„Wenn sie nichts tut, handelt die EU rechtswidrig“
Hält sich die EU im Bereich Migration und Asyl immer an geltendes Recht? Eine Studie hat jetzt die Schwachstellen ermittelt. Es gibt einige – dennoch ist REMAP-Projektleiter Jürgen Bast zuversichtlich. Warum, erklärt er im Interview.
Herr Bast, worum geht es in Ihrer Studie „Menschenrechtliche Herausforderungen für die Europäische Migrationspolitik“ (REMAP)?
Jürgen Bast: Kurz gesagt wollten wir den menschenrechtlichen Rechtsrahmen in der europäischen Migrationspolitik neu kartografieren. Herausgekommen ist eine breit angelegte Analyse existierender beziehungsweise sich abzeichnender Probleme.
Was meinen Sie damit?
Bast: Menschenrechte sind auf der völkerrechtlichen Ebene und besonders in völkerrechtlichen Verträgen als bindende Rechtsnormen formuliert. Daraus und aus den Grundlagenverträgen der EU ergibt sich, dass die EU die Menschenrechte nicht nur als politische, sondern auch als zwingende rechtliche Verpflichtung sieht.
Das ist doch sicher kein Problem?
Bast: Wir haben – vorsichtig gesagt – eine erstaunlich große Zahl an Punkten gefunden, wo die tatsächliche Migrationspolitik der EU Verstöße gegen das eigene Grundrechtsschutz-System und damit gegen Menschenrechte produziert.
Prof. Dr. Jürgen Bast
Der Rechtswissenschaftler Jürgen Bast leitet das Projekt REMAP. Er ist Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Reden wir von Fahrlässigkeit oder von Vorsatz?
Bast: Lassen Sie es mich so sagen: Wir haben eine ganze Reihe von Trends beobachtet, bei denen die Schwelle zum rechtswidrigen Handeln nah ist, aber vielleicht noch nicht überschritten ist. Da gibt es eine Grauzone, wo die Menschenrechte zwar eine klare Richtungsvorgabe aussprechen, auf der Ebene der Umsetzung aber politische Gestaltungsräume bleiben.
Ist Politik nicht immer die Ausgestaltung gesetzlicher Normen?
Bast: Wir wollten auf der Grundlage der bestehenden Verträge zeigen, wie eine normenkonforme europäische Migrationspolitik der EU aussehen müsste. Unsere Vorschläge sind sicher nur ein Weg zur Erfüllung dieser positiven Handlungsverpflichtungen. Aber wenn sie nichts tut, handelt die EU rechtswidrig.
Sie und Ihre Co-Autor*innen bezeichnen den Ansatz der Studie als „positivistischen Menschenrechts-Maximalismus“. Das sind große Worte …
Bast: …die ich gerne erkläre: Für uns sind die Menschenrechte nicht nur Rechtsnormen, sondern auch politische Orientierungsmarken und moralische Verpflichtung. Aber darum geht es in der Studie nicht. Ein positivistischer Ansatz bedeutet, dass man sich um die getreuliche Auslegung des positiven, also des geltenden Rechts bemüht. Als juristische Expert*innen haben wir auf der Grundlage anerkannter Methoden der Auslegung rechtliche Probleme identifiziert.
Und was ist mit dem „Maximalismus“?
Bast: Für uns haben die Menschenrechte rechtliche Bedeutung auch über ihren harten Kern der gerichtlich durchsetzbaren Normen hinaus. Aber weil sie in diesem „weicheren“ Bereich vor allem Prinzipiencharakter haben, braucht es den Gesetzgeber zur Ausgestaltung. Über den damit verbundenen Ermessensspielraum politisch zu streiten ist völlig legitim.
Die Studie „Human Rights Challenges to European Migration Policy (REMAP)“ können Sie hier downloaden.
Ist das nicht etwas naiv? Wer sollte sich durch Ihre Studie angesprochen fühlen?
Bast: Die haben wir für fiktive politische Entscheidungsträger*innen geschrieben, die sich dafür interessieren, wie eine europäische Migrationspolitik aussehen würde, die die aus den Menschenrechten folgenden Handlungsaufträge und Verbote umsetzt.
Dann müssen Sie ja an den politischen Entscheidungsträger*innen der EU verzweifeln, die seit Jahren über eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik streiten?
Bast: Der Eindruck, dass all diese Regeln und Gesetze gar nicht angewendet werden, dass das Asylrecht gar nicht wirklich stattfindet – dieser Eindruck ist falsch. Im täglichen Betrieb des Asylsystems, unterhalb des Radars politischer Aufmerksamkeit, gewährt die Europäische Union vergleichsweise vielen Menschen Schutz.
Kein Problem also bei den großen Fragen von Migration und Asyl?
Bast: Wir sollten bei aller Kritik nicht vergessen, was wir in Europa so alles schaffen und leisten. Und wie viele moralische Imperative wir auch in unser geltendes Recht eingeschrieben haben. Beispielsweise hat der europäische Gesetzgeber mit politischen Mehrheiten beschlossen, das Recht auf Schutz auch auf die Opfer willkürlicher Gewalt etwa in einem Kriegsgebiet auszuweiten. Allein auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention hätten viele der syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge wohl keinen Anspruch auf Asyl gehabt.
Und worum geht es dann beim Streit der EU-Mitgliedsstaaten über Flucht und Asyl?
Bast: Eines der Kernprobleme des europäischen Asylsystems ist die Regelung der Frage, wie man Zugang zu diesem System bekommt. Das ist ganz unbefriedigend geregelt. Wer an einer Grenze Schutz begehrt, also Asyl beantragt, dem muss Schutz gewährt werden. Und zwar nicht aus humanitärer Generosität, sondern aus einer zwingenden menschenrechtlichen Verpflichtung heraus.
Die EU und ihre Mitglieder haben sich in ihren Gründungsakten auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet.
Das müssen Sie mir erklären!
Bast: Die EU und ihre Mitglieder haben sich in ihren Gründungsakten auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet. Die Aufnahme von Geflüchteten ist damit die Konsequenz aus einer Selbstverpflichtung, die wir umzusetzen haben. So einfach ist das.
Aber?
Bast: Das „Aber“ liegt beim tatsächlichen Zugang zum Asyl. Etwa wenn die Union ihre Mitglieder aktiv bei einer ganzen Reihe von politischen Maßnahmen unterstützt, die letztlich darauf hinauslaufen, über einen Asylantrag nicht entscheiden zu müssen. Etwa indem Menschen daran gehindert werden, überhaupt zu reisen. Oder nehmen Sie den EU-Türkei-Deal, in dem die Versorgung der Geflüchteten einem Drittstaat außerhalb der Union übertragen wird. Und so weiter.
Was halten Sie von der Einrichtung sogenannter Hotspots zur Entscheidung über Asylbegehren?
Bast: Mit der Idee, solche Zentren in Ländern außerhalb der EU einzurichten, haben wir uns fast gar nicht befasst. Solche Pläne halten wir, nicht nur aus rechtlichen Gründen, für völlig unrealistisch.
Was ist mit Hotspots innerhalb der EU? Etwa auf einigen griechischen Inseln?
Bast: Wir haben ein ganzes Kapitel unserer Studie der Frage gewidmet, wie es unter menschenrechtlichen Aspekten mit der Inhaftierung oder sonstigen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden aussieht. Da gibt es eine Reihe von ganz klaren Vorgaben, an die sich die EU nicht immer hält. So verstoßen etwa die Wohnsitzauflagen der EU für die Zeit des Asylverfahrens eindeutig gegen den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, also ein zentrales Menschenrechtsdokument.
Gilt das auch für die von Bundesinnenminister Horst Seehofer favorisierten Anker-Zentren?
Bast: Da handelt es sich wohl nicht um Inhaftierung im engeren Sinn. Aber schon die Bewegungsrestriktion über ein engeres Gebiet hinaus kann problematisch sein. Der zuständige UN-Menschenrechtsausschuss etwa sagt, dass nicht ganze Gruppen pauschal solchen Restriktionen unterworfen werden dürfen. Das muss dann im Einzelfall geprüft und begründet werden.
Aber wird das Asylrecht nicht ständig verletzt und ausgehöhlt? Durch die ständige Zurückweisung Geflüchteter an der ungarischen Grenze? Oder die nächtlichen Pushback-Operationen kroatischer Grenzwächter und der griechischen Kriegsmarine?
Bast: Genau das sagen wir ganz klar in unserer Studie. Hier finden Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen geltendes EU-Recht statt. Das gilt auch für die Europäische Grenzschutzagentur Frontex und ihre mehr als bedenkliche Kooperation mit der libyschen Küstenwache. Niemand kann ernsthaft bezweifeln, dass den nach Libyen zurückgezwungenen Menschen schlimmste Menschenrechtsverbrechen drohen. Allein schon die Beihilfe der EU zu Verstößen gegen das Völkerrecht ist ein Rechtsverstoß.
Wie interpretieren Sie diese Entwicklung?
Bast: Offenbar versuchen einige Mitgliedsstaaten, auch über die Anrufung der Gerichte – und nicht immer erfolglos –, die Grenzen des Erlaubten auszutesten oder sie zu verschieben. Nach dem Eindruck vieler ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den vergangenen Jahren doch ein wenig zurückgerudert und hat in wichtigen Punkten zugunsten der Staaten und gegen menschenrechtlich begründete Ansprüche von Migrant*innen entschieden. Letztlich geht es um die Frage, ob die EU durchsetzen kann und will, dass ihre Gesetze auch von allen Mitgliedern angewandt werden.
Und wie antworten Sie auf diese Frage?
Bast: Unsere Studie spricht Empfehlungen aus, wie es die EU schaffen kann, dass die Menschenrechte eben nicht nur auf dem Papier stehen. Dazu gehört unter anderem eine unabhängige nationale Gerichtsbarkeit, die in den Mitgliedsländern für die Einhaltung und Durchsetzung der europäischen Rechtsnormen sorgt.
Sie reden von prozeduralen Aspekten. Aber es gibt ja noch viel mehr: etwa das Diskriminierungsverbot Einzelner oder ganzer Gruppen. Wie wollen Sie das gegen den Widerstand etwa aus Polen oder Ungarn durchsetzen?
Bast: Menschenrechte sind typischerweise umstritten und umkämpft. Aber Regierungen und Gerichte sind ja nicht die einzigen Akteure. Eine sehr wichtige Rolle spielen auch zivilgesellschaftliche Akteure. Die Menschenrechte funktionieren im Kern eigentlich nur dann, wenn relevante Teile der Gesellschaft sie als ihre eigenen Menschenrechte begreifen und auf dieser Basis tätig werden. Und da kommen wir zu dem Schluss, dass die Union gerade in dem Bereich der „Human Rights Infrastructure“ erheblich mehr tun muss.
Zum Beispiel wie?
Bast: Die EU hat zum Beispiel einen Rechtsakt zu der Frage erlassen, ab wann die Beihilfe zu illegaler Einwanderung strafbar ist. Da gibt es ein UN-Protokoll, also auch einen völkerrechtlichen Vertrag, der entsprechende Vorgaben macht. Und wichtige Teile daraus hat die EU in ihrem Rechtsakt nicht umgesetzt. Denn Beihilfe zur illegalen Migration ist nur dann strafbar, wenn sie gewerblich betrieben wird. Das ist so ein Punkt, wo die EU eindeutig mehr tun könnte.
Stattdessen werden zivilgesellschaftliche Akteure inzwischen vielerorts kriminalisiert. Was halten Sie etwa von denen, die Seenotrettern im Mittelmeer sogar mit langen Haftstrafen drohen?
Bast: Wer das tut, der steht außerhalb des Rechtsrahmens der EU. Der müsste konsequenterweise aus der EU austreten, die Genfer Flüchtlingskonvention aufkündigen und sich auf die wenigen ungeschriebenen Regeln des Völkerrechts beschränken.
Das wäre dann wohl das Ende der Europäischen Union, wie wir sie kennen?
Bast: In diesem Punkt bin ich eigentlich sehr zuversichtlich. Das normative Fundament der Menschenrechte ist tief eingegraben in unsere europäische Gesellschaft und unsere Rechtsordnung. Der allergrößte Teil der europäischen Bevölkerungen hätte für einen solch drastischen Schritt wohl kein Verständnis.
REMAP
Im Projekt „Menschenrechtliche Herausforderungen für die Europäische Migrationspolitik“ (REMAP) untersuchen Wissenschaftler*innen, welche menschenrechtlichen Vorgaben für die Migrationspolitik der EU gelten und an welchen Punkten Konflikte mit diesen Standards aktuell bestehen oder sich abzeichnen.
www.migrationundmenschenrechte.de