Die Türöffnerin

„Generation Europe“-Botschafterin Lídia Egea
Die Türöffnerin
Autor: Manuel Meyer Fotos: Joan Monfort 14.12.2021

Mit Kunst und Theater begeistert die Katalanin Lídia Egea Jugendliche für Themen, bei denen sie Hemmungen über­winden müssen: Migration, Vorurteile und positives Denken. Die Botschafterin vom Bildungs­projekt Generation Europe gibt ihnen Werkzeuge an die Hand, um sich zu finden und gesellschaftlich ein­zu­bringen. Ein Besuch bei weit geöffneten Türen.

„Der nächste Begriff ist ‚Trost‘“, erklärt Lídia Egea, während sie die großen Holz­balkon­türen zum Durch­lüften öffnet. Lauwarme Herbst­luft strömt in den Workshop-Raum im oberen Stockwerk einer alten Villa aus dem 19. Jahrhundert. Hier, in Sant Boi de Llobregat, einer Stadt bei Barcelona, ist das spanische Kunst- und Kultur­zentrum Can Castells Centre d’Art unter­gebracht. Die Luft riecht nach Meer. Nur wenige Kilometer entfernt, direkt hinter dem Flughafen El Prat, rollen die Wellen an die katalanische Küste. Papageien kreischen in den Palmen, die im Garten des Kunst­zentrums wachsen.

Mitten in dieser Mittelmeeridylle soll es nun um Trost gehen. So fern der Begriff auf den ersten Blick auch scheinen mag, ist er für die Jugendlichen jedoch nicht. Die meisten hier haben es im Leben nicht leicht. Die sechs Mädchen über­legen kurz. Dann nehmen sie verschiedene Posen ein. Ein Mädchen aus der Gruppe kniet sich auf den Kachel­boden der alten Stadt­villa und schaut verzweifelt nach unten. Spontan kommt ein anderes Mädchen hinzu, legt tröstend die Hand auf ihre Schulter. Als Zeichen der Verbundenheit lehnen sie ihre Stirnen aneinander.

„Wunderbar! Ganz toll! Und wie würdet ihr den Begriff ‚Zuhause‘ darstellen?“, fragt Lídia. Einige Mädchen verstricken sich in Umarmungen, suchen nach Geborgenheit vermittelnden Posen. Chancen, Zukunft, Leere, Hilfe, Heimat, Frustration, Familie, Verlust, Neustart, Freundschaft: Immer wieder gibt Lídia neue Begriffe vor. Das übergeordnete Thema dieses Jugend-Workshops: Flucht und Migration.

Mit Vorurteilen über Migration aufräumen

Als „Generation Europe“-Botschafterin will Lídia Egea positive Werte und Energie vermitteln.
Als „Generation Europe“-Botschafterin will Lídia Egea positive Werte und Energie vermitteln. © Joan Monfort

Einige der Teilnehmerinnen stammen aus sozial schwachen und benachteiligten Familien. Alle wuchsen sie in Sant Boi de Llobregat auf, einer knapp 85.000 Einwohner*innen großen Vorstadt Barcelonas. „In unserem Workshop geht es darum, mit den Vorurteilen und den verfestigten Meinungen aufzuräumen, die wir in Europa und auch hier in Spanien über Geflüchtete haben“, erklärt Lídia.

In Spanien sei Migration bei vielen Menschen eng mit dem Bild von Geflüchteten verknüpft, die in kleinen Booten an der europäischen Küste stranden oder die zu Fuß versuchen, die Grenze zu über­queren. Doch egal, ob sie wegen ihrer sexuellen Orientierung oder wegen Natur­katastrophen ihre Heimat verlassen: „Sie sind Menschen wie du und ich, mit den gleichen Bedürfnissen“, sagt die 28-jährige Katalanin.

Wie lässt sich Heimat darstellen? Lídia bringt den am Workshop teilnehmenden Jugendlichen spielerisch das Thema Flucht und Migration näher.
Wie lässt sich Heimat darstellen? Lídia bringt den am Workshop teilnehmenden Jugendlichen spielerisch das Thema Flucht und Migration näher. © Joan Monfort

Auch in Lídias Familie gab es Migration. „Meine Großeltern kamen aus dem süd­spanischen Andalusien nach Martorell in Katalonien, um im reicheren Nordosten des Landes Arbeit und eine bessere Zukunft zu finden“, erzählt sie. „Auch sie waren in gewisser Weise Flüchtlinge. Wir versuchen, den Jugendlichen zu zeigen, dass Migration viel normaler und auch positiver sein kann als das Bild, welches uns die Medien vermitteln“, erklärt Lídia.

Raum für Gefühle und Gedanken

Anfangs waren die 15 bis 17 Jahre alten Mädchen vom lokalen Jugend­zentrum Marianao noch schüchtern. Doch Lídia hat etwas Mitreißendes an sich. Sie strahlt eine ansteckende Energie und Lebens­freude aus. Mit ihrer positiven Art schafft sie Vertrauen. Sie stößt Gedanken an und Türen auf. So dauert es auch nicht lange, bis die Teenager ihre Hemmungen verlieren und sich aktiv in den Workshop einbringen. Nicht nur die Balkon­türen haben sich geöffnet, da ist plötzlich auch das Seelen­leben dieser jungen Frauen einen Spalt­breit auf­gegangen. Sie tanzen, erzählen, zeichnen, bilden menschliche Skulpturen. Lídia hat damit ein klares Ziel vor Augen: „Sie sollen lernen, ihren Gefühlen, Ideen und Meinungen auf verschiedenste Weise und zu unterschiedlichsten Themen Ausdruck geben zu können.“

Lídia begrüßt eine freiwillige Helferin im Garten des Kulturzentrums Can Castells Centre d’Art.
Lídia begrüßt eine freiwillige Helferin im Garten des Kultur­zentrums Can Castells Centre d’Art. © Joan Monfort
Interaktiver Workshop: Lídia bereitet ein Spiel zum Thema Flucht vor.
Interaktiver Workshop: Lídia bereitet ein Spiel zum Thema Flucht vor. © Joan Monfort
Auf einem Zettel notiert Lídia Begriffe rund um das Thema Migration, welche die Jugendlichen pantomimisch darstellen sollen.
Auf einem Zettel notiert Lídia Begriffe rund um das Thema Migration, welche die Jugendlichen pantomimisch darstellen sollen. © Joan Monfort

Lídia hat in Barcelona Design und audio­visuelle Medien­wissenschaften studiert. Nach einem Referendariat an Barcelonas renommierter Kunst­hoch­schule Escola Massana absolvierte sie noch einen Master in Erziehungs­wissen­schaften. Nun wartet sie auf eine freie Stelle im öffentlichen Schul­dienst, möchte aber auf jeden Fall auch in der privaten Erziehungs- und Jugend­arbeit aktiv bleiben.

Bisher verdient sie ihr Geld mit verschiedenen kleineren Jobs, arbeitet aber auch regelmäßig in Sommer­camps mit Kindern und Jugendlichen. Vor drei Jahren lernte sie auf einem Frauen-Festival in Barcelona die Sozial­arbeiterin Nien Boots vom gemein­nützigen Kultur­verein Cálam kennen, bei dem sie unbezahlt bei Projekten mithilft. Cálam engagiert sich in Katalonien vor allem mit künstlerischen Initiativen in der Jugendarbeit, in Nach­haltigkeits-, Bildungs- und Sozial­projekten. „Das ist genau mein Ding. Arbeiten mit Kunst“, sagt Lídia. Da Cálam keinen eigenen Vereins­raum hat, bietet die Initiative ihre Workshops und Projekte in anderen Kultur­zentren an – unter anderem im Can Castells Centre d’Art in Sant Boi de Llobregat.

Seit acht Monaten ist Lídia als Cálam-Mitarbeiterin auch Botschafterin des Projekts „Generation Europe – The Academy“. Das Förder­programm des Inter­nationalen Bildungs- und Begegnungs­werks e. V. (IBB) soll insbesondere benachteiligten jungen Menschen in Europa Möglichkeiten geben, sich aktiv ins politische und gesellschaftliche Leben der EU einzubringen.

Generation Europe: International lernen, um lokal zu helfen

45 Jugendzentren und Bildungs­stätten aus mehr als einem Dutzend europäischer Länder sind in das Projekt eingebunden. Sogenannte Botschafter*innen wie Lídia Egea sollen dabei ein Netzwerk aufbauen, um die lokale und europäische Jugendarbeit zu verknüpfen. „Ich engagiere mich nicht bei Generation Europe, um meinen Lebenslauf auf­zu­hübschen, sondern um von Kolleg*innen aus anderen Ländern zu lernen, wie ich am besten vor Ort unseren Jugendlichen helfen kann“, stellt sie klar.

Pause an der frischen Luft: Lídia auf der Terrasse des Kulturzentrums in Sant Boi de Llobregat.
Pause an der frischen Luft: Lídia auf der Terrasse des Kultur­zentrums in Sant Boi de Llobregat. © Joan Monfort
Expressiv: Lídia ermutigt mit Kunst und Theater Jugendliche, Hemmungen zu überwinden.
Expressiv: Lídia ermutigt mit Kunst und Theater Jugendliche, Hemmungen zu überwinden. © Joan Monfort

Generation Europe sei für sie ein Projekt, bei dem sie ein großes Zusammen­gehörigkeits­gefühl spüre. „Vor allem aber ist es ein Raum, in dem wir von der Theorie zur Aktion übergehen können.“ Aktuell versucht Lídia, eine Kooperation mit Jugend­einrichtungen im rheinland-pfälzischen Sinzig und im schwedischen Kungsbacka voranzubringen. Aufgrund der Corona­pandemie steht bisher aber vor allem noch die lokale Jugend­arbeit im Mittel­punkt.

Im Mai 2021 gab es immerhin ein erstes inter­nationales Treffen von Generation Europe – wenn auch nur virtuell. „Allen voran gab mir ein Straßen­theater­projekt aus Italien viele neue Ideen, wie ich mit Kunst- und Kultur­projekten neue Dynamiken in meiner Erziehungs­arbeit schaffen kann“, sagt Lídia, die selber Theater spielt, tanzt und Vertikal­tuch­akrobatin ist.

Kunst als Werkzeug, um Werte und Emotionen zu vermitteln

Kunst steht im Mittelpunkt von Lídias Arbeit. „Kunst ist ein Werkzeug, das dir aus verschiedensten Blick­winkeln und über verschiedenste Kanäle ermöglicht, deine Emotionen aus­zu­drücken“, erklärt Lídia. Gerade deshalb möchte sie als zukünftige Kunstlehrerin ihren Schüler*innen neben Zeichen­techniken und Wissen über die einzelnen Epochen Kunst auch als jenes Medium nahebringen, mit dem sie ihre Werte und Emotionen spiegeln und persönlich daran wachsen können.

Ob an einem Gymnasium, in einer Berufs­hoch­schule oder im Kulturverein Cálam – für Lídia steht fest: „Mithilfe von Kunst will ich neben Wissen auch meine persönlichen Werte weiter­geben.“ Dazu gehören für sie der Zusammenhalt in der Familie, die Bedeutung von Freundschaft, Respekt vor Fremden und die Fähigkeit, Pluralität und Diversität zu verstehen und anzuerkennen. Für Türöffnerin Lídia ist das der Schlüssel für europa­weite Jugendarbeit – „gerade in Zeiten von Bullying und oftmals empathie­loser TikTok-Generationen.“

Generation Europe – The Academy

Generation Europe – The Academy ist ein inter­nationales Netzwerk von Jugend­einrichtungen zur Förderung einer aktiven europäischen Zivil­gesellschaft. Es motiviert die beteiligten Jugendlichen zum gemeinsamen politischen Handeln und schafft durch gezielte Qualifizierung die Voraus­setzungen dafür. Es ist ein Förder­programm des Inter­nationalen Bildungs- und Begegnungs­werks e. V. (IBB).
generationeurope.org/