Warum sehen Europäer*innen China als Partner und Russland als Rivalen?

Warum sehen Europäer*innen China als Partner und Russland als Rivalen?
Autor*innen: Steven Erlanger, Felix Jung (Übersetzung) NYT-Artikel 28.11.2023

Steven Erlanger, diplomatischer Chef­korrespondent für Europa der New York Times, analysiert für AufRuhr eine Studie der Denk­fabrik European Council on Foreign Relations. Sie zeigt, wie Europas Bürger*innen gen Osten blicken.

Die Biden-Administration drängt die europäischen Nationen, China gegen­über skeptischer und sogar konfrontativer zu sein. Als Grund nennt die US-Regierung den wachsenden wirtschaftlichen Wettbewerb, Abhängigkeits­risiken und Pekings angeblich „grenzenlose Partnerschaft“ mit einem Russland, das in die Ukraine einmarschiert ist. Doch die europäische Bevölkerung ist von den Forderungen nicht überzeugt.

Menschen in Europa sehen China als strategischen Partner

Trotz des Krieges in der Ukraine sehen die meisten europäischen Bürger*innen China nach wie vor in erster Linie als „notwendigen Partner“ und sind zurückhaltend, um nicht in den Konflikt um Taiwan hinein­gezogen zu werden. Dies ergab eine umfassende Umfrage der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). An der ECFR-Umfrage beteiligten sich online mehr als 16.000 Erwachsene über 18 Jahren in Österreich, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, den Niederlanden, Polen, Spanien und Schweden.

Zwei führende europäische Politiker, der deutsche Bundes­kanzler Olaf Scholz und der französische Staats­präsident Emmanuel Macron, haben dem chinesischen Staats­präsidenten Xi Jinping wichtige, symbolisch-freundschaftliche Besuche abgestattet, was zu Hause und in Washington erhebliche Kritik ausgelöst hat. Ihre Bemühungen, China als „strategischen und globalen Partner“ und nicht als Rivalen und Konkurrenten zu behandeln, scheinen jedoch im Einklang mit der europäischen Meinung zu stehen.

Offiziell betrachten die europäischen Staats- und Regierungs­chef*innen in ihrem „strategischen Kompass“ China als „systemischen Rivalen“ und „wirtschaftlichen Konkurrenten“ und wollen nur in globalen Fragen wie dem Klima­wandel mit Peking zusammen­arbeiten.

Steven Erlanger
© Andrew Testa

Steven Erlanger ist diplomatischer Chef­korrespondent der New York Times und arbeitet seit August 2017 in Berlin, nachdem er sechs Jahre lang in Brüssel tätig war. Er war Büro­leiter der New York Times in London, Paris, Jerusalem, Berlin, Büro­leiter für Mittel­europa und den Balkan in Prag und diplomatischer Chef­korrespondent in Washington. Von 1991 bis 1995 arbeitete er in Moskau, von 1988 bis 1991 war er Büro­leiter in Bangkok und Süd­ost­asien­korrespondent. Im Jahr 2017 wurde ihm der Pulitzer-Preis für seine Serie über Russland verliehen. Bereits 2002 hatte er einen Pulitzer-Preis für seine Serie über Al-Qaida erhalten. Erlanger machte 1974 seinen Abschluss am Harvard College und studierte Russisch am St. Antony’s College in Oxford.

Deutsche China-Strategie unterstreicht vorsichtige Haltung

Das aktuellste Strategiepapier Deutschlands bezüglich China reflektiert diese Über­legungen und positioniert Berlin – trotz der Unzufriedenheit einiger Unternehmen und interner Meinungs­verschiedenheiten unter den Ministerien – auf einer Linie mit der eher vorsichtigen Haltung der Europäischen Kommission gegenüber Peking. Die Bedenken haben in den vielen Monaten seit dem Krieg gegen die Ukraine und der erklärten Partnerschaft zwischen Moskau und Peking zugenommen.

Die Deutschen erkennen auch, dass der Aufstieg eines selbst­bewussteren und leistungs­fähigeren China das gepriesene deutsche Export­modell gefährdet. Und ebenso die Industrie­giganten des 20. Jahrhunderts, die stark auf China gesetzt haben, wie beispiels­weise Volkswagen.

Diagramm "Wie sollte Europa reagieren, falls China Waffen und Munition an Russland liefert?"
Die ECFR-Umfrage wurde online unter mehr als 16.000 Erwachsenen über 18 Jahren in elf Ländern durchgeführt und hat eine Fehlermarge von plus/minus zwei Prozent in größeren Ländern und plus/minus drei Prozent in kleineren Ländern.

Auch wenn die deutsche Industrie China gegenüber vorsichtiger ist, braucht sie eindeutig mehr Zeit, um ihre Abhängigkeiten zu verringern. Und sowohl die deutschen als auch die französischen Eliten wollen vermeiden, als Washingtons Copilot in einem auf Peking gerichteten Kampfjet eingesetzt zu werden.

Diese Ansicht wird von vielen europäischen Wähler*innen geteilt. Die ECFR-Umfrage zeigt, dass Mehrheiten in allen elf Ländern nicht bereit sind, die Vereinigten Staaten gegen China zu unterstützen, wenn es zu einer militärischen Eskalation zwischen den beiden Mächten kommen sollte, und dass sie neutral bleiben möchten.

Gleichzeitig würden 41 Prozent der Europäer*innen Wirtschafts­sanktionen gegen China befürworten, wenn Peking Russland bei seinem Krieg gegen die Ukraine in erheblichem Umfang militärisch unter­stützen würde, während 33 Prozent diesen Schritt ablehnen würden.

Europäer*innen sehen Russland als Gegner und Rivalen

Wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine wird Russland zunehmend als Gegner oder Rivale angesehen. Diese Ansicht vertreten 64 Prozent der Befragten, was einem Anstieg von etwa einem Drittel der Befragten entspricht, seitdem dieselbe Frage im Jahr 2021 in einer Umfrage gestellt wurde.

„Die Europäer*innen sehen ganz klar die Allianz zwischen Russland und China und dass sie sich gegen den Westen gebildet hat, aber sie behandeln sie anders, als die Politik es tut“, sagt Jana Puglierin, Mitautorin des Berichtes zur Umfrage. „Das würde sich nur ändern, wenn China Waffen an Russland liefert.“

Macron wurde nach seinem Besuch bei Xi vielseits für seine Äußerung kritisiert, dass Europa in der Taiwan-Frage kein „Mitläufer“ sein oder „sich nicht an einen amerikanischen Rhythmus und eine chinesische Über­reaktion anpassen“ solle. Er sagte, es wäre „eine Falle für Europa“, in Krisen verwickelt zu werden, „die nicht unsere sind“. Die Europäer*innen sollten ihre eigene strategische Autonomie weiter­entwickeln und ein „dritter Pol“ in der Welt­ordnung werden und nicht riskieren, „Vasallen“ in einer Konfrontation zwischen den USA und China zu werden. Wie Scholz spielte auch Macron die Rivalität herunter und sagte, China sei „ein strategischer und globaler Partner“. Trotz der Kritik an ihren Besuchen in China scheinen sie stärker im Einklang mit der europäischen Mehrheits­meinung zu stehen.

Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, äußerte sich in einer Rede zu China schärfer: Peking trete in eine neue Ära der „Sicherheit und Kontrolle“ ein, betreibe eine Politik des „Teilens und Herrschens“, und Europa müsse in Schlüssel­sektoren die Abhängigkeit von China „verringern“ (Englisch: „de-risk“). Umfrage-Autorin Puglierin schluss­folgert daraus: „Von der Leyens Ansichten liegen näher an denen der Biden-Administration, aber die europäische Meinung ist näher an den Ansichten von Präsident Macron.“

Frankreich und Deutschland seien zwar die wichtigsten Partner Pekings in Europa, aber „die Realität ist, dass die französischen Unternehmen vom chinesischen Markt desillusioniert sind und das langfristige Bild der chinesisch-französischen Wirtschafts­partnerschaft besten­falls düster aus­sieht“, warnt Philippe Le Corre, Senior Fellow und China­wissenschaftler des Center for China Analysis, das zum Asia Society Policy Institute gehört. Für ihn ist das wichtigste Ergebnis der Umfrage, dass die französische und die deutsche Öffentlichkeit – anders als der Rest der befragten Europäer*innen – eine ziemlich negative Sicht auf China haben. Nur 31 Prozent der Franzosen und 33 Prozent der Deutschen sehen China als „Partner“, während 50 Prozent der Deutschen und 41 Prozent der Französ*innen China als Rivalen oder Gegner sehen.

Die Italiener*innen haben eine positivere Sichtweise, 42 Prozent sehen China als Partner. Aber die anderen Länder, so Le Corre, „sind weitgehend apathisch oder haben seit 2020 und der Covidpandemie nicht mehr viel mit China zu tun: keine Tourist*innen in beide Richtungen, wenig Geschäfte, keine chinesischen Delegationen oder offiziellen Besuche und eine globale Wahr­nehmung, die mit einer sehr dunklen Menschen­rechts­bilanz in Hongkong, Xinjiang, Tibet und gegen Dissident*innen verbunden ist“.

Die Mehrheit der Europäer*innen ist miss­trauisch geworden gegenüber chinesischen Investitionen, insbesondere in die europäische Infrastruktur, Technologie­unternehmen oder Medien. „Die Europäer*innen wollen keinen Anstieg der chinesischen Direkt­investitionen – so viel zur Neuen Seiden­straße“, sagt Le Corre.

Die Ansichten über Russland haben sich verhärtet, wobei die Mehrheit Russland als Gegner ansieht und die Zweifel an Moskau sogar im traditionell mit dem Osten sympathisierenden Frankreich und Italien wachsen, wie Pawel Zerka, ein Mitautor des Berichtes zur Umfrage, betont.

Auch wenn sich die Ansichten über die Vereinigten Staaten als Verbündete seit 2021, als Donald Trump Präsident war, etwas verbessert haben, finden trotzdem etwa drei Viertel der Befragten, dass Europa seine Sicher­heits­abhängigkeit von Washington verringern und mehr in seine eigene Verteidigung investieren sollte. Etwa 56 Prozent aller Befragten gaben an, dass die Wiederwahl von Trump die trans­atlantischen Beziehungen schwächen würde.

Im Allgemeinen, so Puglierin, „sehen die Europäer*innen die trans­atlantischen Beziehungen in einem positiven Licht und darin mehr Vorteile als Risiken, aber sie verstehen nicht, dass sie mit Verpflichtungen verbunden sind. Sie realisieren nicht, dass Taiwan als grund­legender Teil der US-Strategie betrachtet wird oder dass es mit der Ukraine verbunden ist“. Und übrigens genauso verbunden ist mit dem Schutz der pazifischen Seewege, von denen der europäische Handel abhängt. „Es gibt wenig Bewusst­sein dafür, dass es problematisch wäre, nicht auf der Seite der USA zu stehen, nachdem diese so viel in Europa investiert haben“, sagt Puglierin. „Die Europäer*innen sehen Neutralität als eine Option.“

Re:shape Global Europe

Das Projekt Re:shape Global Europe am European Council on Foreign Relations (ECFR) entwickelt Instrumente und Analysen, mit denen europäische Entscheidungs­träger*innen Europas Rolle in der Welt konkreter einordnen und potenzielle Kooperations­partner*innen identifizieren können. Die Ergebnisse sollen helfen, mögliche Allianzen zu erkennen und strategisch auf inter­nationale Partner zuzu­gehen.

ecfr.eu/reshape/