Die Türöffnerin
Mit Kunst und Theater begeistert die Katalanin Lídia Egea Jugendliche für Themen, bei denen sie Hemmungen überwinden müssen: Migration, Vorurteile und positives Denken. Die Botschafterin vom Bildungsprojekt Generation Europe gibt ihnen Werkzeuge an die Hand, um sich zu finden und gesellschaftlich einzubringen. Ein Besuch bei weit geöffneten Türen.
„Der nächste Begriff ist ‚Trost‘“, erklärt Lídia Egea, während sie die großen Holzbalkontüren zum Durchlüften öffnet. Lauwarme Herbstluft strömt in den Workshop-Raum im oberen Stockwerk einer alten Villa aus dem 19. Jahrhundert. Hier, in Sant Boi de Llobregat, einer Stadt bei Barcelona, ist das spanische Kunst- und Kulturzentrum Can Castells Centre d’Art untergebracht. Die Luft riecht nach Meer. Nur wenige Kilometer entfernt, direkt hinter dem Flughafen El Prat, rollen die Wellen an die katalanische Küste. Papageien kreischen in den Palmen, die im Garten des Kunstzentrums wachsen.
Mitten in dieser Mittelmeeridylle soll es nun um Trost gehen. So fern der Begriff auf den ersten Blick auch scheinen mag, ist er für die Jugendlichen jedoch nicht. Die meisten hier haben es im Leben nicht leicht. Die sechs Mädchen überlegen kurz. Dann nehmen sie verschiedene Posen ein. Ein Mädchen aus der Gruppe kniet sich auf den Kachelboden der alten Stadtvilla und schaut verzweifelt nach unten. Spontan kommt ein anderes Mädchen hinzu, legt tröstend die Hand auf ihre Schulter. Als Zeichen der Verbundenheit lehnen sie ihre Stirnen aneinander.
„Wunderbar! Ganz toll! Und wie würdet ihr den Begriff ‚Zuhause‘ darstellen?“, fragt Lídia. Einige Mädchen verstricken sich in Umarmungen, suchen nach Geborgenheit vermittelnden Posen. Chancen, Zukunft, Leere, Hilfe, Heimat, Frustration, Familie, Verlust, Neustart, Freundschaft: Immer wieder gibt Lídia neue Begriffe vor. Das übergeordnete Thema dieses Jugend-Workshops: Flucht und Migration.
Mit Vorurteilen über Migration aufräumen
Einige der Teilnehmerinnen stammen aus sozial schwachen und benachteiligten Familien. Alle wuchsen sie in Sant Boi de Llobregat auf, einer knapp 85.000 Einwohner*innen großen Vorstadt Barcelonas. „In unserem Workshop geht es darum, mit den Vorurteilen und den verfestigten Meinungen aufzuräumen, die wir in Europa und auch hier in Spanien über Geflüchtete haben“, erklärt Lídia.
In Spanien sei Migration bei vielen Menschen eng mit dem Bild von Geflüchteten verknüpft, die in kleinen Booten an der europäischen Küste stranden oder die zu Fuß versuchen, die Grenze zu überqueren. Doch egal, ob sie wegen ihrer sexuellen Orientierung oder wegen Naturkatastrophen ihre Heimat verlassen: „Sie sind Menschen wie du und ich, mit den gleichen Bedürfnissen“, sagt die 28-jährige Katalanin.
Auch in Lídias Familie gab es Migration. „Meine Großeltern kamen aus dem südspanischen Andalusien nach Martorell in Katalonien, um im reicheren Nordosten des Landes Arbeit und eine bessere Zukunft zu finden“, erzählt sie. „Auch sie waren in gewisser Weise Flüchtlinge. Wir versuchen, den Jugendlichen zu zeigen, dass Migration viel normaler und auch positiver sein kann als das Bild, welches uns die Medien vermitteln“, erklärt Lídia.
Raum für Gefühle und Gedanken
Anfangs waren die 15 bis 17 Jahre alten Mädchen vom lokalen Jugendzentrum Marianao noch schüchtern. Doch Lídia hat etwas Mitreißendes an sich. Sie strahlt eine ansteckende Energie und Lebensfreude aus. Mit ihrer positiven Art schafft sie Vertrauen. Sie stößt Gedanken an und Türen auf. So dauert es auch nicht lange, bis die Teenager ihre Hemmungen verlieren und sich aktiv in den Workshop einbringen. Nicht nur die Balkontüren haben sich geöffnet, da ist plötzlich auch das Seelenleben dieser jungen Frauen einen Spaltbreit aufgegangen. Sie tanzen, erzählen, zeichnen, bilden menschliche Skulpturen. Lídia hat damit ein klares Ziel vor Augen: „Sie sollen lernen, ihren Gefühlen, Ideen und Meinungen auf verschiedenste Weise und zu unterschiedlichsten Themen Ausdruck geben zu können.“
Lídia hat in Barcelona Design und audiovisuelle Medienwissenschaften studiert. Nach einem Referendariat an Barcelonas renommierter Kunsthochschule Escola Massana absolvierte sie noch einen Master in Erziehungswissenschaften. Nun wartet sie auf eine freie Stelle im öffentlichen Schuldienst, möchte aber auf jeden Fall auch in der privaten Erziehungs- und Jugendarbeit aktiv bleiben.
Bisher verdient sie ihr Geld mit verschiedenen kleineren Jobs, arbeitet aber auch regelmäßig in Sommercamps mit Kindern und Jugendlichen. Vor drei Jahren lernte sie auf einem Frauen-Festival in Barcelona die Sozialarbeiterin Nien Boots vom gemeinnützigen Kulturverein Cálam kennen, bei dem sie unbezahlt bei Projekten mithilft. Cálam engagiert sich in Katalonien vor allem mit künstlerischen Initiativen in der Jugendarbeit, in Nachhaltigkeits-, Bildungs- und Sozialprojekten. „Das ist genau mein Ding. Arbeiten mit Kunst“, sagt Lídia. Da Cálam keinen eigenen Vereinsraum hat, bietet die Initiative ihre Workshops und Projekte in anderen Kulturzentren an – unter anderem im Can Castells Centre d’Art in Sant Boi de Llobregat.
Seit acht Monaten ist Lídia als Cálam-Mitarbeiterin auch Botschafterin des Projekts „Generation Europe – The Academy“. Das Förderprogramm des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks e. V. (IBB) soll insbesondere benachteiligten jungen Menschen in Europa Möglichkeiten geben, sich aktiv ins politische und gesellschaftliche Leben der EU einzubringen.
Generation Europe: International lernen, um lokal zu helfen
45 Jugendzentren und Bildungsstätten aus mehr als einem Dutzend europäischer Länder sind in das Projekt eingebunden. Sogenannte Botschafter*innen wie Lídia Egea sollen dabei ein Netzwerk aufbauen, um die lokale und europäische Jugendarbeit zu verknüpfen. „Ich engagiere mich nicht bei Generation Europe, um meinen Lebenslauf aufzuhübschen, sondern um von Kolleg*innen aus anderen Ländern zu lernen, wie ich am besten vor Ort unseren Jugendlichen helfen kann“, stellt sie klar.
Generation Europe sei für sie ein Projekt, bei dem sie ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl spüre. „Vor allem aber ist es ein Raum, in dem wir von der Theorie zur Aktion übergehen können.“ Aktuell versucht Lídia, eine Kooperation mit Jugendeinrichtungen im rheinland-pfälzischen Sinzig und im schwedischen Kungsbacka voranzubringen. Aufgrund der Coronapandemie steht bisher aber vor allem noch die lokale Jugendarbeit im Mittelpunkt.
Im Mai 2021 gab es immerhin ein erstes internationales Treffen von Generation Europe – wenn auch nur virtuell. „Allen voran gab mir ein Straßentheaterprojekt aus Italien viele neue Ideen, wie ich mit Kunst- und Kulturprojekten neue Dynamiken in meiner Erziehungsarbeit schaffen kann“, sagt Lídia, die selber Theater spielt, tanzt und Vertikaltuchakrobatin ist.
Kunst als Werkzeug, um Werte und Emotionen zu vermitteln
Kunst steht im Mittelpunkt von Lídias Arbeit. „Kunst ist ein Werkzeug, das dir aus verschiedensten Blickwinkeln und über verschiedenste Kanäle ermöglicht, deine Emotionen auszudrücken“, erklärt Lídia. Gerade deshalb möchte sie als zukünftige Kunstlehrerin ihren Schüler*innen neben Zeichentechniken und Wissen über die einzelnen Epochen Kunst auch als jenes Medium nahebringen, mit dem sie ihre Werte und Emotionen spiegeln und persönlich daran wachsen können.
Ob an einem Gymnasium, in einer Berufshochschule oder im Kulturverein Cálam – für Lídia steht fest: „Mithilfe von Kunst will ich neben Wissen auch meine persönlichen Werte weitergeben.“ Dazu gehören für sie der Zusammenhalt in der Familie, die Bedeutung von Freundschaft, Respekt vor Fremden und die Fähigkeit, Pluralität und Diversität zu verstehen und anzuerkennen. Für Türöffnerin Lídia ist das der Schlüssel für europaweite Jugendarbeit – „gerade in Zeiten von Bullying und oftmals empathieloser TikTok-Generationen.“
Generation Europe – The Academy
Generation Europe – The Academy ist ein internationales Netzwerk von Jugendeinrichtungen zur Förderung einer aktiven europäischen Zivilgesellschaft. Es motiviert die beteiligten Jugendlichen zum gemeinsamen politischen Handeln und schafft durch gezielte Qualifizierung die Voraussetzungen dafür. Es ist ein Förderprogramm des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks e. V. (IBB).
generationeurope.org/