im Einklang mit der europäischen Mehrheitsmeinung zu stehen.
Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, äußerte sich in einer Rede zu China schärfer: Peking trete in eine neue Ära der „Sicherheit und Kontrolle“ ein, betreibe eine Politik des „Teilens und Herrschens“, und Europa müsse in Schlüsselsektoren die Abhängigkeit von China „verringern“ (Englisch: „de-risk“). Umfrage-Autorin Puglierin schlussfolgert daraus: „Von der Leyens Ansichten liegen näher an denen der Biden-Administration, aber die europäische Meinung ist näher an den Ansichten von Präsident Macron.“
Frankreich und Deutschland seien zwar die wichtigsten Partner Pekings in Europa, aber „die Realität ist, dass die französischen Unternehmen vom chinesischen Markt desillusioniert sind und das langfristige Bild der chinesisch-französischen Wirtschaftspartnerschaft bestenfalls düster aussieht“, warnt Philippe Le Corre, Senior Fellow und Chinawissenschaftler des Center for China Analysis, das zum Asia Society Policy Institute gehört. Für ihn ist das wichtigste Ergebnis der Umfrage, dass die französische und die deutsche Öffentlichkeit – anders als der Rest der befragten Europäer*innen – eine ziemlich negative Sicht auf China haben. Nur 31 Prozent der Franzosen und 33 Prozent der Deutschen sehen China als „Partner“, während 50 Prozent der Deutschen und 41 Prozent der Französ*innen China als Rivalen oder Gegner sehen.
Die Italiener*innen haben eine positivere Sichtweise, 42 Prozent sehen China als Partner. Aber die anderen Länder, so Le Corre, „sind weitgehend apathisch oder haben seit 2020 und der Covidpandemie nicht mehr viel mit China zu tun: keine Tourist*innen in beide Richtungen, wenig Geschäfte, keine chinesischen Delegationen oder offiziellen Besuche und eine globale Wahrnehmung, die mit einer sehr dunklen Menschenrechtsbilanz in Hongkong, Xinjiang, Tibet und gegen Dissident*innen verbunden ist“.
Die Mehrheit der Europäer*innen ist misstrauisch geworden gegenüber chinesischen Investitionen, insbesondere in die europäische Infrastruktur, Technologieunternehmen oder Medien. „Die Europäer*innen wollen keinen Anstieg der chinesischen Direktinvestitionen – so viel zur Neuen Seidenstraße“, sagt Le Corre.
Die Ansichten über Russland haben sich verhärtet, wobei die Mehrheit Russland als Gegner ansieht und die Zweifel an Moskau sogar im traditionell mit dem Osten sympathisierenden Frankreich und Italien wachsen, wie Pawel Zerka, ein Mitautor des Berichtes zur Umfrage, betont.
Auch wenn sich die Ansichten über die Vereinigten Staaten als Verbündete seit 2021, als Donald Trump Präsident war, etwas verbessert haben, finden trotzdem etwa drei Viertel der Befragten, dass Europa seine Sicherheitsabhängigkeit von Washington verringern und mehr in seine eigene Verteidigung investieren sollte. Etwa 56 Prozent aller Befragten gaben an, dass die Wiederwahl von Trump die transatlantischen Beziehungen schwächen würde.
Im Allgemeinen, so Puglierin, „sehen die Europäer*innen die transatlantischen Beziehungen in einem positiven Licht und darin mehr Vorteile als Risiken, aber sie verstehen nicht, dass sie mit Verpflichtungen verbunden sind. Sie realisieren nicht, dass Taiwan als grundlegender Teil der US-Strategie betrachtet wird oder dass es mit der Ukraine verbunden ist“. Und übrigens genauso verbunden ist mit dem Schutz der pazifischen Seewege, von denen der europäische Handel abhängt. „Es gibt wenig Bewusstsein dafür, dass es problematisch wäre, nicht auf der Seite der USA zu stehen, nachdem diese so viel in Europa investiert haben“, sagt Puglierin. „Die Europäer*innen sehen Neutralität als eine Option.“
Re:shape Global Europe
Das Projekt Re:shape Global Europe am European Council on Foreign Relations (ECFR) entwickelt Instrumente und Analysen, mit denen europäische Entscheidungsträger*innen Europas Rolle in der Welt konkreter einordnen und potenzielle Kooperationspartner*innen identifizieren können. Die Ergebnisse sollen helfen, mögliche Allianzen zu erkennen und strategisch auf internationale Partner zuzugehen.